1968 glaubte man an einen Fortschritt, der heute fragwürdig erscheint. Ein neuer Aufbruch muss einen anderen Weg nehmen
Der Bruch, der in den Jahren um 1968 durch die westlichen Gesellschaften ging, betraf eigentlich nur drei sehr einfache Dinge: Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Und wenn man die drei Dinge zusammen denkt, kommt ein noch einfacherer Begriff dabei heraus: Fortschritt. Aber was heißt schon einfach?
Entscheidend war es damals jedenfalls, ein Teil davon zu sein. Man spielte in progressiven Bands, machte progressives Theater, las progressive Texte. Auf der einen Seite. Und auf der anderen spottete man über alles, was technischem Fortschritt, Wachstum und Wohlstand skeptisch gegenüber stand. Man war nur wer, auf beiden Seiten der Bruchlinie, in Bezug auf den Fortschritt.
Ganz klar: Es ging einer damaligen Linken unter anderem darum, die Hegemonie eines technisch-ökonomisch-militärischen Begriffs von Fortschritt durch einen sozial-kulturell-politischen Begriff zu ersetzen. Genauer gesagt: Einer Kultur, die sich in der äußeren Gestalt immer weiter nach vorn und im inneren Wesen eher rückwärts orientierte – das regressive im progressiven – eine Alternative entgegen zu setzen, in dem die Verhältnisse anders herum gewichtet waren. Der „real existierende Sozialismus“ war daher nur bedingt als ein Verbündeter zu sehen, denn hier hatte man sich, was den technisch-ökonomisch-militärischen Fortschritt anbelangt, offenbar verhängnisvoll verheddert. Der mehr oder weniger friedliche Wettstreit der Systeme als Nachfolge des Kalten Krieges hatte sich an einer äußeren Idee von Fortschritt fest gemacht, so fanatisch, dass man am Ende nur noch die Konkurrenz zweier imperialer Wahnsysteme zu erkennen vermochte. Die Menschheit würde sich, so konnte man es dann bei Günther Anders lesen, im Namen des Fortschritts selbst auslöschen. Etwas weniger dramatisch gesagt: Das zwanzigste Jahrhundert war die Epoche, in der eine Mehrzahl der Menschen auf dieser Welt, selbst in kritischen Sphären, „entlegenen Gegenden“ und „eigenen Kulturen“, dem Mythos des Fortschritts verfiel, und zwar heimtückischerweise zu derselben Zeit, da er all seinen Glanz, seine Selbstverständlichkeit, seinen Nutzen schon verloren hatte. Wenn also das zwanzigste Jahrhundert das Zeitalter des hysterischen Fortschritts war, dann waren die Bewegungen von 68 und die Folgen, nicht unverzweifelte Versuche, die Idee des Fortschritts gegen seine ökonomische und politische Praxis zu retten.
Dabei hatte Antonio Gramsci schon einen Vorschlag gemacht, sich der Ideologie im Begriff Fortschritt gewahr zu werden: „Fortschritt und Werden. Handelt es sich um zwei verschiedene Dinge, oder um verschiedene Aspekte ein und desselben Begriffs? Der Fortschritt ist eine Ideologie, das Werden ist eine philosophische Konzeption. Der ‚Fortschritt‘ hängt von einer bestimmten Mentalität ab, in deren Konstitution gewisse historisch determinierte kulturelle Elemente eingehen; das‚Werden‘ ist ein philosophischer Begriff, bei dem der‚Fortschritt‘ abwesend sein kann. Bei der Fortschrittsidee wird die Möglichkeit einer quantitativen und qualitativen Messung unterstellt: mehr und besser. Wie ist die Fortschrittsidee entstanden? Stellt diese Entstehung eine grundlegende Kulturtatsache dar, die geeignet ist, Epoche zu machen?“
Wenn es so etwas wie ein großes linkes Projekt gibt, was über Verteilung und Organisation der Güter hinaus geht, dann ist es dies: Den Fortschritt so weit von seine Ideologisierungen und den hegemonialen Mächten in ihm zu befreien, dass er wieder zum Teil des Werdens der Menschen gebraucht werden kann. Zunächst aber gilt es, den Begriff selber einer kritischen Revision zu unterziehen.
Der Mythos
Nach der Vertreibung aus dem Paradies – über die Gründe dafür sind wir uns noch nicht recht einig – musste der Mensch hart arbeiten, und auch die Geschichte von Mord und Totschlag begann sehr rasch. Jedenfalls war diesem Menschen am Beginn seiner Geschichte eines klar: So, wie es ist, ist es nicht gut. Es kann nur, nein es muss besser werden. Und zwar mit einem mythischen Ziel, nämlich so oder so in das Paradies zurück zu kehren, oder mit einem pragmatischen Ziel, nämlich es sich und dem Himmel schon zu zeigen, dass man auch ohne Paradies ganz gut zurecht kommt. Jedenfalls wurden Arbeit, Phantasie, Gewalt und Schmerzen in den Dienst dieser einen Idee gestellt: Dass es besser wird. Es dauerte eine Zeit, bis man dafür einen verbindlichen Begriff entwickelt hatte, genauer gesagt bis in der Zeit der Stoiker, um 300 vor unserer Zeitrechnung, als man von prokope zu sprechen begann, was in der römischen Übernahme dann zu progressus oder progressio wurde. Das römische Imperium war wohl die erste Kultur, die im innersten Kern vom Fortschrittsgedanken geprägt war, und zwar in einer radikalen Einheit von Technik, Kultur, Militär, Ökonomie und Philosophie. Und für Rom war es offenbar vollkommen klar, dass es sich um einen historischen, offenen und unabschließbaren Vorgang handelte. „Denn nichts ist, wenn es erfunden wird, zugleich auch vollendet“ meinte Marcus Tullius Cicero. Wenn man will, kann man diese Aussage als Begründung einer materialistischen, aber auch einer kritisch-rationalen Fortschrittsidee ansehen. Wenn Cicero recht hatte, geht es nicht allein um Innovation, schon gar nicht um ihrer selbst willen, sondern immer auch um die Weiterbildung, möglicherweise auch Revision. Und davon wird uns etwas in die Moderne hinein begleiten, was im Mittelalter eher vernachlässigbar schien, nämlich der Zusammenhang von Fortschritt und Arbeit. Fortschritt entsteht durch Arbeit und erzeugt zugleich Arbeit. Der Sinn der Arbeit liegt im persönlichen, im gesellschaftlichen, vielleicht sogar im kosmischen Fortschritt. Und gleichzeitig gibt es kein anderes Gebiet, vielleicht abgesehen von der Kriegführung, das sich so sehr nach Fortschritt sehnte wie die Arbeit.
Fortschritt hieß und heißt immer noch, dem Menschen die schwere Last der Arbeit abzunehmen, zu erleichtern, zu verteilen, um ihn für andere, bedeutsamere Dinge zu befreien. Allerdings konnte nie ein Einvernehmen darüber erzielt werden, was diese bedeutsameren Dinge seien, die jedenfalls selten etwas mit Fortschritt, mehr indessen mit Picnic machen, Faulenzen und Fernsehen zu tun hatten. Daher hielt sich das eigentlich recht menschenfreundliche Ideogramm vom Fortschritt, der im Wesentlichen aus der menschlichen Bequemlichkeit stammt, immer mit jenem Ideogramm des Fortschritts die Waage, das durch Schuld, Angst und Paranoia immer weiter treibt. Fortschritt, im kleinen wie im großen, basiert auf einer Negation: Schlechte Natur, Arbeit als Strafe, böse Feinde, schwacher Mensch, instabile Verhältnisse, gegen all das soll Fortschritt helfen. In der paradoxen Weise, nämlich indem er ein Problem löst und zwei, drei andere erzeugt, und indem er die Natur noch schlechter, die Arbeit noch sträflicher, die Feinde noch böser, die Menschen noch schwacher und die Verhältnisse noch instabiler macht. Aber der Fortschritt einte Menschen und gab ihrem Dasein Sinn, außerdem ist er ein treffliches Mittel gegen Langeweile.
Schön wäre eine solche Gemächlichkeit, die den Menschen am Ende seiner Fortschrittsbemühungen wenn schon nicht ins Paradies, so doch wenigstens in eine Art von technisch-sozialem Schlaraffenland gebracht hätte. Nicht nur würde Fortschritt bedeuten, dass für alle Bedürfnisse gesorgt, alle Probleme gelöst und alle Bedrohungen abgeschafft werden, er würde die Menschen schließlich auch von aller Schuld, Verantwortung und Verpflichtung befreien. Mittlerweile hätten wir schon fortschrittliche Technologien, die dem Menschen auch das Fühlen, Denken und sogar das Sprechen abnehmen. Was dagegen sprach war indes nicht allein die Tatsache, dass ein Mensch dem anderen, ein Land dem anderen, eine Klasse der anderen, ein Geschlecht dem anderen die Errungenschaften des Fortschritts nicht gönnt, und daher mehr noch aus Bequemlichkeit aus Neid, Hass, Gier, Angst und Verachtung nach Fortschritten verlangt, sondern auch eine eingebaute Dynamik. Für den Fortschritt gibt es kein genug. Er löst ein Problem, indem er ein neues schafft. Er hilft auf der einen Seite, indem er auf der anderen Seite schadet. Der Fortschritt kann nicht schaffen, ohne zu zerstören, sagen die Pessimisten, und die Optimisten halten dagegen: Der Fortschritt kann nicht zerstören ohne auch zu schaffen.
Der Untergang des römischen Imperiums dient in der Geschichte und im politischen Diskurs immer wieder als Beispiel dafür, wie ein fortschrittliches System an den eigenen Widersprüchen zugrunde gehen kann oder vielleicht sogar muss. Auf jeden Fall ging mit Rom wohl auch eine Einheit des Fortschrittsgedankens unter. Das Mittelalter war so wenig finster wie man es ihm nachsagt, noch so dem Fortschritt abhold. Nur ließen sich technischer, geistiger, ökonomischer, politischer, wissenschaftlicher und ästhetischer Fortschritt nicht mehr in eine solche konsistente Idee bringen. Und weder der weltliche Erfolg noch die göttliche Gnade ließen sich in der Kategorie des Fortschritts ausdrücken. Erst mit der Verbürgerlichung der Welt, die etliche Jahrhunderte in Anspruch nahm, wurde die Kategorie Fortschritt wieder zur treibenden Kraft.
Der freie Bürger blickt in die Zukunft. Sie kann nur besser sein als die Gegenwart, und die ist besser als die Vergangenheit. Alle Wünsche werden erfüllt, alle Probleme gelöst. Der freie Bürger, die freie Bürgerin – sie blicken nicht nur in die Zukunft. Sie glauben an sie.
Die Götter haben von Fortschritt eigentlich nichts gesagt, sieht man einmal von Forderungen ab, wie die, sich die Erde untertan zu machen oder die Ungläubigen zu missionieren oder zu vernichten. Je weniger der Bürger an Gott glauben konnte, desto mehr musste er an den Fortschritt glauben.
Genauer gesagt verdoppelte sich der Glaube im Bürgertum. Man muss an Gott und an den Fortschritt glauben. Und das eine muss sich dem anderen anpassen, sonst wird das nichts. Diese Einheit von Religion und Fortschritt entdeckte der Soziologe Max Weber als Ursprung des Kapitalismus im Protestantismus. Aber beides entleerte sich auch aneinander, wurde abstrakt und tot. Religion verengte sich auf moralisches Gebot und leere Form. Fortschritt verengte sich auf das Anwachsen von technischem Wissen und das Wachstum der Wirtschaft.
Aus diesem Weltbild haben wir uns bislang nicht befreien können: Wenn der Fortschritt versagt, kommt es zum Rückfall; dann kommen die Barbaren, dann kommen die Theokratien, dann kommt das finstere Mittelalter zurück (und selbst den Fortschritt der Zahnheilkunde werden wir einbüßen), dann kommen 1984 und „Schöne neue Welt“ in einem. Dies ist eine Pointe des Begriffs Fortschritt, dass er uns so sehr vor „Ideologie“ zu schützen verspricht, dass wir seine eigene Ideologie nicht mehr erkennen. Dass der Glaube an den Fortschritt eigentlich weniger aus der Hoffnung in die Zukunft denn aus Angst vor der Vergangenheit besteht. So dass selbst jene, die am Fortschritt zweifeln, doch noch mehr Angst vor einer Fortschrittslosigkeit der Welt haben müssen. Und überhaupt: Wo wären wir dann, und was hätten wir hier verloren ohne unsere unermüdliche Arbeit am Fortschritt?
Lange Zeit war die Fortschrittlichkeit des Bürgertums sozusagen im Verborgenen gediehen, im Arrangement mit der Herrschaft, im Arrangement mit dem individuellen Nutzen. Bevor sie im 18. Jahrhundert zur Waffe wurde, Revolution, Aufklärung und Bildung ihren Anspruch an der Macht bekräftigten, das zweischneidige Schwert, das sowohl nach oben wie nach unten, sowohl gegen die Vergangenheit als auch gegen die Zukunft gerichtet schien, war Fortschritt eine Geheimwaffe. Dann aber, mit der Macht eines neuen Empire, unter Napoleon und den seinen zum Beispiel, wurde der Fortschritt zuerst zu einer neuen Form der Staatsreligion, und dann, als der Citoyen sich wieder in den Bourgeois verwandelte, zur Grundlage einer neuen Ökonomie. Die Industrialisierung stand schließlich ganz im Zeichen des Fortschritts, und sie ist uns auch so im Gedächtnis geblieben, dabei bedeutete sie für große Teile der Bevölkerung und zum Teil auf drastische Weise, nichts anderes als Rückschritt. Die neue Klasse, das Proletariat, wurde verdammt, den Fortschritt zu erarbeiten, ohne an ihm Teil zu haben außer in der Form von Elend. In der schlimmsten Zeit des frühen Kapitalismus war genau das Fortschritt für die einen, was Rückschritt für die anderen war und umgekehrt. Wo sich der eine progressiv von der Arbeit befreite, wurde sie dem anderen bittere Regression. Vom Kolonialismus über den „Manchester Kapitalismus“ oder die Besiedlung/Industrialisierung/Kapitalisierung des amerikanischen Westens bis zum Faschismus: Stets ging es darum, den Fortschritt für die einen auf dem Rücken und über die Leichen der anderen zu gewinnen. Ein jahrhundertelanger Kampf zwischen jenen, die sich die Früchte des Fortschritts aneigneten, und denen, die davon nichts haben als Plage und Elend. Oder den Tod.
Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges schien diese Epoche beendet: Fortschritt, was seine Ideologie in Gramscis Sinne anbelangt, sollte nun für alle da sein. Am Ende wurden die beiden großen Versuche, den Fortschritt mehr oder weniger gerecht zu verteilen, der reale Sozialismus und die auch nicht ganz reale „soziale Marktwirtschaft“ abgebrochen, zugunsten einer Weltordnung, die wir „Neoliberalismus“ nennen, weil uns kein anderer Begriff zu Verfügung steht. Seine Ideologie besagt, dass ein letzter Wettlauf von jedem gegen jeden um den Fortschritt begonnen hat, bei dem freilich abzusehen ist, dass er irgendwann ohne seine menschlichen Subjekte fortgeführt werden muss. Der Fortschritt des zwanzigsten Jahrhunderts mochte damit gedroht haben, die Menschheit zu vernichten; der Fortschritt des einundzwanzigsten Jahrhunderts geht noch konsequenter gegen die Menschen vor. Er macht sie überflüssig.
Die Theorie
Am Fortschritt scheiden sich die Geister, nicht erst seit heute. Unter anderem bestimmt der Begriff, in was für einer Art Geschichte wir eigentlich leben. In einer von Göttern vorherbestimmten? In einer der endlosen Wiederkehr? In einer Geschichte des ewigen Zerfalls und des Niedergangs, in der sogar die Erinnerungen an das goldene Zeitalter verblasst? In einer Geschichte der Zufälle, des Durcheinanders und der Unberechenbarkeit? In der besten aller möglichen Welten oder doch nur in einer von vielen möglichen Welten? Oder doch, darauf hat sich die westliche Moderne mit allen Macken und Widersprüchen eingelassen: In einer Geschichte die, zumindest was den Menschen anbelangt, von Fortschritt geprägt ist. Diese fortschrittstheoretische Geschichtsschreibung basiert auf einigen wenigen allerdings fundamentalen Voraussetzungen.
Die geschichtliche Entwicklung verläuft linear.
Der allgemeine Zustand der Menschheit wird zunehmend besser, was dagegen spricht sind die Rückschläge, von denen nur zu lernen ist, um den Fortschritt zu verbessern und zu beschleunigen.
Der Zustand der Natur allerdings (was immer man darunter verstehen mag) wird notwendig durch Fortschritt schlechter; diesen „Naturrealismus“ auf die Spitze zu treiben: Fortschritt ist die Ersetzung der Natur durch Kultur bzw. Technik.
Noch weiter fundamentalisiert wird aus dem Fortschrittsglauben die Teleologie, das heißt, diese linear verlaufende, Natur durch Technik und Barbarei durch Kultur ersetzende, ständig verbesserende Geschichte steuert ein Ziel der Perfektion an, das neue Paradies.
Und damit verbunden ist die Notwendigkeit eines Plans, den die Geschichte sozusagen von selbst verfolgt, so wie die unsichtbare Hand den Markt organisieren soll, so organisiert der Fortschritt die Geschichte. Wir verstehen: Wenn die Idee des Fortschritts zunächst eine Befreiung von Mythos und Religion darstellte, wird sie mit zunehmender Konsequenz selber zum Mythos und zur Religion (auch hierin dem Kapitalismus eng verwandt). Oder anders gesagt: Die Kulturgeschichte des Begriffs Fortschritt widerlegt seinen eigenen Inhalt.
Der Begriff vom Fortschritt kam über das französische progrès zu Beginn des 18. Jahrhunderts nach Deutschland und wurde danach mit der hierzulande üblichen Gründlichkeit fundamentalisiert. Bei Dostojewskij kann man nachlesen, wie sich russische Müßiggänger von der deutschen Konstruktion von Fortschritt zumindest zum Palavern hinreißen ließen, und Hegels Satz wurde zum ehernen Motiv: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit — ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.“ Boff! Freiheit, Fortschritt, Notwendigkeit. Aus diesem Dreieck gibt es so schnell kein Entkommen, und wer das nicht versteht, ist eben zu doof für den Fortschritt.
Die Praxis
Ist Fortschritt einerseits immer mehr, immer besser, immer schneller, und andrerseits immer auch so viel Zerstörung wie Produktivität, dann liegt es auf der Hand, dass das primäre Problem in der Praxis die Verteilung von Nutzen und Lasten ist. So viele Modelle gibt es dafür gar nicht:
Die hierarchische Organisation: Die „Eliten“ organisieren und verwalten den Fortschritt, nutzen Privilegien und gewähren „dem Volk“ einen Anteil (oder auch nicht). Ganze Gesellschaften spalten sich auf in einen fortschrittlichen und einen rückständigen Teil, wobei der eine den anderen ziemlich gnadenlos auszubeuten versteht.
Die solidarische Organisation: Alle Menschen sollen einen gerechten Anteil am Fortschritt haben, im Zweifelsfall muss er sogar abgebremst werden, wenn zu viele Menschen von ihm nicht erfasst werden, und die Menschen sollen darauf achten, dass ihre nächsten im gemeinsamen Fortschritt mit ihnen verbunden sind. Jeder technische Fortschritt wird darauf hin geprüft, ob er auch ein sozialer Fortschritt ist. Allerdings muss man hier und da von Staat oder Gesellschaft eingreifen, und das knappst manchmal etwas an der persönlichen Freiheit.
Die völkisch-nationalistische Organisation: Der Fortschritt soll einer (im Zweifelsfall imaginären) Gemeinschaft gehören, die sie für sich nutzt und den anderen verweigert. Die „Fortgeschrittenen“sollen sich gegen die Barbaren und Habenichtse abschotten, die etwas vom Fortschritt abhaben wollen, das ihnen nicht zusteht. Fortschritt wird vor allem militärisch-technisch verstanden, während Kultur und Politik ganz auf eine reggressive Rückwendung geschaltet werden. Ohne Gewalt, Terror und Krieg ist so ein regressiver Fortschritt nicht zu haben.
Die demokratisch-kapitalistische Organisation: Die Anteile der einzelnen und der Gruppen am Fortschritt werden „frei“ ausgehandelt und zwar sowohl auf dem Feld der Politik (und der Gesetze) als auch auf dem Feld der Ökonomie (dem Markt) und nicht zuletzt, was eine liberale Gesellschaft ausmacht, auf dem Feld von Kultur und Kunst. Konsequenterweise hat der am meisten vom Fortschritt, der am meisten „leistet“ und am meisten „spart“, manchmal aber auch derjenige, der am meisten riskiert. Arbeit und Kapital sind verschiedene Formen, in die Hoffnung auf den Fortschritt zu investieren. Am Ende indes lebt man in einer so genannten Risikogesellschaft, in der sich die Menschen in einem Fortschrittslabor wähnen, das jederzeit in die Luft fliegen kann.
Die neoliberale Organisation: Der Fortschritt soll durch Wettbewerb erzeugt und beschleunigt werden, die Angst, keinen Anteil am Fortschritt zu haben, und die Gier, sich von seinen Früchten zu nähren, ist Antrieb genug, um immer mehr, immer besser zu verwirklichen, selbst dann, wenn Wissenschaft und Moral dagegen sprechen. Der Fortschritt gehört jenen, die sich nach vorn durchkämpfen, und die anderen zurücklassen können. Wer gegen den Fortschritt ist, wirdüberrannt. Am Ende könnte es sein, dass der Markt des Fortschritts alles mögliche noch braucht, nur keine Menschen mehr.
So liegt es wohl auf der Hand, dass es einen idealen Schlüssel für die Verteilung nicht gibt, wohl aber einige, die noch desaströser und destruktiver sind als die anderen. Solange es Fortschritt gibt, gibt es Ungleichheit, Kampf und Ausbeutung, es geht nicht anders. Daher war dieses Jahr 1968 nicht nur die Zeit für den Bruch zwischen den Verteilungsideen zum Fortschritt, sondern auch für den Bruch zwischen Fortschrittsoptimismus und -skeptizismus. Als radikale Alternative entwickelte sich ein organisiertes Aussteigertum, Hippies, Landkomunen, Graswurzelrevolutionen oder wenigstens fundamentale Scheiß-drauf-Haltungen, als bürgerliche dagegen ökologische Bewegungen, die dem Fortschritt eine andere Richtung geben wollten, kontrolliert, nachhaltig, ausgewogen usw., bis hin zu einer Idee des „grünen Wachstums“, was vielleicht besonders deutlich macht, dass selbst die Gegenbewegungen von der toxischen Kraft der Fortschrittsideologie befallen sind. Trotz alledem und trotz der Fundamentalisierung des Kapitalismus im Neoliberalismus startete man ins neue Jahrhundert mit der Idee eines bedingten Fortschritts, eines rationalen, ökologisch und sozial verträglichen, kontrollierten und selbstreferentiellen Fortschritts mit möglichst kalkulierbaren Risiken. Allerdings in Gesellschaften, in denen die einzelnen Felder des Fortschritts mittlerweile in heillosen Widerspruch geraten waren. Die Einheit des Fortschritts ist weder sozial noch territorial noch technisch oder kulturell möglich; eine Form des Fortschritts steht in Widerspruch zum anderen.
Das Interesse der Herrschaft: Es liegt auf der Hand, dass jede Form von politischer Macht schon im Interesse der eigenen Erhaltung alles was in ihrem Einflussbereich an Fortschritt entstehen kann, einer strengen Regulierung unterwirft. Natürlich muss man einen Fortschritt, der die eigene Herrschaft in Frage stellt, dringlich unterdrücken. Zugleich aber gehört Fortschritt, sowohl im Sinne einer Verbesserung der Lebensbedingungen als auch im Sinn der Erweiterung der Macht, auch zur Legitimierung von Herrschaft. Herrscher, auch in der demokratisch gebremsten Form, kann auf Dauer nur einer sein, der zugleich Fortschritt für seine Untertanen verspricht und verhindert.
Das Interesse der Ökonomie: Als Fortschritt kann man alles bezeichnen, was sich erwirtschaften lässt. Zum Beispiel die Steigerung des Ertrags von Feldern und Viehzucht. Die Errichtung von Handelswegen. Die Entwicklung neuer Fertigungsmethoden. Die Erfindung neuer Werkzeuge. Die Entdeckung neuer Rohstoffe. Die Erschließung neuer Märkte. Letztere sind schon nicht mehr ganz so sympathisch, schreckt man doch selten vor Gewalt dabei zurück. Nicht im ökonomischen Interesse indes liegt jede Art von Fortschritt, die jenseits des Systems von Preisen, Waren, Profiten und Schulden liegen. Und natürlich liegt sozialer Fortschritt, die Gleichverteilung der Früchte des Fortschritts, als Lohn, als Eigentum, nicht zuletzt aber auch in Form von Bildung und Wissen, nicht im Interesse der ökonomischen Gewinner. Ökonomisch-technischen Fortschritt zu beschleunigen, politisch-sozialen Fortschritt zu behindern liegt im Interesse einer wirtschaftlichen Elite.
Das Interesse der Wissenschaft: Fortschritt ist nahezu immer mit einem Zuwachs von Wissen verbunden, so wie umgekehrt beinahe jedes Wissen zu einem Fortschritt führen soll. Wenn das Wissen über die Welt, den Menschen, die Zeit, die Materie, den Körper, die Gesellschaft und vieles mehr als Wert angesehen wird, dann muss automatisch Fortschritt als positive Gestaltung angesehen werden. Das Vertrauen in eine fortschrittliche Wissenschaft liegt zum einen in ihrer Unabhängigkeit von den anderen Interessen, zum anderen aber auch in ihrer Fähigkeit zur Selbstregulierung. Gute Wissenschaft kann also nur Fortschritt plus Ethik sein.
Das Interesse von Religion und Ideologie: Beides, die Religion wie die Ideologie, behauptet, ein Bild der Welt zu haben, dem die Menschen und ihre Lebensumstände nur angepasst werden müssen. Fortschritt wird hier also im Sinne einer Anpassung an das Ideal verstanden, und nicht als eine Erprobung neuer Mittel. Daher ist jede Ideologie, sogar die Fortschrittsideologie selber, ihrem Wesen nach fortschrittsfeindlich, denn sie kann die Zukunft nicht als offenen Raum von Möglichkeiten ansehen sondern nur als Bestätigung des Bestehenden.
Das Interesse der Gesellschaft: Das aktive Miteinander von Menschen, die auf gleichem Raum leben und in der gleichen Erzählung und in der gleichen Technik und Ästhetik und in den gleichen Diskursen ist auf einen Fortschritt förmlich angewiesen, damit das prekäre Austarieren der Kräfte und Interessen gelingen kann. Fortschritt ist sozialer Wandel hin zu einer Situation, in der die Verhältnisse nicht nur anders, sondern besser werden – etwa dadurch, dass die Sklaverei abgeschafft wird oder die Vergewaltigung in der Ehe als Verbrechen gilt, dass es einen gesetzlichen Mindestlohn gibt oder einen Schutz der Privatsphäre, ein allgemeines Wahlrecht oder die Pressefreiheit und vieles andere. Im Gegensatz zu einem Staat, der Sicherheit verspricht oder auch Ordnung, und im Gegensatz zu einem Individuum, das vielleicht ganz froh sein könnte, wenn sich einmal nicht mehr gar so viel ändern würde, ist die Gesellschaft um die Vorstellung des Fortschritts aufgebaut. Man könnte sogar behaupten: Ohne Fortschritt gibt es gar keine Gesellschaft, sondern vielleicht nur ein Volk. Während die einen, die Marktradikalen, Gesellschaft am liebsten auf den Markt reduzieren würden, versuchen die anderen, die Rechtspopulisten und Neuen Rechten, die progressive Gesellschaft auf das regressive Phantasma des Volkes zu reduzieren. Beide wollen die Geschichte der Veränderungen und Verbesserungen für alle zurückschrauben. So hat die Vorstellung vom generellen gesellschaftlichen Fortschritts ihren Glanz verloren. Sie ruft sogar Skepsis hervor. Hingegen wächst die Neigung, etwa die Zunahme autoritärer Ressentiments und reaktionärer Bewegungen, sich ideologisch, politisch, moralisch und kulturell gegen die Zumutungen des Fortschritts zu verbarrikadieren. An allen Ecken und Enden erheben sich fortschrittskritische und fortschrittsfeindliche Impulse. Und nun rächt es sich, dass wir keine einheitliche Konzeption von Fortschritt mehr haben, sondern nur noch, wie es Antonio Gramsci vorhergesehen hat, eine entsprechende Ideologie. Sie besteht in einer dreifachen Gleichung:
Fortschritt = Arbeit, Fortschritt = Geschichte und Fortschritt = Wachstum.
Um die Idee des Fortschritts zu retten müsste man sie womöglich von diesen automatischen Gleichsetzungen befreien. Was natürlich mit einer gewissen Skepsis und mit einer nicht unerheblichen theoretischen Arbeit verbunden ist.
Die Krise
„Der Fortschrittsgedanke der Zivilisation hat sich als ein Übermut des Menschen entschleiert“,
sagt Karl Jaspers. Und Paul Feyerabend gibt eine Dialektik des Fortschritts zu bedenken, die ihn als exklusive Triebkraft der Geschichte unmöglich macht: „Fortschritt in eine Richtung kommt nicht ohne Aufhebung der Möglichkeit zum Fortschritt in andere Richtung zustande.“
Das nun würde bedeuten: Fortschritt verlangt nicht nur einen Preis – zum Beispiel den der Entfernung der Menschen von der Natur, oder von den Göttern, wie man es nimmt, oder die stete Erzeugung neuer Probleme aus der Lösung der alten – und Fortschritt produziert nicht nur stets auch einen Hang zur Regression, weil wir ja das, was durch den Fortschritt überwunden worden ist, in unserer Psyche, unserer Kultur, unseren Mythen, unserem Alltag immer auch weiter mitschleppen müssen. Fortschritt ist immer auch eine Selektion aus verschiedenen Möglichkeiten, die nicht ohne Macht, Interesse, Ideologie und schließlich auch Willkür vollzogen wird. Schließlich gibt es gute Gründe an den Fortschritt als zwingende, lineare und übergeordnete Kraft in der Geschichte, der Politik, der Kultur und der Ökonomie nicht mehr so recht zu glauben. Da sind die großen, mörderischen Zivilisationsbrüche, die wir erleben mussten, die Weltkriege, den Faschismus, den Terror, was an die so gern gehegte Vorstellung von der Geschichte als Fortschritt (wenn auch mit Rückschlägen) nicht mehr glauben lässt. Da ist die immer noch steigende Ungleichheit in der Verteilung der materiellen und geistigen Güter in der Welt, die Entwertung der Arbeit, das Elend der Massenarbeitslosigkeit in vielen Ländern, was den Glauben an die Idee des Fortschritts durch die menschliche Arbeit zweifeln lässt. Und da sind die ökologischen, sozialen und kulturellen Katastrophen, die durch das ungebremste ökonomische Wachstum und die Ausbeutung von Ressourcen und Energiequellen ausgelöst und deren Folgen nur noch von sehr dummen, sehr korrupten oder sehr gierigen Menschen geleugnet werden. Die schlechte Praxis und der eklatante Mangel an Theorie macht aus Fortschritt immer mehr: Ideologie.
Die Tragödie einer großen Erzählung von Fortschritt, Vernunft und Verbesserung: Von allen Ideen des Fortschritts blieb allein die Erzählung vom wirtschaftlichen Fortschritt erhalten, alle anderen verwandelten sich in Gespenstergeschichten und apokalyptische Visionen. Die Idee des Neoliberalismus, und seine Praxis, besteht in der irrwitzigen Annahme: Es gibt keinen Fortschritt mehr, aber es gibt unendliches Wachstum. Auf diese Verengung, die bar jeder Vernunft, aber voll von verführerischen Bildern und Mythen steckt, gibt es drei generelle Reaktionen, sieht man einmal davon ab, dass natürlich auch die Verteilungskämpfe weiter gehen und an Gewalt zunehmen:
- Der Versuch, die durch die ökonomische Hegemonie liegengebliebenen oder gar regressiv gewordenen Projekte des Fortschritts, in der Politik, in der Wissenschaft, in der Kultur, in der Gesellschaft, wieder aufzunehmen. Gleichsam ein Versuch, an die Aufklärung und ihren Fortschrittsoptimismus wieder anzuknüpfen, um wieder eine Einheit des zerbrochenen Fortschritts zu erlangen.
- Die große Abklärung, ein vernünftiger und rücksichtsvoller Rückbau von Erwartungen und Beschleunigungen, die Idee, den Fortschritt zu verlangsamen, zu vermenschlichen, zu ökologisieren, zu pazifizieren, zu sozialisieren usw.: Wenn wir alle etwas weniger vom Fortschritt erwarten, so könnte man das übersetzen, dann reicht er für alle und vor allem länger. Vor allem muss die Maßlosigkeit, Verschwendung und Sinnlosigkeit des Fortschritts, sein verhängnisvoller Automatismus abgebaut werden.
- Die andere, vielleicht komplizierteste Reaktion aber könnte darin bestehen, den Fortschritt und was damit verbunden ist, neu zu denken. Das gilt vor allem für die drei verhängnisvollen Gleichungen, die von der Ideologie zur Praxis geworden sind: Fortschritt = Arbeit, Fortschritt = Geschichte und Fortschritt = Wachstum.
Vielleicht wäre es eine der vornehmsten Aufgaben einer neuen Linken, neben einer sozialen Neuorganisation des Fortschritts auch über seinen Wert nachzudenken. In Antonio Gramscis eingangs zitierter Unterscheidung des Werdens von der Ideologie des Fortschritts (die wahrhaft Epoche gemacht hat) steckt eine Möglichkeit. Es geht nicht nur um eine „bessere“ Verteilung von Wachstum und Wohlstand, nicht um mehr Kontrolle hier und weniger Profitgier dort, es geht vielmehr um eine Neubestimmung von Fortschritt und Geschichte. Weder ist diese linear und planvoll noch jener „Gesetz“ und Wert an sich. Jeder Fortschritt ist nur eine Option unter vielen, an jedem Fortschritt gibt es die regressive Kehrseite. Eine wirklich neue Linke orientierte sich nicht an der Ideologie des Fortschritts, sondern an der Praxis des Glücks. Für möglichst viele.
Die Ideologie vom „immer mehr“ und „immer besser“ hat mit dem Heraufkommen des Neoliberalismus und des in ihm eingelagerten neuen Faschismus ihren Sinn verloren. Nur weil die dazugehörigen Bilder von einer gewaltigen Industrie der Verdummung verbreitet werden, lösen wir uns so schwer von ihr. Vom „immer mehr“ beginnen wir uns derzeit langsam, vielleicht zu langsam zu verabschieden. Das „besser“ dagegen wird neu verhandelt: Besser für wen? Besser wozu? Besser um welchen Preis? Vielleicht bleibt nun wieder ein wenig Platz für das Werden. Das Werden eines Menschen der Zukunft, der nicht bloß noch fit for fun, wettbewerbsfähig und konsumlaunig ist, sondern sich in Ernst Blochs Sätzen findet: „Wir sind. Aber wir haben uns nicht. Darum werden wir erst.“ Wenn wir in diesem Sinne werden, brauchen wir uns keine Gedanken mehr darüber zu machen, ob wir das dann noch Fortschritt nennen oder einfach die Arbeit am Mensch-Sein.
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