Ein Kapitel der italienischen Katastrophenerzählung geht zu Ende: Was ein halb nackter Innenminister am Strand mit dem Scheitern der rechtslinken Querfront zu tun hat.
Natürlich kann man in Italien eine politische Farce am Werk sehen. Politische Clowns, Mafiosi, Faschisten und Populisten in einem nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell niedergehenden Land. Hier war ja schon immer alles um eine Spur lauter, greller und schamloser als anderswo. In Deutschland beobachtet man die Vorgänge gern aus überheblicher Perspektive – aus einem Land, das wirtschaftlich derzeit noch gesünder, politisch noch ein wenig stabiler und im kulturellen Niedergang wenigstens noch an der Außenwirkung interessiert zu sein scheint. Aus einem Land, das einerseits am italienischen Desaster nicht unschuldig ist und dessen Bewohner andererseits gern im Urlaub nicht nur Sonne und Meer tanken, sondern sich auch in einer unbestimmten Sehnsucht schmachtend nach den Klischees der Italianità gefallen, nachgelati und amore, Michelangelo und Celentano.
Die deutsche Italiensehnsucht war schon immer aus nostalgischer Bewunderung und Überheblichkeit zusammengesetzt: Staunen vor den Kulturleistungen von einst, Vergnügen an gegenwärtiger kulinarischer, ästhetischer und erotischer Lebenslust im Hier und Jetzt, und Überlegenheitsgefühl gegenüber einer Ökonomie, die allenfalls durch ästhetische Extravaganz und kultischen Gebrauch von Vespas, Sonnenbrillen und Kaffeemaschinen punkten konnte. Nichts von der Solidität des made in Germany. Auch in Bezug auf die Politik gehörte und gehört das Chaotische, diese Stabilität der Instabilität, zum folkloristisch-touristischen Italienbild.
Seit dem Aufstieg von Silvio Berlusconi und der Verbreitung des Berlusconismus freilich gibt es auch ein anderes Italienbild, nämlich das von einem politischen Experimentierfeld, von einem Land, in dem sich die Prozesse des Demokratiezerfalls, der „postdemokratischen“ Regime und des Rechtspopulismus rascher vollziehen als in anderen europäischen Ländern und in dem sich, als politisches Lehrstück gewissermaßen, abzeichnet, was auch dem Rest Europas, dem Rest des einst goldenen Westens, bevorsteht. So mag nun Berlusconi als Vorläufer von Donald Trump erscheinen, der einstige Separatismus der Lega Nord als Vorläufer des Brexits, die Mailänder Ultras als Vorläufer der Naziskins und CasaPoundals Vorläufer der neurechten Thinktanks. Die perfide Polizeigewalt während der Proteste gegen das G8-Treffen in Genua 2001 wäre dann ebenso ein Blick in die postdemokratische Zukunft wie das Bild vom Strand, wo sich zur selben Zeit Touristen und Einheimische um Gewalt und Aufruhr nicht scherten. Berlusconi hatte übrigens dem italienischen Volk angeordnet, sich nicht um Politik und Wirtschaftskrisen zu kümmern, sondern an den Strand zu gehen. Und Matteo Salvini, sein vulgärer Schatten, ist eh schon da. Anders gesagt: In ihm haben die rechte Gewalt und die populistische Unverschämtheit den Strand erreicht. Mit Salvini hat auch der italienische Strand seine ignorante Unschuld verloren. Oder die letzte Illusion davon.
Während Matteo Salvini seinen burlesken Staatsstreich durchsetzt, besetzt er mit seinen Bildern vom schlampig putinisierten Männerkörper zur Sommerzeit den bislang unpolitischen italienischen Glücks- und Rückzugsort Strand: zu verschwitzt, zu außer Form, um eine italienischeBaywatch-Fantasie zu befriedigen, aber gerade deshalb „einer von uns“, einer, der sich seinen Selfietraum inmitten von Bikinimädchen erfüllt, ein Wiedergänger der erzitalienischen Kinofigur Fantozzi mit seinen verklemmten Spießerträumen. All das macht diese Inszenierung zu einer besonders vulgären und direkten Form des Berlusconi/Trump/Johnson-Effekts: Die halbe Nation versinkt in Scham, die andere Hälfte aber ist deshalb nur umso verzückter. Gegen solche Körperpolitik kann Angela Merkel, die sich als erste Frau ohne Sauerstoffmaske in den Umkleideraum der Nationalmannschaft im Herrenfußball wagt, nicht viel ausrichten. Salvinis Strandfotos sind in ihrer obszönen Trivialität – vielleicht mehr noch als seine niederträchtigen politischen Handlungen – ausschlaggebend für entscheidende Prozentpunkte in der kommenden Neuwahl. Für ihren Gewinn oder auch für ihren Verlust.
Denn im Hintergrund wird bereits ein neues Gegenbild aufgebaut: Gaio Giulio Cesare Mussolini von den faschistischen – oder „postfaschistischen“, wie er es selbst nennt – Fratelli d’Italia: ein weltläufiger, stilbewusster Mann, der aussieht, als würde er nicht einmal an heißesten Tagen das Jackett ablegen, der sich in gewählten, distanzierten Worten ausdrückt (das rassistische Poltern und die nationalistischen Phrasen überlässt er gern seiner Parteivorsitzenden Giorgia Meloni, die es hinsichtlich Sex- und Gewaltfantasien und öffentlicher Aggression spielend mit Salvini aufnehmen kann) und der sich an Medien nie „heranschmeißt“, sondern ihre Vertreter empfängt und entlässt, ganz faschistischer, Verzeihung, postfaschistischer Fürst, der mit einem Augenbrauenheben klarmacht, was das halb nackte Rumpelstilzchen für ihn ist: einer, der die Drecksarbeit erledigt, und den man am neuen Ort der Macht gerade einmal als Hofnarren dulden wird.
Vom Sehnsuchts- zum Katastrophenort
Mussolini hat sich taktisch klug mit der Lega verbunden, indem er überall in den sozialen Netzen seine Fratelli d’Italia mit den Seiten der Lega verknüpft und mit vergifteten Komplimenten deren Unterstützer nach und nach auf seine Seite zieht. Die Lega, so heißt einmal sein Kommentar, sei die einzige Kraft in Italien, die seinen postfaschistischen Idealen „nahekommt“. Wenn der durchaus aufhaltsame Aufstieg Matteo Salvinis gelingt, dann wäre vermutlich die Erfüllung seines Traumes, Premier zu werden – vereint zu einer rechten Volksfront mit den Fratelli d’Italia und vielleicht Berlusconis Parteiresten der Forza Italia als Koalitionspartner – auch der Beginn seines Niedergangs. Denn Cesare Mussolini macht keinen Hehl daraus, wie er und seine „authentischen“ und „wahren“ Rechten mit den Salvini-Populisten genau das machen werden, was dieser mit Cinque Stelle gemacht hat, nämlich sich als noch viel stärkerer und zugleich ernsthafterer Mann zu präsentieren, tödliche Schüsse auf Flüchtlingsboote, neue „Rassegesetze“ und Abschaffung demokratischer Öffentlichkeit eingeschlossen. So sähe das Ende der italienischen Republik 3.2 aus. Und am Strand bliebe ein unbehaglicher Schatten.
Aber das Bild der Italiensehnsucht von liebenswerter Rückständigkeit und kindlicher Freude am Chaos war genauso Projektion, wie es das Bild der inneren Zersetzung und des beschleunigten Zerfalls ist. Italien könnte Europa verloren gehen, Italien könnte der europäischen Demokratie verloren gehen, Italien könnte der europäischen Erzählung und dem europäischen Selbstbild verloren gehen. Ein Dominostein, der im Fallen eine Kette von weiteren Stürzen auslöst. Italien könnte vom Sehnsuchts- zum Katastrophenort werden.
Vorbild Griechenland
Ein Kapitel der italienischen Katastrophenerzählung geht gerade zu Ende: Das denkwürdige Experiment einer Querfront in der Regierung, gebildet aus zwei Organisationen, die eher Stimmungsbewegungen als programmatischen Einheiten gleichen und die einander vor allem darin entsprechen, dass sie sich außerhalb des traditionellen Parteiensystems sehen und sich nichts daraus machen, hier und da das Gegenteil von dem zu sagen, was sie gestern behauptet haben. Einerseits waren die populistischen Bewegungen nach der neoliberalen Implosion des Berlusconismus Reaktionen auf die Auflösung der traditionellen politischen Lager, andererseits beschleunigten sie diese Auflösung in einem Maße, das sie sozusagen selbst überholte. Sie veränderten sich schneller, als ihre Protagonisten es begreifen konnten. Die schauten nur verblüfft zu, wie die eine Seite in narzisstisch-völkischem Rausch weit über ihre eher provinziellen Anfänge hinausgetragen wurde und die andere Seite in rekordverdächtiger Zeit Demontage und Depression erlebte.
Da ist auf der einen Seite das Cinque-Stelle-Bündnis, eine Bürgerbewegung mit linken, ökologischen, liberalen, bürgerlichen, basisdemokratischen, aber auch „europakritischen“, antiparlamentarischen und reaktionären Zügen, begründet von dem polternden Schauspieler und Kabarettisten Beppe Grillo. Und da ist auf der anderen Seite die rechtspopulistische Lega, die aus der einstigen separatistischen Lega Nord hervorging. Dass diese beiden Gruppierungen überhaupt eine Koalition bilden konnten, hatte ein Vorbild in Griechenland, wo sich 2015 eine linkspopulistische Regierung eine extreme Rechte zum Partner gemacht hatte. Es war vor allem aber dem Umstand geschuldet, dass es insbesondere zwischen Cinque Stelle und Partito Democratico kein vernünftiges Wort mehr zu wechseln gab. Der dritte Grund aber waren scheinhafte oder tatsächliche Schnittpunkte: die Europaskepsis, die Ablehnung der alten politischen „Elite“, der Bezug auf die „kleinen Leute“ und ihren Anspruch auf Arbeit und Gerechtigkeit, die Posen der Selbstermächtigung, die Lust am Spektakel und nicht zuletzt das Bekenntnis zur „Italienischkeit“.
Beide politischen Projekte sind eher Mutationen, works in progress, Anverwandlungen und Echokammern, die vielleicht verschiedenen politischen Kulturen, verschiedenen Milieus entsprechen, aber weniger durch Programme als durch Performances, durch Personen, durch Dispositionen bestimmt werden. Von der Fünf-Sterne-Bürgerbewegung ist so wenig geblieben wie von der einstigen Provinzpartei Lega. Aus ihr wurde eine stramm rechtspopulistische, fremdenfeindliche und nationalistische Partei, so wie man sie überall in Europa kennt, mit einem erheblichen Unterschied. An einer „Außengrenze“ der EU konnte Salvini gleich mehrere Dinge „beweisen“: dass er und die Seinen „Ernst machen“, dass Europa dagegen weder etwas unternehmen kann noch will und dass in den entscheidenden „nationalen Fragen“ er es ist, der das Sagen hat. Viele Medien machten das Spiel mit.
Populismus und vernünftige Politik passen nicht zueinander
Und aus Cinque Stelle wurde … ja, was eigentlich? An der Oberfläche lässt sich die Sache leicht erzählen: Unter ihrem etwas farblosen Vorsitzenden Luigi Di Maio versuchte man, politische Sacharbeit zu leisten, während man dem Innenminister Salvini die Bühne für seine Selbstdarstellungen und seine populären Hetzkampagnen überließ, die Selbstzeugung eines „starken Mannes“, der handelt, wo andere nur reden.
Das ebenso naheliegende wie unmögliche Bündnis ist allerdings Ergebnis einer Reihe historischer Fehler. Die Antipartei Cinque Stelle hat nie an eine personelle oder organisatorische Reform des alten Systems glauben wollen und dies mit einem oft auch persönlich beleidigenden verbalen Radikalismus unterstrichen. Beppe Grillo hat selten gesprochen, meistens gebrüllt. Darin bündelte sich gewiss ein berechtigter Unmut gegenüber der politischen Klasse. Dass die Fünf-Sterne-Bewegung tatsächlich eine Kraft der Veränderung wäre, das bewies sie am ehesten in der Form von Graswurzelpolitik im lokalen Bereich. Vor Ort konnten einige ihrer Vertreterinnen und Vertreter durchaus beweisen, dass Alternativen sinnvoll und praktikabel sind. Aber sie gerieten schon in größeren Städten und angesichts stärkeren Widerstands an ihre Grenzen. Die Verhältnisse in Rom konnten auch von der engagierten Bürgermeisterin Virginia Raggi nur im Schneckentempo verbessert werden.
Die Kleinkriege waren dort nicht zu gewinnen: Jahr um Jahr zum Beispiel blockierten die Zuständigen beim Servizio Giardini di Roma Capitale jede Verbesserung bei der Pflege der öffentlichen Parkanlagen und erzeugten so, wer weiß wie bewusst, das Bild einer heruntergekommenen Stadt. Als endlich doch eine Kampagne zur Neueinstellung von Personal durchgesetzt wurde, empörte sich die Tageszeitung Il Messaggero einmal mehr über die Verschwendung. Blockaden, Denunziationen, gezielte Pressekampagnen gegen die lokale Politik der Cinque Stelle führen indes, seit sie in einer Koalition mit der Lega regiert, zu keiner breiteren Solidarisierung mehr, sondern, im Gegenteil, zu einer sich selbst verstärkenden Enttäuschung der einstigen Anhänger. Die Lücke zwischen der Basis und der Parteiführung war durch eine vernünftige Politik nicht mehr zu füllen. So entstand das Lehrstück von einer scheiternden linken populistischen Bewegung, die mit zivilgesellschaftlichem Elan an den Beharrungskräften der Verhältnisse ebenso scheitern muss wie an sich selbst – an zögerlichem, schwankendem und gelegentlich in der Tat auch inkompetentem Personal. Cinque Stelle führte vor, wie Populismus an der Macht nicht funktioniert.
Die Dosis der Droge muss stetig erhöht werden
Und alles, was der Cinque Stelle schadete, nutzte der Lega. Denn, anders als die, hatte man auf der Seite der Rechten einen Mann mit dem untrüglichen Instinkt für die Macht und für die Stimmungen in den Medien und im „Volk“. Cesare Mussolini schrieb die scheiternde Koalition schon in seine eigene Welterzählung ein, als er sie eine „widernatürliche Verbindung“ nannte. Salvini war binnen kurzer Zeit zum Medienstar und Diskursdiktator geworden. Weder seine Entgleisungen noch die unausweichlichen Skandale um Korruption und Verbindungen zum organisierten Verbrechen, die auch diese Partei ereilten, die als Kraft der Säuberung angetreten war, verhinderten seinen Aufstieg. Wenn die Cinque Stelle den Beweis dafür lieferte, dass Linkspopulismus am eigenen Widerspruch scheitern muss, schon weil sich Populismus und jede Form von politischer Vernunft ausschließen, so lieferte die Lega den Beweis, dass Rechtspopulismus gar nicht scheitern kann, wenn er sich nur stetig weiter nach rechts bewegt, und zwar aus ebendemselben Grund, nämlich, dass Populismus und vernünftige Politik nichts miteinander zu tun haben. Lehrstück Nummer zwei: Rechtspopulismus versorgt eine nationalistisch und „völkisch“ gestimmte Öffentlichkeit mit einer Droge von Bildern, Narrativen und Handlungen, und wie bei jeder Droge, so muss auch hier die Dosis stetig erhöht werden.
Der Bruch war unausweichlich, alle haben ihn kommen sehen, niemand hat sich darauf vorbereitet. Außer natürlich Salvini selbst. Der Anlass ist noch einmal symptomatisch genug: Der Bau des Eisenbahntunnels zwischen Turin und Lyon (TAV) war von Anfang an ein ökologisch, sozial und sogar ökonomisch unvernünftiges Unterfangen; die Polizeigewalt, mit der auf die Proteste dagegen reagiert wurde, hatte selbst performativen Charakter. Cinque Stelle versprach die Verhinderung, doch mittlerweile waren der Bau und seine Organisation so weit fortgeschritten, dass der Stopp so teuer und destruktiv wirken musste wie das Weiterbauen. Vernünftige Politik ist also letztlich gar nicht mehr möglich, eine Schadensbegrenzung aber auch nicht, denn die Unternehmung ist nun das letzte große Element, das wenigstens symbolisch die Führung und die Basis der Bewegung miteinander verbindet. Aus dieser Falle gibt es kein Entrinnen; es ist das Lehrstück Nummer drei: Wo demokratische Willensbildung und Beteiligung unterbunden wurden, kann Populismus nur noch Konfrontation, aber keine Lösung mehr erzeugen.
Und das Lehrstück Nummer vier schließt sich gleich an: Eine Querfront zwischen linken und rechten populistischen Bewegungen, wie sie gelegentlich auch in Deutschland propagiert wird, ist nicht nur ein politisch-moralisches Unding. Schließlich wird jede noch so gut meinende politische Person aus dem Cinque-Stelle-Umfeld an den Verbrechen an der Humanität durch die Lega mitschuldig, sie findet für ihre internen Konflikte nicht einmal eine gemeinsame Sprache. Zu einer vernünftigen Politik zurückzukehren ist freilich schon deswegen schwer, weil diese, wie einige ihrer Vertreterinnen und Vertreter, unter den Bedingungen der Aufmerksamkeitsökonomie kaum eine Chance hätte. Im Populismus steckt noch stets die Verwandlung von Politik in Entertainment, und dafür ist die italienische Kultur nicht erst seit Berlusconi besonders anfällig. Womit wir wieder bei Salvinis Strandbildchen wären.
Georg Seeßlen
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