Wir leben nicht nur mit der Krankheit, auch in der Angst vor ihr: Covid-19 passt als Erzählung perfekt in die Geschichte von unserer überforderten Gesellschaft. |

Was ist eine Krankheit? Die erste, scheinbar einfache und extrem skandalöse Erklärung: Die Krankheit ist eine Tatsache. Sie ist das Wirklichste, was einem Menschen widerfahren kann. Die Krankheit, wie man so sagt, bringt ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. Aus allen Bereichen der Politik, Ökonomie und Kultur auf den Körper. Zu seinem ohnmächtigen Zorn gegen die Natur oder gegen die Götter und vielleicht zu einer neuen Form der Demut. Die subjektive Antwort auf die unmoralische, unvernünftige und unästhetische Tatsache der Krankheit ist eine biografische und soziale Wahrheit. Die Wirklichkeit der Krankheit führt zu einer Wahrheit ihrer Subjekte. Es kommt, bei einer Person wie bei einer Gesellschaft, nicht allein auf die Krankheit an, sondern auch darauf, wie man mit ihr umgeht, wie man sie erträgt, wie man ihr begegnet, was sich durch sie verändert und was nicht.

So ist die Krankheit ein Zweites: Ein Spiegel, ein Bild, ein Kommentar. Sie zwingt eine Wahrheit hervor, aus einer Person oder aus einer Gesellschaft. Dabei kommt es natürlich auch darauf an, um welche Art es sich handelt. Die drei Hauptformen der Krankheit sind die Erbkrankheit, die von Schicksal und Familienroman schon vorbestimmt ist, die willkürliche Krankheit, wie Krebs oder Demenz („jeden Menschen kann es erwischen“), und schließlich die ansteckende Krankheit, die verbreitet wird und die man „sich holt“, beim Kontakt mit anderen Menschen und mit den Spuren ihres Lebens.

Damit ist’s noch lange nicht getan. Da kommen die Zivilisationskrankheiten, die man sich zuzieht, weil man sich so falsch verhält, wie es viele in der eigenen Gesellschaft ebenso tun, falsche Ernährung, falsche Bewegung, falsche Emotionen – Stress oder Langeweile. Und umgekehrt die Mangelkrankheiten, hervorgerufen und begünstigt aufgrund einer allgemeinen Schwächung wegen Nahrungsproblemen, Erschöpfung, hygienischer Umstände, und die Vergiftungskrankheiten, gewöhnliche oder ungewöhnliche Drogen. Fleiß und Industrie bringen zugleich Fortschritt und Giftmüll und die psychosozialen Krankheiten („Was kränkt, macht krank“). Unnütz zu sagen: Die Ränder dieser Krankheiten sind unscharf, viele Formen sind indirekt miteinander verbunden und oft genug maskiert sich die eine Form als die andere. Irgendwie krank machen sie alle. 

 

Der „Corona“-Schrei im Supermarkt

Und doch: Wir leben in einer Struktur der Krankheiten, jeder Raum, jede Zeit, jedes Subjekt wird bestimmt auch in Beziehung zur Krankheit. Ein Leben ohne Krankheiten ist nicht vorstellbar, und wer die eine Art von Krankheit um jeden Preis verhindern will, macht sich nur für die andere empfänglich.

Die Krankheit ist anthropologische Konstante und historische Variable. Natürlich ist es ein bedeutender Teil der Zivilisationsgeschichte: Krankheiten zu bekämpfen. Oder sogar: Krankheiten „auszurotten“. Unglücklicherweise verschwinden aber nicht nur Krankheiten, es kommen auch neue hinzu. Die gleiche Zivilisation, die Krankheiten, immerhin, zu „kontrollieren“ imstande ist, bringt auch Krankheiten hervor.

Eine Krankheit ist umso zivilisierter, je mehr sie sich erzählen lässt. Eine normale soziale Kommunikation besteht in nicht geringem Maße darin, sich gegenseitig von Krankheiten zu erzählen, was zumindest eine Rhetorik des Mitleidens (komplett mit einer Wahrheit von Gleichgültigkeit und Heuchelei) erzeugt. Zweifellos wird schon da der Umgang mit der Krankheit ein Reflex politisch-ökonomischer Grundeinstellungen. Zwischen „selbst schuld“ und tätiger Hilfe ist da einiges möglich. Wenn wir nicht von Krieg und Liebe erzählen, dann erzählen wir von Krankheit. Es ist das Dreieck dessen, was den Menschen immer noch unabdingbar an „Natur“ bindet: die Sexualität, die Aggressivität und die Krankheit.

Krankheit als Krise des Lebens führt in jedem Fall zu einer Krise der sozialen Wirklichkeit. Auch sie ist zugleich Tatsache und Wahrheit. So erschrecken wir derzeit nicht bloß vor der Krankheit und nicht bloß vor ihrer Verbreitung, sondern auch von einem Öffentlichwerden der Bösartigkeit in der Gesellschaft, Steinigungsversuche dort, Hassmails gegen die Angehörigen von Betroffenen hier, rassistische Ausfälle hier, völkische Stimmungsmache gegen offene Grenzen da. Und unangenehme Verschiebungen im Alltag, das Wegrücken von jedem, der hustet, der „Hamsterkauf“ im Supermarkt, die Hysterisierung der Nachrichten und der Diskussionen darüber, der „Corona“-Schrei der Frau im Supermarkt, angesichts einer asiatisch anmutenden Frau.

 

Die Erzählung der Krankheit

Ansteckende Krankheiten, beginnen wir mit der mehr oder weniger harmlosen „Erkältung“, kollektivieren naturgemäß die Erzählung, während sie gleichzeitig den direkten sozialen Kontakt einschränken. Erwartet wird vom Kranken eine Rücksichtnahme auf die Gesunden. Erwartet werden Schutzmaßnahmen der Gesunden, erwartet werden Maßnahmen von Autoritäten und Behörden, von gesellschaftlichen Subsystemen. Die Gesellschaft muss vor der Krankheit geschützt werden, und das heißt in diesem Fall auch: vor den Kranken. Zugleich darf der Kontakt nicht wirklich abbrechen. Mögen wirkliche Menschen in Quarantäne und Isolation festgehalten werden, es gilt doch zugleich, ein Mindestmaß an gesellschaftlichem Leben, an Kommunikation und Vertrauen, aufrechtzuerhalten.

Nun wird es kompliziert. Der ansteckend kranke Mensch verdient zwar das gewohnte Maß an Mitleid, ist aber auch eine Gefahr. Deshalb wird die Reaktion auf die unmoralische, unvernünftige und tatsächliche Krankheit eine direkte Frage von Moral und Vernunft. Ein Mensch mit einer ansteckenden Krankheit kann sich unmoralisch und unvernünftig verhalten. Aber es kann ihm zur gleichen Zeit unterstellt werden, dass er sich unmoralisch und unvernünftig verhält. Und in der in die Zivilisationsgeschichte eingeschmolzenen Barbarei wird der kranke Mensch selbst unmoralisch und unvernünftig genug, um ihn verbannen, verdammen und schließlich gar vernichten zu wollen. Eine Gesellschaft definiert sich nicht zuletzt durch ihren Umgang mit Krankheit und mit Kranken.

In der Erzählung der Krankheit werden das Tatsächliche wie das Spiegelbildliche nicht nur aufgehoben, sondern auch verdrängt. Direkt oder indirekt sind alle ansteckenden Krankheiten mit der lebenden Natur verbunden, mit, biblisch gesprochen, „Mitgeschöpfen“, die die Krankheit verursachen, sie übertragen oder hervorbringen. Die Erzählung der ansteckenden Krankheiten hat im Kern eine Vermischung von Tierischem und Menschlichem, einen sexuellen oder kulinarischen Tabuverstoß zum Inhalt. Patient X, der Erste, in dem die Krankheit ausbrach, wird tatsächlich zwar nie gefunden, aber medizinisch und mythisch rekonstruiert. Er ist Protagonist eines Sündenfalls, eines Verstoßes gegen göttliche, natürliche und kulturelle Ordnungen. Er hat etwas berührt oder ist von etwas berührt worden, was die Pforte des allgegenwärtigen Schreckens der Natur zum Bereich der menschlichen Tatsachen öffnete.

 

Ein apokalyptisches Bild

Jede Krankheit hat eine mythische und vielleicht religiöse Transzendenz. Nicht nur, weil die Krankheit die Gegenwart des Todes im Leben ist, sondern auch, weil sie nach der Erklärung im Jenseitigen verlangt, die in der Welt der Tatsachen nicht zu haben ist. Krankheit muss Prüfung und Strafe sein, sonst ergibt sie keinen Sinn. Es wäre immer noch besser, die Götter hätten die Krankheit geschickt, als dass sie ihr gegenüber gleichgültig oder gar hilflos wären.

Am Ende erzählt die Geschichte – nach der Überwindung/Erneuerung/Gewöhnung der Krankheit – von einer allgemeinen Schuld. Schuld an der Pest waren mangelnde Hygiene, schuld an Aids Hedonismus und sexuelle Libertinage. Was wird amCoronavirus schuld sein, wenn es „besiegt“ oder auch zum zyklisch auftretenden Normalfall geworden ist? Eine Krankheit ist „besiegt“, wenn sie entweder ausgerottet wurde (damit ein neues Kapitel der Zivilisationsgeschichte begonnen werden kann) oder wenn sie zugleich Teil der Lebensgeschichten wie der Weltgeschichte geworden ist.

Was ist ein Virus? Vielleicht zugleich eine Vor- und eine Antiform des Lebens. Es ermangelt der beiden Wesenszüge des Lebens, des Stoffwechsels und der subjektiven Replikation, also der eigenständigen Vervielfältigung einer DNA. Man kann einen Virus deshalb weder als ein „Lebewesen“ noch als ein totes Ding ansehen. Es ist etwas zwischen Existenz und Information, das in keiner Schöpfungsgeschichte vorkommt und, bei aller wissenschaftlichen Forschung und einer großen Anzahl von Erkenntnissen, letztlich ein Rätsel bleibt.

Die Entwicklung der Lebewesen scheint mit der Erzeugung von spezifischen Viren verbunden gewesen. Nachgewiesen wurden Viren auch in den Überresten von Dinosauriern. Welche Rolle spielten Viren beim Aussterben dieser Tiere, die womöglich in der Hauptsache Opfer einer Klimakatastrophe wurden? Die Verbindung der beiden Metaphern mag ein apokalyptisches Bild der Naturgeschichte ergeben: Die Schöpfung hat offenbar schon einmal einen radikalen Bruch und einen Neuanfang erlebt. Warum sollte so etwas nicht noch einmal geschehen? Nicht nur der einzelne Mensch, nicht nur ein „Reich“ oder eine „Kultur“, auch die Menschheit an sich ist nicht unsterblich. Oder?

 

Sind Viren das Böse?

Von vielen Lebewesen ist bekannt, dass sie speziellen Viren als Wirte dienen; wenn sich hier früher oder später ein Gleichgewicht einstellen sollte, so besteht die größte Gefahr offenbar in der mehr oder weniger sprunghaften Veränderung der Viren und im Übersprung von einer Spezies zur anderen. Was die Gefährdung des Menschen anbelangt, spricht man von „zoonotisch“, ein Virus – wie vermutlich auch das aktuelle Coronavirus – zirkuliert in Tieren und springt dann, mutierend oder mutiert, auf den Menschen über. Eine Fledermaus steht in Verdacht, am Beginn der Infektionskette von Covid-19 zu stehen (über wer weiß wie viele Zwischenwirte zum Menschen), und nun dies: der erste Hund, bei dem das Virus nachgewiesen wurde.

Die Geschichte der Viren ist indes nicht synchron zur Evolutionsgeschichte der Lebewesen; das Sprunghafte ist ihnen offenbar ebenso eigen wie die Ewigkeit. Daher begleiten sie diese Geschichte apokalyptisch: Seit die Menschen ein wenig davon wissen, was Viren sind und wie sie wirken (beginnend am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Nachweis, dass es etwas Krankmachendes gibt, das deutlich kleiner als ein Bakterium ist), bauen sie die virale Ermordung einzelner Spezies, die unheilvolle Verwandlung (der Zombievirus) oder eine drohende Vernichtung der Lebewesen an sich (Viren aus dem All wie die eingeschleppten Krankheiten des finsteren Kolonialismus) in ihre populären Mythologien ein. Viren existieren jenseits der Dimensionalität des Lebens in Zeit, Raum und Subjekthaftigkeit. So tragen sie negative Transzendenz ins Reich der Tatsachen. 

 

Überleben in einer viralen Welt

Da Viren nicht selbstständig leben können, können sie sozusagen auch erst nach dem Leben entstanden sein, gleichsam als ein Massendefekt des Lebens selbst: Gene, die sich aus ihrer ursprünglichen Funktion lösten, einsame Partikel auf der Suche nach ihrem ursprünglichen Zusammenhalt, dessen Verlust sie in tückische und destruktive Signale verwandelte. Welch eine grandiose Antischöpfungsgeschichte: Aus den evolutionären Ordnungen gefallene Informationspartikel der Lebewesen führen einen immerwährenden Krieg gegen ihre Ursprungsorte. Was also ist ein Virus? Der Teufel möglicherweise.

Grippe, Tollwut, Herpes, Pocken, Hepatitis, Dengue-Fieber, Ebola, Aids, Masern – es sind immer wieder neue Ansätze dazu, wie Viren ihre Wirte leiden lassen, verunstalten, töten. Sind Viren also (in reiner Unschuld) das absolut Böse? Da es sowohl „Verbündete“ als auch „Feinde“ unter den Viren gibt, werden Viren indes auch zur Krankheitsbekämpfung eingesetzt, etwa in der Form von „onkolytischen Viren“ in der Tumorbekämpfung und natürlich bei der Immunisierung („Impfung“).

Man kann also behaupten: Solange es Viren gibt, ist der Mensch nicht sicher und nichts von dem, was er erreichen kann – nicht wahr, Herr Jedermann? Aber es ist auch seine Geschichte, in einer viralen Welt zu überleben. Schließlich hat er sich ein eigenes virales Kommunikationssystem erschaffen, in dem allerlei „Computerviren“ etwa unterwegs sind. Auch hier geht es um abgespaltene Informationspartikel, die sich Wirtseinheiten suchen und sich mit deren Hilfe verbreiten. Auch hier gibt es „tödliche“ Mutationen, Abwehrmechanismen, Übersprungsereignisse.

Offenbar geht die Geschichte der Viren auch in der zweiten Schöpfung weiter, in den Maschinen, in den Simulationen, im künstlichen Leben, in der posthumanen Aufhebung. Gäbe es eines Tages jene „Welt am Draht“, die wir uns in Romanen und Filmen vorstellen, dann wäre wohl auch in ihr das Simulacron des Menschen von künstlichen Viren bedroht. Man könnte in einem Anfall der Erkenntnistollwut argwöhnen: Das menschliche Denken hat bereits etwas Virenförmiges an sich. Oder anders gesagt: Das Virus hat längst den Sprung von der Natur in die Kultur vollzogen.

Solch eine Abschweifung mag wenig hilfreich sein angesichts der drastischen viralen Tatsächlichkeit, wo gründliches Händewaschen und richtiges Armbeuge-Niesen erheblich nützlicher scheint als klugscheißerisches Gedankenspiel. Aber ganz so einfach ist es nicht: Es gilt, das virale Prinzip als Schatten von Leben und Geschichte zu verstehen. Unter anderem, um etwas zu bekämpfen, was manchen schlimmer erscheint als die Infektionsgefahr selbst. Nämlich die Angst vor ihr.

 

Die Seuche als Strafe Gottes

Man mag uns viel erzählen über die Relativität der Gefahren durch das Coronavirus, über die „Normalität“ von Grippeopfern und Verkehrstoten, über geeignete Gegenmaßnahmen und Heilungsaussichten. Aber diese Krankheit ist neu. Es ist ungewiss, wie sie sich entwickeln wird, und ungewiss ist auch, wie sich das Leben ändern muss, damit man mit dieser Krankheit leben lernt und ihre Opfer als „normal“ akzeptiert. Eine heimtückische Selektion zeichnet sich immerhin ab; die alten und schwachen, die „vorerkrankten“ Menschen sind die hauptsächlichen Todeskandidaten, womöglich auch Menschen, die sich mehrfach infizieren, wie etwa Mediziner und Pflegepersonal, „Dienstleister“ und Ordnungskräfte. Nicht minder heimtückisch die größten Gefahren: die Reise, die öffentliche Versammlung, das kulturelle Leben. Und nicht zuletzt (es scheint, als würde in gewissen Kreisen gerade dies der Hauptgrund für Panik) sind Wirtschaftswachstum und Börsenkurse in Gefahr. In China, heißt es, ist dem Coronavirus wegen des wirtschaftlichen Rückgangs eine deutliche Verbesserung der Luftqualität zu verdanken; der Reichtum „flüchtet ins Gold“, die archaische und unproduktive Form von Kapital.

Kurzum: Das Coronavirus als metaphorische Strafe für Globalisierung des Kapitalismus führt tatsächlich zu einer Regression (womöglich hier und dort auch zu einer Rezession); auf die biografische Selektion folgt eine politisch-ökonomische.

Seuchen können Metaphern, Symptome, Beschleuniger von fundamentalen Verschiebungen von Macht und Ordnungen sein; Seuchen spielten, gewiss, ebenso beim Fall von Weltreichen eine wichtige Rolle wie umgekehrt bei der Kolonisation und Ausbeutung; in den großen Kriegen waren Krankheiten oft so ausschlaggebend wie Heeresstärken, Wetter, Strategien und Bewaffnung, im schlimmsten Fall werden Krankheiten bewusst als Waffen eingesetzt – und umgekehrt unterstellt Propaganda rasch der Krankheit, vom Feind heimtückisch eingeschleust zu sein. Im Augenblick wird bereits geforscht, wie etwa an der Johns Hopkins University in Baltimore, welche Länder, Gesellschaften, Regionen, Regierungsformen, Religionen und Regimes mit dem Coronavirus am besten umgehen und welche die größeren Schwierigkeiten haben werden.  

 

Die Angst, die Angst, die Angst

Unnütz zu sagen: Nach diesen Untersuchungen werden die sogenannten Schurkenstaaten am meisten leiden und die sogenannten westlichen Demokratien am besten wegkommen. Fast meint man die klammheimliche Freude herauszuspüren, dass der Aufstieg von Ländern wie China oder Iran durch die Seuche gestoppt werde, während … Decken wir den Mantel der humanistischen Vernunft über ein sich nach und nach herausbildendes Narrativ, in dem das alles zusammenkommt: die Seuche als Strafe Gottes (an den Regimes der „Ungläubigen“ und Unbotmäßigen und an den kosmopolitischen Wandernden und den „Unordentlichen“), die Seuche als Strafe für die Offenheit der Grenzen (und den Verrat an der Konstruktion völkischer und nationaler Identitäten als Abbild eines „gesunden“ und „wehrhaften“ Körpers) und die Seuche als Wettbewerbsvorteil im Wirtschaftskrieg, als Bestrafung und Belohnung für zivilisatorische Effizienz. Dieses Narrativ der dreifachen Boshaftigkeit kommt kaum in einer reinen und kompakten Form vor. Es bilden sich eher suggestive Bilder. Die Studie der besagten Universität in Baltimore verteilt übrigens auch für Europa ein Seuchenpräventionsrating, deren Ergebnis seltsamerweise mit gewissen politischen Präferenzen synchron liegt: USA und Großbritannien super, Deutschland eher schlecht als recht.

Wir leben nicht nur mit der Krankheit oder gegen sie, sondern auch in der Angst vor ihr. Die Angst vor der Krankheit wird wiederum selbst zur Krankheit. Aber selbst der berühmte „eingebildete Kranke“ ist ein durchaus ambivalenter Charakter. Einerseits drückt er seine Angst vor der Krankheit aus (und damit natürlich auch die Wichtigkeit seiner bedrohten Person), andererseits aber formuliert er auch ein Bittgesuch um Zuwendung, Nachsicht und Trost.

Was die Biografien anbelangt, ist uns vollkommen klar, dass es auch eine „Flucht in die Krankheit“ gibt, die Krankheit als Metapher einer allgemeinen Überforderung und ungelöster Widersprüche. Lieber krank sein als schuldig, lieber dem eigenen Körper als dem peinigenden Mitmenschen nachgeben. Kann es auch eine Gesellschaft geben, die sich in die Krankheit flüchtet? In kleiner Münze erleben wir das im täglichen Medienkonsum als eine unendliche Schraube von Krankheitsfurcht und Vorsorgeversprechen; Gesundheit mag am Ende ein Fetisch sein, der sich aus der beständig geschürten Angst bildet, nicht fit genug für den Wettkampf und für den anschließenden Fun zu sein. Gesundheit ist eine Ware und höchstes Gut der Selbstvermarktung. Kein Wunder also, dass eines der Symptome der Viruskrise das Zunehmen der Geschäfte mit der Angst, der Wucherpreise und der Wunderheiler ist.

 

Die skandalöse Wiederkehr der Natur

Auch die Angst vor der Krankheit ist zugleich eine körperliche und eine soziale. Wie wird man mich behandeln, wenn ich krank bin? Werde ich mehr Hilfe überhaupt leisten können, werde ich anderen „zur Last fallen“, wird man mir, dem Kranken, das Selbstbestimmungsrecht entziehen, verwandelt sich die Angst vor der Krankheit in die Angst vor mir, dem Kranken? Und umgekehrt fragen sich die gesellschaftlichen Systeme: Wie umgehen mit den Kranken, wie aber auch mit den Ängsten? Was muss verboten werden, welche Rechte dürfen nicht oder erst im größten Notfall angetastet werden? Wie viel Wahrheit, wie viel Lüge muss im Interesse des öffentlichen Friedens und der Ordnung verbreitet werden? Wie die Versorgung, die Unterbringung, die Behandlung sicherstellen, ohne an anderer Stelle Krisen zu erzeugen? Tatsächlich ist jede Seuche auch eine Probe auf das Verhältnis zwischen den Regierungen und den Regierten. In finsteren Zeiten sind Seuchen und Bürgerkriege ineinander verwoben.

Eine Krankheit, haben wir zu Beginn behauptet, ist eine unmoralische, unvernünftige und unästhetische Tatsache. Sie ist die skandalöse Wiederkehr der Natur. Um mit ihr als Gesellschaft und Kultur zu leben, muss die Krankheit moralisiert, rationalisiert und ästhetisiert werden. Aber gerade weil dies nie vollständig gelingt, gibt es auch die Ausweichnarrative, die Mythen, die Verschwörungsfantasien, die Ideologien. Schließlich ist Krankheit als Metapher immer auch in beiden Richtungen verwendet worden: Die Krankheit drückt einen Konflikt aus, der Konflikt lässt sich als Krankheit beschreiben. Sind wir derzeit nicht, unter anderem, von der Krankheit der rechtspopulistischen Hasserzeugung befallen?

 

Und dann auch noch die AfD

Dass die AfD oder die „Identitären“ blitzrasch wieder an ihre nationalistischen und rassistischen Grundlagen andocken und „Einreisestopps“ und „Grenzschließungen“ fordern, ist mehr als erwartbar: „Offene Grenzen bedeuten auch offene Grenzen für Viren“ heißt es da, und Alice Weidel mahnt: „Es wäre mehr als fahrlässig, wenn wegen einseitiger Fixierung auf das Dogma der offenen Grenzen notwendige Maßnahmen zur Eindämmung des Virus nicht oder zu spät getroffen werden.“ Das klingt harmloser, als es ist. Zum einen wird die Gefahr aufgebauscht (alles, was Angst machen kann, wird von der extremen Rechten in die eigene Welterzählung eingebaut), um nun eben das Vertrauen zwischen Regierenden und Regierten zu erschüttern (die Viruserzählung als Fortsetzung der „Migranten“-Erzählung). Zum anderen aber wird indirekt wieder auf die Gleichung von fremd und gefährlich aufgebaut. Für die AfD ist das Coronavirus natürlich das „Wuhan-Virus“; in der Folge müssen sich Menschen mit „asiatischen Zügen“ schon eines generellen Argwohns erwehren.

Und dann geht es weiter: „Wenn das Coronavirus so harmlos ist – Warum riegeln die Russen dann ihre Grenzen ab?“ Und: „Spielt die deutsche Regierung mit unserem Leben?“ Dr. Malte Kaufmann von der AfD fügt seinen tollen Ratschlägen („Abstand halten“, „Vorräte anlegen“) den eigentümlichen Spruch an: „Wir stehen das zusammen durch.“ Und weiter plakatiert die AfD: „CORONA KOMMT: Deutschland handelt nicht!“ Der durchschaubaren Paniktaktik der Rechtsextremen stehen andernorts, wie wohl in den USA von Donald Trump, fahrlässige Beschwichtigungen und Leugnungen gegenüber. Die iranische Regierung schließlich greift zum ältesten Trick und unterstellt „Verschwörungen aus dem Ausland“, schuld an der Panik, wenn nicht gar am Virus selbst zu sein. Aber so recht will eine solche Assoziation nicht mehr wirken. Es ist schließlich die Tatsächlichkeit der Krankheit, die sie bis zu einem gewissen Grad der Ideologisierung entzieht.

Den drei gesellschaftlichen Folgen der Viruskrankheit, der tückischen Selektion (und dem Versuch, an ihr zu nutznießen), der kulturellen, sozialen und ökonomischen Lähmung sowie der Mythisierung, Propagandaisierung und Ideologisierung, werden durchaus Impulse entgegengesetzt („Kultur statt Angst“ heißt etwa eine tapfere Trotzparole in Italien). Und es gibt gegen die Lähmung auch ein gesteigertes Empfinden für das, was laut Friedrich Hölderlin stets noch wächst, wo die Gefahr am größten ist: das Rettende. Das Rettende, das nicht allein in einer Fähigkeit liegt, die Krankheit zu „kontrollieren“, sondern auch in einer Besinnung auf die Tugenden der Mitmenschlichkeit.

Es sind zweifellos „finstere Zeiten“, in denen eine Krankheit gar nicht anders kann, denn als Metapher zu dienen. Vor uns die umfassende ökologische Katastrophe, in unseren Organisationen der Zerfall von Ordnungen und der Aufstieg despotischer und terroristischer Gruppierungen, die Hinwendung zu Heilslehren, Kulten und Scharlatanen sowie mittendrin ein besinnungsloses Weiterfeiern und Weiterkonsumieren – als hätte man sich dazu verschworen, Edgar Allan Poes DIE MASKE DES ROTEN TODES als Massenspektakel aufzuführen. Der Mythos der „finsteren Zeit“ bedarf der großen Krankheit ebenso wie jener klimatischen und politischen Katastrophen, die zu Ernteausfällen, Teuerungen, Hungersnöten und Migrationsdruck führen.

Aber, wie es mit Krisen so geht, wenn das Coronavirus daran gehindert werden kann, zur großen Krankheit zu werden (oder wenn es vielleicht auch von vornherein gar nicht das Zeug dazu hatte), dann können möglicherweise auch die anderen Symptome einer finsteren Zeit behandelt, die finstere Zeit selbst vielleicht abgewandt werden. Dem Virus ist das vermutlich vollkommen egal. Für sich genommen ist es nichts als eine Tatsache.

 

Georg Seeßlen

erschienen 03. März 2020 | zeit.de

Bild ganz oben: Die Piazza Mercatello in Neapel während der Pest von 1656 | Gemälde von Domenico Gargiula (auch Micco Spadaro genannt) | 1656 | Museo Nazionale di San Martino, Neapel

Dies ist eine originalgetreue fotografische Reproduktion eines zweidimensionalen, gemeinfreien Kunstwerks.