Über Lügenpresse, »fake news« und anderen Erscheinungen der Post Truth Politics. Eine Notiz vom Ende der demokratisch-kapitalistischen Nachrichtenkultur.
»Die Nachrichten«, die wir als mehr oder weniger unablässigen Strom von Neuigkeiten und letzten Informationen erhalten, lassen sich höchstens mit Mühen grammatisch auf die Einzahl herunterbrechen. Eine Nachricht erhalten (vom Tod der Tante oder der Promotion der Tochter), ist etwas anderes, als Nachrichten lesen, hören oder gucken. Diese Ordnung von privater Nachricht (heute vor allem in elektronischer Form) und öffentlichen Nachrichten bestand nicht immer auf diese Weise und muss nicht immer weiter bestehen. Sie war wohl eine Verabredung der kapitalistisch-demokratischen Gesellschaften und nur in dieser Phase mussten sich allgemeine Nachrichten durch ihren objektiven Wahrheitsgehalt und durch ihren subjektiven Nutzen legitimieren.
Zuvor war alles ganz anders. Das deutsche Wort »Nachricht« entwickelte sich, sehr viel spezieller als zum Beispiel das angelsächsische »News«, nämlich aus einer »mittheilung zum darnachrichten«, so Grimms Wörterbuch. Es handelte sich also offensichtlich um eine Information (von oben), die (unten) Folgen nach sich zieht, im weiteren Verlauf bis zum 18. Jahrhundert allgemein gar als »Nachrichtung« bezeichnet, eine mehr oder weniger rationale Anweisung mithin, betreffend »den Daseinskampf des Einzelnen und der Gemeinschaft«.
Erst in der modernen, medialen Form sind Nachrichten (nun stets im Plural) einfach aktuelle Meldungen, die zur Kenntnisnahme und zum »Informiertsein« dienen. Nach einer Phase der Eroberung durch Revolte und Bürgertum wird die Beziehung zwischen der Nachricht und dem, was sie auslöst, immer seltsamer und unsinniger. Lange bevor sie sich in einem Meer von Mini-Erzählungen verliert, die sich weniger am Wirklichkeitsgehalt als an den Erwartungserhaltungen orientieren, hat die Nachricht ihren Wesenskern verloren, nämlich die Herstellung der Verbindungslinie zwischen der Welt und den Lebensinteressen. So lässt sich jener Mann, der in eine Pizzeria stürmt, um Hillary Clintons Kinderpornoring zu sprengen, als einer bezeichnen, der auf eine der allerbeknacktesten fake news hereingefallen ist, aber eben auch als einer, der mit Gewalt die Wiederherstellung der Beziehung von Nachricht und Lebenswirklichkeit betrieb.
Dieses Instrumentarium der demokratisch-kapitalistischen Weltordnung – das System der Nachrichten, das historisch eine Balance zwischen bürgerlicher Gesellschaft, kapitalistischer Wirtschaft und repräsentativer Demokratie herzustellen hatte – drückt den inneren Widerspruch zwischen der Ökonomie und der Politik aus. Die formal mehr oder weniger garantierte Freiheit der Presse endet bei den ökonomischen Interessen ihrer Besitzer und den offenen und versteckten Formen der Zensur durch Agenten politischer Macht. Zugleich endet diese Freiheit aber auch beim Konsens und Geschmack der Adressaten und bei den religiösen Übereinkünften. Kein Wunder also, dass der Erzeuger und Übermittler der Nachrichten, der Journalist, beides zugleich wurde: Eine heroische Gestalt, die Wert und Wahrheit unter Lebensgefahr den sehnsüchtig wartenden Adressaten übermittelt, die sich weder von materieller Verführung noch von politischer Drangsal davon abbringen lässt, die Wahrheit ans Licht zu bringen, und der Inbegriff von moralischer Verkommenheit, der korrupteste unter den korrupten Kleinbürger-Karrieristen, einer, der für Geld und ein bisschen Abglanz der Macht alles schreibt, was man von ihm verlangt.
Der Gehalt einer Nachricht liegt nicht allein in ihrer »objektiven« Wahrheit, das heißt in ihrer Unterwerfung unter Prinzipien wie Faktizität, Logik, Topographie, Grammatik und Nachprüfbarkeit, sondern auch in der Herstellung der Gemeinsamkeit, der Gleichheit und der Verbundenheit der Adressaten. Sie verbindet immer mehr nicht nur die Sender und Adressaten sondern auch die Adressaten untereinander. Welche Nachricht ist »wahrer«? Jene, die zwar objektiv unrichtig ist, die aber zur gleichen Zeit alle Adressaten auf die gleiche Weise »betrifft« (oder auch nicht) und ihnen diese Gleichheit als Meta-Nachricht vermittelt, oder jene, die zwar objektiv »richtig« ist, einer Mehrzahl der Adressaten aber unangenehm ist, beziehungsweise sogar geeignet, einen Teil der Bevölkerung gegen einen anderen aufzubringen? Nein, keine allzu schnelle Antwort!
Diese Frage ist nur im Mythos einfach zu beantworten. Was uns bleibt, ist die Feststellung, dass Nachrichten in einer demokratisch-kapitalistischen Gesellschaft augenscheinlich noch ganz andere Aufgaben haben als eine objektive Vermittlung von Wahrheiten über die Macht, die Verhältnisse und die Katastrophen. Die Nachricht ist nicht nur etwas Gesprochenes, vielmehr ist sie auch Sprache als work in progress. Mit einer katastrophalen Folge übrigens: Dass die Welt nur noch in der Sprache der Nachrichten zu uns spricht. Die Welt ist alles, was von ihr Nachricht werden konnte. Und je mehr der Umfang der Nachrichten wächst, desto kleiner wird diese Welt. Sie ist, nach einem Nachrichtentag, unerträglich klein.
Nachrichten, die das Volk konstruieren
Die drei Aufgaben eines jeden Nachrichten übermittelnden Organs, Zeitung und Zeitschrift, Sender und Programm, Plattform und Netzwerk, müssen zwangsläufig miteinander in Konkurrenz treten.
Selbsterhaltung, Selbsterneuerung und Selbsterweiterung des Mediums selbst: Jede Nachricht dient zuallererst der politischen Ökonomie der Apparate zu ihrer Erzeugung, Verwaltung und Vermarktung. Das Medium ist mehr als die Botschaft, das Medium ist das Produkt seiner Newswerte. (Der Newswert ist die Konkurrenzgröße von Schnelligkeit und Vorhandenheit des Mediums.)
Objektiver Gehalt an Wahrheit, Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit: Nachrichten sollen keine »wissentlichen Lügen« sein (dafür gibt es geeignete Medien), aber die reine Faktizität würde sie im Konkurrenzkampf so entwerten wie mangelnde Schnelligkeit. Nachrichten müssen allgemein und umfassend verfügbar sein, sagt der demokratische Mythos; nur »exklusive« Nachrichten sind konkurrenzfähig und profitabel, sagt die politische Ökonomie.
Erzeugung einer (mehr oder weniger) offenen Erzähl-, Wert- und Diskursgemeinschaft: Die demokratische Nachricht (wenn es so etwas gibt) zeichnet sich nicht nur als Nachricht der Demokratie aus (beziehungsweise als Kritik alles Nichtdemokratischen), sondern auch als Basisproduzent demokratischer Adressaten. Dazu gehören die nichtexkludierende und nichtprivilegierende allgemeine Zugänglichkeit, eine Gültigkeit nach mehr oder weniger wissenschaftlicher Methodik im Gefolge der Aufklärung, und nicht zuletzt die eigene Offenheit für Kritik und Korrektur. Nur in der Nachricht »erlernt« man Demokratie (und erkennt ihre Grenzen); die gemeinsam erhaltene Nachricht und die formalisierten Reaktionen darauf lassen uns als »Wertegemeinschaft« in einer »Debattenkultur« erscheinen. (Nachrichten sind dazu da, uns zu schmeicheln, uns besser zu machen, als wir sind.)
Wenn nun also, zum Beispiel, ein Pegida-Anhänger in wohligem Gewaltrausch von der »Lügenpresse« grölt, dann hat er im eigenen Wertesystem vollkommen recht, denn eine demokratische Presse bezöge sich ja auf Werte (Demokratie, Wahrheit, Gleichheit, Offenheit), die für ihn nicht gelten. Völkischer, rassistischer Exzeptionismus, die Unterordnung der Nachricht unter das Interesse und die Ideologie, ihre Nützlichkeit für die Bildung der ausschließenden, ja eliminierenden Gemeinschaft, der Vorrang »ewiger Wahrheiten« gegenüber äußerer Wirklichkeit sind ihm das Wesentliche. Die Nachricht ist für ihn dazu da, Begriffe, Erzählungen und Bilder zu besetzen. Als Ursatz dessen, was man etliche Jahre später die »postfaktische« Politik nennen sollte, darf die Aussage von Vizepräsident George H. W. Bush gelten: »Ich werde mich niemals für die Vereinigten Staaten entschuldigen. Die Fakten interessieren mich nicht.« Schon hier wird deutlich, dass das Interesse an der Wirklichkeit keinesfalls ein gemeinsames kulturhistorisches Projekt ist, sondern dem kritischen Potential einer Minderheit entspricht. Doch während die Bushische Begründung der post-truth politics (die sich in entsprechenden Nachrichten verbreitet) noch gleichsam urrepublikanisch, nämlich national geschieht, ist trumpistische post-truth politics schon »semantisch« begründet. Sie setzt nicht ein Prinzip höher als die äußere Wahrheit, sondern löst den Pakt zwischen Aussage und Wirklichkeit zur Gänze auf. Die Konstruktion des politischen Subjekts ist absolutes Ziel geworden; die Existenz einer Welt außerhalb eher marginal.
Die Mehrzahl der politischen und religiösen Kulturen dieser Welt muss die Existenz objektiver und offener Nachrichten demnach als Ketzerei, als Kränkung und, gewiss, als Lüge empfinden und daher kategorisch ablehnen. In diesen Kulturen geht es nicht um äußere Wirklichkeit, sondern um innere »Wahrheit«. Der Gehalt an äußerer Wirklichkeit ist ausgesprochen marginal zu bewerten. Es macht auf einen Pegida- oder AfD-Anhänger nicht den geringsten Eindruck, wenn man ihm beweist, dass seine Anführer schlicht lügen, dass die »Nachrichten«, die in der eigenen Kultur zirkulieren, vorwiegend paranoide Fiktionen sind, dass sich die »Beweise« für die eigene Weltsicht kinderleicht widerlegen lassen. Denn die Wahrheit dieser Nachrichten liegt in der Gemeinschaft, die sie erzeugen. Jene Nachricht, die sich von der äußeren Wirklichkeit und den Prinzipien von Logik und Nachprüfbarkeit losgesagt haben, rekonstruieren den verlorenen Fürsten, errichten aus Bild, Begriff und Erzählung den großen anderen, zum Beispiel »das Volk«.
»Demokratische« und »völkische« Nachrichten
Hat sich nun aber »das Volk« (in seiner rechtsextremen Konstruktionsweise) als eigentliches politisches Subjekt auch der Nachrichten bemächtigt, erscheint es nur konsequent, eine neue Ordnung zu errichten: Wahr ist, was diesem »Volk« dient; Lüge ist, was außerhalb von ihm ist, und »Verrat« alles, was ihm nicht dient. Auf diese Weise muss die Bindung der Nachricht an äußere Wirklichkeit selbst als unzumutbare Verfälschung erscheinen; die Wirklichkeit ist eine Kränkung, die nicht hingenommen werden darf. So ist also die Nachricht schließlich nichts anderes als Reaktion auf eine solche Kränkung. Die Abwehr der äußeren Wirklichkeit.
Ist »das Volk« anstelle der Demokratie indes als wahres politisches Subjekt eingesetzt, verändert sich der Charakter der Nachrichten radikal. Die demokratische Nachricht ist »wahr«, insofern sie für alle Menschen gleichermaßen gilt (selbst dann, wenn sie sich nach objektiven Kriterien als unwahr erweisen soll und dies in einer folgenden Nachricht korrigiert werden kann); die »völkische« Nachricht dagegen ist »wahr« nur insofern, als sie für die eigene Gemeinschaft gilt, für die Menschen außerhalb aber nicht. Wenn also ein »kritischer Demokrat« eine Pegida- oder AfD-»Nachricht« (mag sie nachweislich unwahr sein) als »gelogen« oder, modisch genug, als fake anprangert, so ist das innerhalb der Gemeinschaft gerade ein Beweis für ihre Wahrheit.
Diese Umkehr der Funktion von Nachricht hätte nicht geschehen können, wenn es nicht vordem eine demokratische Entwertung gegeben hätte. Kritische Wachsamkeit also müsste von Seiten der »alten« demokratischen Nachrichtenkulturen allen jenen Elementen gelten, die mit dem informationellen Rohstoff der Demokratie Schindluder treiben: Die Unterdrückung von Nachrichten durch Geheimhaltung, Verbot und Zensur; die Manipulation; die Fälschung durch Unvollständigkeit, durch die Durchsetzung des »Faktischen« mit dem Vagen und Mehrdeutigen; die Vermischung von politischen Nachrichten mit Marketing-Botschaften; die Überlagerung von Inhalten durch Formen (das Auftreten des Sprechenden ist bedeutender als sein Gesprochenes); die Projektion (Promi-Legenden als Nachrichten scheinbar ohne Inhalt und in Wahrheit als Verhandlung von Moral- und Mode-Codes, über die demokratische Einigung längst nicht mehr erzielt werden kann); Entwertung und Inflation (»over-newsed and under-informed«); die radikale Komplexitätsreduzierung (die Nachricht ist zwar falsch, aber jeder Depp versteht sie); die Selbstreferenz (die Botschaft der Talkshow ist der Gast, der Inhalt der Nachricht ist die Erzählung von ihrer Beschaffung); die Konzentration von immer mehr Filter- und Verteilungsmacht in immer weniger Händen; die Schaffung von politisch-ökonomischen Indifferenzzonen, in denen sich »zwanglos« die Zusammenarbeit staatlicher und privatwirtschaftlicher Interessen zu »Nachrichten« formulieren lässt; die Maskierung der Propaganda als Nachricht; die multimedialen Mehrfachverwertungen, die Nachrichten zu sequentiellen »Leitmelodien« machen; die sinnlosen Bilderschleifen und die Unfähigkeit zu schweigen; die gezielte Chaotisierung; die Entwertung (Promiklatsch, Dart-Weltmeisterschaft, Tausende Tote); die Genrehaftigkeit und Transformation von Nachrichten in »Stories«; die Vulgarisierung … Wir könnten absatzweise so weiter machen, und vieles davon wäre als Begleiterscheinung des modernen Pressewesens seit seinen Anfängen zu beschreiben.
Auch die Prinzipien der fake news sind keineswegs neu, ebenso wenig Taktiken, Falschmeldungen zu lancieren, die später durch formale Korrekturen »offiziell« zurückgenommen werden. Sie haben, fast immer sogar hegemonial, die Entwicklung der journalistischen Kultur begleitet. Offensichtlich gehörte es lange Zeit gerade zum Lesevergnügen, die Zone zwischen »echten« Nachrichten und fake news auszudehnen. Eben dieses Vergnügen – man kann es auch als subversives Spiel mit den »elitären« Geboten von Wahrheit und Wirklichkeit ansehen – hat sich offenbar nicht nur verlagert, es ist in gewisser Weise auch »ernster« geworden. Überdies ließe sich allein auf der Basis der politischen Ökonomie feststellen, dass die journalistische Kultur gar nicht mehr in der Lage wäre, ihre demokratisch-aufklärerischen Aufgaben zu erfüllen. Unglücklicherweise gehört zu den Bereichen, über die längst nicht mehr »fair« und »ehrlich« berichtet werden kann, der eigene Zustand. Zwar sind »Umbruch« und gar auch »Krise« für alle, die an der Herstellung und Verbreitung von Nachrichten und ihrer Aufarbeitung beteiligt sind, gängige Schlagwörter. So hätte man also die fake news erfinden müssen, um den beklagenswerten Zustand der demokratischen Presse als »Ideal« verkaufen zu können.
»Fake news« als Ausdruck einer neuen Form der Herrschaft
Die Basis einer demokratischen Diskursgemeinschaft (einschließlich heftiger Meinungskämpfe) ist nur in einem demokratischen Verhältnis von Freiheit und Kontrolle zu finden; umgekehrt ist aber auch eine demokratische Gesellschaft nur vorstellbar auf eben der Basis von Information und Kritik. Fake news sind dann Ausdruck einer neuen Form der Herrschaft. Es geht darum, die Lebenswirklichkeit der Adressaten zu besetzen. Das Feld der Besetzungen entsteht unter anderem durch die beiden signifikanten Öffnungen der Nachricht als Ware: auf der einen Seite die Vermischung allgemeiner, öffentlicher Nachrichten mit subjektiven, emotionalen und privaten Elementen; auf der anderen mit Elementen der zweiten großen Erzählmaschine, der Popkultur und ihren Mythen, Fiktionen und Bildern. Der Mensch in der Moderne hat zweifellos lernen müssen, in beiden Erzählungen, der rationalen diskursiven Erzählung der Politik und der subjektiven, mythischen Erzählung der Pop-Kultur, zu leben mehr schlecht als recht eine Trennung zwischen beidem zu vollziehen. Die Grenzen zwischen Entertainment und Politik wurden mithin fließend. In der digitalen Transparenzgesellschaft (in der Menschen nicht mehr allein mit Informationen »umgehen«, sondern selbst unentwegt Informationen produzieren, willentlich oder nicht) ist die Ordnung der beiden Erzählungen, Diskurs und Phantasma, weitgehend aufgelöst. Alles wurde zur Nachricht, was auch bedeuten kann: Nichts ist mehr Nachricht im Sinne einer Unterscheidung von anderen Informations- und Debattenformen. Aber natürlich wird diese Gattung Nachricht mitsamt ihrer Rückbindung an das Prinzip der äußeren Wirklichkeit ebenso aufrechterhalten wie Demokratie als Regierungsform. Beides, das System der Teilhabe durch die Nachrichten und das System der Teilhabe durch Wahl und Kontrolle, basiert auf wechselseitigem Respekt und wechselseitigem Vertrauen. In der Nachricht, wo sie nicht von Tod und Verderben berichtet, stellt sich die Frage nach Respekt und Vertrauen. Fake news sind mithin nicht nur Lügen (in einem Interesse oder aus purer Lust an kommunikativer Obstruktion), sondern auch gezielte Verweigerungen von Respekt und Vertrauen und damit Angriffe auf den Konsens der Demokratie selbst. Ein wesentlicher Bestandteil des Populismus: Das Volk (im Gegensatz zu den »anderen« und im Gegensatz zum »Establishment« – denn als Establishment lässt sich Demokratie am leichtesten attackieren) macht sich seine Nachrichten selbst. Das Ziel ist die Entstehung der »völkischen Nachricht«, deren Glaubwürdigkeit kaum noch etwas mit äußerer Wirklichkeit zu tun haben muss. »Die Presse« anzugreifen ist dabei umso einfacher, als die entstandene Mischung aus ökonomischer Erpressbarkeit, Selbstentmachtung und Korruption nur wenig Material zu ihrer Verteidigung erzeugt. Denn die »Lügenpresse« und die völkisch imaginierte Pseudonachricht greifen viel weniger eine Praxis als vielmehr eine Instanz an, die man mit dem hasserfüllten Phantasma »Establishment« belegt.
Vom demokratischen Recht auf eine eigene politische Meinung Gebrauch zu machen, wird daher als fast schon so »elitär« und borniert angesehen wie das Helene-Fischer-scheiße-finden. Dagegen wird alles bejubelt, was »Klartext redet«, »die Sache auf den Punkt bringt«, »die Sprache des Volkes spricht«, »kein Blatt vor den Mund nimmt«. In der Sprache des Volkes zu lügen ist »wahr«, während es durchaus unwahr ist, in der »Sprache der Elite« die Wahrheit zu sagen. Semantisch gesprochen geht es dabei also um eine Vertauschung von Inhalt und Form. Es ist egal, ob ein Trump oder eine AfD lügt, sich selbst widerspricht, puren Nonsens emaniert, leere Formeln absondert, denunziert oder sich über alle Regeln des Anstands hinwegsetzt, solange es »in unserer Sprache« geschieht.
Das Ende der demokratisch-kapitalistischen Nachrichtenkultur (als einer besonderen, »bürgerlichen« Form der sozialen Informationsverarbeitung) ist also weder durch die technische Entwicklung zu verstehen noch durch einen allgemeinen informationellen Sittenverfall. Dieses Ende kommt vielmehr mit dem Zerfall sowohl der Nachrichtenproduzierenden als auch der Adressaten der Nachrichten. Um sich nämlich auf dem Markt der Meinungen zu behaupten, muss die Nachricht mindestens eine ihrer grundlegenden Aufgaben der jeweils anderen opfern: Die Konstruktion eines »verbindlichen« Weltbildes (in Vielfalt und Dynamik), die Konstruktion einer Diskurs- und Erzählgemeinschaft für die kapitalistische Demokratie, die Konstruktion einer funktionierenden semantischen, sinn- und bildgebenden Industrie und die Erneuerung und Kontrolle der Gewaltenteilungen und der Garantie für Menschen- und Bürgerrechte der einzelnen sowie einer zu Kritik und Reflexion fähigen Öffentlichkeit. Nicht dass es je einfach gewesen wäre, diese vier Aufgaben in eine gewisse Balance zu bringen. Doch sind wohl die Bedingungen mittlerweile so, dass die Erfüllung einer der Aufgaben »automatisch« dazu führt, dass die anderen, »sträflich«, wie man so sagt, vernachlässigt werden müssen. Fake news sind weder ein neues Phänomen in diesem Spannungsfeld, noch Ergebnis des Niedergangs einer einst blühenden Kultur der Nachrichten als vielmehr Symptom der Entwicklung. Ziel ist die Entstehung eines einheitlichen Erzählbreis, in dem es zwischen äußerer Wirklichkeit und emotionaler Empfänglichkeit, Phantasma und Erfahrung, Pop und Politik, Werbung und Information, wirklich oder erfunden keinen Unterschied mehr gibt.
Post-truth politics wäre demnach nicht etwa eine auf Unwahrheiten basierende Politik (als hätte es vordem eine auf Wahrheiten basierende gegeben), sondern vielmehr ein Projekt zur fundamentalen Umgestaltung der Erzählung von Politik mit zwei Zielen: Die vollständige und reine Marktförmigkeit der Nachricht, und die völkische (statt bürgerliche) und nationalistische (statt demokratische) Umformung der Adressaten. Der völkische Klumpen will selbst zur wahren Nachricht werden. Diese fatale und elitäre Wahrheit (von Vernunft und Moral) mag da leicht geopfert werden; sie war ja ohnehin nicht mehr viel wert. Ob die Nachricht zuerst ihre vollständige Marktförmigkeit oder ihre vollständige Faschisierung erlebt, mag noch dahingestellt sein. In einer Welt, in der eine große Zahl erwachsener Menschen damit beschäftigt sind, in ihrer materiellen Umwelt virtuelle Monsterlein zu jagen, muss in jedem Fall der Begriff der Wirklichkeit anders gesehen werden als in der analogen Moderne. Eine Theorie der Nachricht für diese Zeit täte wahrlich not.
Georg Seeßlen
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