Auf Seniorennachmittagen, in Kinomatinees, Fernsehprogrammen und Nostalgiebänden werden die »unschuldigen« deutschen Filme des Nationalsozialismus wieder gezeigt. Verbote können die notwendige Kritik nicht ersetzen
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Eines der großen Probleme für Geschichte und Kritik der populären Kultur in Deutschland ist der Umstand, daß ihre Entwicklung und Blüte in die Zeit des Nationalsozialismus fielen. Das Bild und die Bewegung, der Blick und die Wahrnehmung haben im deutschen Faschismus nicht eine perverse Verirrung erfahren, sind nicht bloß von einem sozusagen unschuldigen Zustand zum Bösen verführt worden, sondern haben vor allem dort ihr Wesen und ihre Form gefunden. Deutsche Filme gab es natürlich vor und nach dem Nationalsozialismus, und es gab auch deutsche Filme gegen den Faschismus. Aber auf die Frage, was das deutsche Kino sei (so wie man, mehr oder weniger in aller Unschuld, die Frage nach dem amerikanischen, nach dem französischen, nach dem usbekischen Kino stellen kann), wann dieses Kino denn überhaupt »funktioniert« habe, ökonomisch, semiologisch, kulturell, kommt immer die »große Zeit« der Ufa ins Bild. Die große Umbauphase der Gesellschaften von der mittleren in die späte Moderne erlebte die deutsche als faschistische; was die populäre Kultur anbelangt, das Kino, das Radio, die Musik, die Ferien, den Alltag, die Küche, die Liebe, die Zeitung – da war der Faschismus jene »gute alte Zeit«, auf die sich hier auch alle Nostalgie richten muß. Was uns die Frage aufgibt: Was ist faschistisch an einem Geschirrtuch (oder einer Art, es zu gebrauchen)? An einem Schlager? Oder an einem Film, zum Beispiel?
Derzeit leben wir in einem Feld der Vermeidungsstrategien, der Fragmentierung, der Bearbeitungsmythen. Um jeden Preis, so scheint es, muß der deutschen Filmgeschichte in weiten Teilen jene Unschuld zurückgegeben werden, die man an anderen Cinematografien so schätzt, und so tauchen wir, auf den Seniorennachmittagen, in den Kinomatinees, in den Fernsehprogrammen, in den Nostalgiebänden, in den Erinnerungsbüchern, regelmäßig in dieselbe Traumwelt, in die man in Deutschland tauchte, während die Konzentrationslager ihr Vernichtungswerk verrichteten und die Militärmaschine arbeitete. Hat vielleicht Theo Lingen Juden getötet, ist Grethe Weiser in Polen eingefallen, hat Heidemarie Hatheyer die Rüstung angekurbelt?
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Gibt es das faschistische Kino, oder gibt es nur das Kino im Faschismus? Es gibt den Film, der für den Nationalsozialismus nützlich war, und den Film, der die Versprengten, die Widerspenstigen, die Eigensinnigen, die Nicht-Ergriffenen sammelte, den Film, der den Faschismus wollte, und den, der ihn nur überleben wollte. Sie mußten nicht dieselbe Sprache sprechen, wohl aber miteinander verbunden sein, einander decken und verdecken. Man könnte, nur zum Beispiel, die nationalsozialistische Filmproduktion modellhaft in einige Sektoren einteilen:
den Anpassungsfilm: den »unpolitischen« Unterhaltungsfilm, der Strategien der Wahrnehmung lenkt. Dazu gehören die »Anschlußfilme«, in denen, wie in den österreichischen Hans Moser-Schmarren, die »Vereinigung« liebenswert rückständiger Kleinunternehmen mit effizienten, modernen Betrieben propagiert wurde; –
die »Verkleinerungsfilme«, die ein von der militärischen und sozialen Bewegung noch nicht oder erst am Rande erfaßtes Kleinbürgertum darauf hinweisen, wie überlebenswichtig die eigene Beschränkung von Wahrnehmung und Lebensradius sei; –
die kleinen und die großen Propagandafilme, die Identifikation, Überzeugung, Angst- und Feindbilder erzeugen und sich dabei der Überredungsstrategien bedienen, die aus anderen ästhetischen und kulturellen Zusammenhängen bekannt sind; –
Kontinuitätsfilme, Filme die an das alte Glück anschließen, die das Gefühl vermitteln, es habe sich mehr oder weniger nichts geändert, die das Völkische als Fortsetzung des Volkstümlichen beschreiben und daraus, vielleicht, wie in der »Geierwally«, die prekären Geschlechterverhältnisse ordnen; –
Entkommensfilme, die die Leistungsfähigkeit der deutschen Filmindustrie demonstrieren und in ein Niemandsland zeitlichen Stillstands tauchen; –
Frohsinnsfilme, Filme die »einfach« Vergnügen bereiten sollen, als »kriegswichtiges Gut« eingestuft von Goebbels, ein anderes Mittel zum Durchhalten; –
Fatalitätsfilme, die davon handeln, daß gegen das Schicksal sowieso nichts zu machen ist und die am Ende umschlagen in die »Tanz auf dem Vulkan«- und Todessehnsuchtsfilme.
Alle diese Filmarten sind für sich genommen im Grunde so unschuldig wie der deutsche Mensch, der nie ein Faschist war, sondern immer nur unter dem Faschismus gelebt hat; sie haben von nichts gewußt. Erst miteinander, mit den Kulturfilmen, den Wochenschauen, den »Tran und Helle«-Propagandasketches und den anderen Kino-Installationen vernetzt ergeben sie das »Weltbild«, die Wahrnehmung, Herrschaftsanspruch, Volksgemeinschaft und Ausgrenzung. Das faschistische Kino hat faschistische Filme nur am Rande nötig.
Was aber ist ein faschistischer Film? Wilhelm Müller-Scheid, Gaupropagandaleiter und Präsident der Deutschen Filmakademie gab 1939 eine aufschlußreiche Antwort. Nationalsozialistisch sei ein Film dann, sagte er bei einer Veranstaltung zu Hitlers Geburtstag, wenn er »geschaut und geordnet wurde von einer nationalsozialistischen Persönlichkeit, der die Gesetze und Ziele der Bewegung bereits zur zweiten Natur geworden sind«. Auffällig ist nicht nur, wie Blick und Bild verschwimmen (und dieser nur in der »Ordnung« erfahren wird), sondern auch die Verlagerung des Schwerpunkts vom Werk auf den Autor. Ist der Film des deutschen Faschismus also das Werk listiger Opportunisten, die sich ein kleines Reich der Freiheit erschufen (sie alle haben Juden versteckt, Denunzianten gehaßt, unter Goebbels gelitten, und immer wieder überaus subtile Botschaften in ihren Unterhaltungsunfug verpackt), oder das Werk von Menschen mit einer zweiten Natur?
Die Authentizitätsreserve kann nur aus einem Film kommen, der Faschismus weder propagiert noch übersieht, weder verklärt noch bürgerlich macht. Der Film, der »wirklich« faschistisch ist, der »genuin« faschistische Film – dessen Autoren und Mitwirkende von ihrem eigenen Faschismus unter Umständen gar nichts wissen müssen und darum in sich vielleicht wirklich vollkommen unschuldig scheinen – mithin fundamentaler Faschismus, der nie wirklich Propaganda werden muß, der auf der vollständigen Synchronität von Empfindung und Wahrnehmung besteht: das ist der Film Leni Riefenstahls und Veit Harlans.
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Mehr als die Hälfte der bundesdeutschen Nachkriegsfilme sind direkte oder indirekte Remakes von Filmen, die die nationalsozialistische Filmmaschine ersann und produzierte. Der Blick hat sich nicht geändert (und die Küchentücher auch kaum).
Aber was ist mit den Fernsehserien und -filmen der jüngsten Art? Richtig: Die meisten von ihnen sind indirekte oder direkte, ins jeweilige Serienformat gedehnte Remakes bundesdeutscher Unterhaltungsfilme, die ihrerseits Remakes nationalsozialistischer Unterhaltungsfilme sind. Wer es ernst meint mit der Ablehnung faschistischer Unterhaltungsfilme, muß die ganze deutsche populäre Kultur angreifen.
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Kann man faschistische Bilder verbieten? In der Nachkriegskultur gibt es zuerst das Dekret der Alliierten, dann so etwas wie einen gesellschaftlichen Konsens darüber, daß die öffentliche Aufführung einer Reihe von propagandistischen, rassistischen und hetzerischen Filmen ganz einfach verboten sein soll. Diese »Verbotsfilme« sind der wissenschaftlichen Arbeit unter gewissen Auflagen und unter Beibehaltung gewisser Rituale zugänglich; sie sind möglich als »kalte« Objekte der Observierung, nicht aber als Teil der eigenen Kultur.
Auf den ersten Blick scheint das ziemlich richtig, sollen wir schließlich die alten und neuen Nazis mit ihrem Kulturstoff versorgen? Allenfalls über die Grenzlinien um die »verbotenen« Filme könnte man streiten. Und seit den sechziger Jahren raunt es immer wieder in den Feuilletons und Seminaren, ob und wie man nun die Giftschränke öffnen sollte.
Das verbotene Bild ist nicht ein nicht-existentes, sondern ein mythisches Bild. Die unsichtbare Leni Riefenstahl hat mehr zum Mythos der »Faszination Faschismus« beigetragen als die sichtbare. Das Verbot definiert nicht nur das Verbotene, sondern auch den Menschen, den es betrifft; es hat seine Theorie nicht nur zum Bild, sondern auch zum Blick. Das verbotene Nazi-Bild sagt, zum Beispiel, daß da draußen in der deutschen Gesellschaft Tausende von hungrigen Blicken warten, die nur das Nazi-Bild brauchen, um sofort von der Faszination ergriffen zu werden und zum neuen oder alten Faschismus zu konvertieren.
Das ist, vermutlich, zugleich richtig und falsch. Richtig ist, daß die »alte« faschistische Propaganda von rechtsextremen Gruppierungen durchaus gezielt eingesetzt wird. In den rechtsextremen »Filmclubs« der siebziger Jahre findet sich dieselbe »bunte Mischung« aus »unpolitischer Unterhaltung« und harter Propaganda wie bei rechten Video-Anbietern zur Zeit. Falsch ist indes jene Vermischung von faschistischer Propaganda und »Schmutz und Schund«, wie sie sich dem bürgerlichen Blick als furchtbares Augengift offenbaren. Zensur entwickelt noch stets jenen bizarren Diskurs zwischen dem erotischen und dem politischen Verbot (das Verbot »erotisiert« die Bilder). So wird Nazi-Filme-Gucken zu einem Camp-Vergnügen.
Der bizarre Widerspruch zwischen Moral und Marktwirtschaft führt etwa dazu, daß Frau Riefenstahl verbieten lassen kann, daß man ihre Filme kommentiert zeigt (sie hat das »Recht« auf ihre für den faschistischen Staat produzierten Bilder), während umgekehrt das Bundesarchiv verlangt, daß man andere Filme (ohne »Rechte-Inhaber«) nicht zeigen darf, ohne sie zu kommentieren. Kommentierungszwang und Kommentierungsverbot sind nur auf den ersten Blick ein Widerspruch und bilden auf den zweiten schon wieder ein neues dynamisches System der Inkulturation. Das faschistische Bild ist nicht eigentlich in den gesellschaftlichen Besitz übergegangen; so nomadisiert es in den Zwischenzonen.
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Die Unübersichtlichkeit beginnt erst richtig. Die Rehabilitierung von Leni Riefenstahl und Veit Harlan fand ja nicht in einem nationalen Projekt, sondern in internationalem Rahmen statt. Der junge Michelangelo Antonioni schrieb hymnische Kritiken nicht nur über die erdschweren Melodramen von Veit Harlan, sondern auch über „Jud Süß“ (den man ja auch als eine Form des Melodramatischen sehen kann). Soviel ich weiß, hat Antonioni sich nie ernsthaft Gedanken darüber gemacht, wen oder was er da bewundert hat. Ist er zu denken ohne diesen Einfluß?
Leni Riefenstahl hat ihre Wiederentdeckung zuerst französischen Kritikern (allen voran Charles Ford, der nicht nur das Werk, sondern gleich die ganze Person heilig zu sprechen versuchte), dann der anglo-amerikanischen Pop-Kultur zu verdanken. Mick Jagger und Rainer Werner Fassbinder, nur zum Beispiel, hofierten die schon damals alte Dame, um sie als Fotografin zu gewinnen. Dann wurde sie gar von der feministischen Filmgeschichte entdeckt und eingemeindet. Ist ohne Frau Riefenstahl der weibliche Blick des Kinos nicht zu beschreiben? Und was bedeutet, in diesem Zusammenhang, »Leni verstehen«, wie es programmatisch intim als Überschrift eines Artikels heißt?
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Soll man gegen die offene und schleichende Freigabe und Rehabilitierung der faschistischen Filme Stellung beziehen, Verbote fordern, fahrlässigen Umgang anprangern? Beziehungen herstellen zwischen den »Historikerstreits« und den, je nun, »Debatten« um die Filme »totalitärer Systeme« (Riefenstahl & Eisenstein verhalten sich wie Hitler & Stalin, und derlei Unfug). Wenigstens essayistisch erschauern ob der Kompatibilität von faschistischer und »postmoderner« Ästhetik, des elektronischen Biedermeiers, dem ein paar Millionen Tote nichts machen?
Die Aufgabe der Kritik des faschistischen Filmes (von der es gerade einmal ein paar Ansätze gibt) kann nicht in dem kulturgeschichtlichen Appeasement liegen; einer Mainstream-Kultur, die sich mit ihren eigenen faschistischen Wurzeln nicht befassen mag, ist mit ein paar Verboten oder Warnungen nicht beizukommen. Für die Kritik geht es statt dessen wohl darum: –
faschistische Bilderproduktion und Wahrnehmungsorganisation als Prozeß zu verstehen, –
die Schnittstellen zwischen populärer Kultur und Propaganda zu untersuchen, –
statt an Mythen wie »Riefenstahl« zu basteln, das Fortwirken riefenstahlscher Mythenproduktion zu klären, –
die Filmgeschichte nicht um den Faschismus herum, sondern durch ihn hindurch zu schreiben.
Auf die Frage: »Was ist ein faschistisches Bild?« gibt es keine wirkliche Antwort. Der Faschismus geschieht in den Bildern, und wie er das tut, das zu untersuchen haben wir noch nicht einmal richtig begonnen.
Autor: Georg Seeßlen
Text erschienen in: Konkret 01/1996
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