Lassen wir uns, für einen Augenblick, nicht den so fundamental verengten Blick auf die „Flüchtlingsfrage“ von der Rechten aufzwingen, sondern versuchen, auch wenn es schwer fällt, einen weiteren, distanzierteren Blick auf das Geschehen in Europa und anderswo zu gewinnen.
Die Flüchtlingsfrage ist für die rechtspopulistische Strategie ein idealer Ansatzpunkt zur Rekrutierung neuer Anhänger und Radikalisierung alter. Mit diesem rational nicht mehr zu fassenden Motiv kann man der Mehrheit Bilder, Erzählungen und Begriffe aufzwingen. Offensichtlich gibt es im Mainstream genügend Medien und Personen, die auf diesen Anstoß im gewünschten Sinne reagieren. Auch einstige Leuchttürme der freien bürgerlichen Presse drängeln sich nach rechts. Von Politikern zu schweigen, die auf Wählerstimmen spekulieren wie dort auf Käufer oder Anzeigenkunden spekuliert wird. Eine rechte Propagandamaschine trifft auf ihr Lieblingsmaterial, Opportunismus, Korruption und Mitläufertum. Nicht mehr und nicht weniger. Die eigentlichen Ziele des Rechtspopulismus indes gehen sehr weit über das Aufhalten der „Flüchtlingsströme“ und die Betonung nationaler „Werte“ hinaus.
Die Renationalisierung von Kultur und Politik scheint auf den ersten Blick vor allem eine Form der „Identitätspolitik“ mit einem mythischen Kern von Grenzen und Kultur. Immer wieder scheint die Authentisierungsfloskel auf: „die wahren Finnen“, die „echte“ Dänischkeit, „richtige“ Deutsche, Franzosen zuerst usw. Anti-Islamismus, die geile Erwartung der Schießbefehle an den Grenzen, der Rassismus und die völkische Umdeutung der Geschichte, das alles sind Vehikel, Trigger, Embleme. Es ist das Angebot einer anti-modernen, anti-demokratischen und anti-europäischen Erzählung.
Doch was steckt eigentlich für ein Interesse dahinter? Es ist zunächst höchst verblüffend, wie viel Milliardäre oder wenigstens Multimillionäre, wie viele Unternehmer und Vertreter eher von Kapital- als von Identitätsinteressen an den Spitzen der rechtspopulistischen Bewegungen in Europa und in den USA stehen. „Von unten“, wie zumindest ein nicht unerheblicher Teil ihrer Anhängerschaft, kommt da keiner. Die Trumps, Blochers, LePens, Kjærsgaards, sie alle sind Vertreter eines neuen Kapitals, das sich rasch und in zweifelhaftem Zusammenhang mit Krisen vermehrte; andere wie Arsenij Jazenjuk in der Ukraine sind als Vertreter der Finanzwirtschaft „in die Politik gegangen“. Frauke Petry ist eine der neuen Unternehmerinnen, während Beatrix von Storch als „Herzogin von Oldenburg“ eher alte Macht repräsentiert, als Fachanwältin für Insolvenzrecht immerhin auf der Höhe der ökonomischen Krisen ist. Die AfD war gestartet als Partei der Unternehmer und der Wirtschaftswissenschaftler; nur wenige, die um ihren Restruf besorgt sein mussten, haben die Partei nach ihrem Marsch nach rechts verlassen. Superreiche, Reiche oder zumindest Extrem-Gutverdienende, Vertreter der Finanzwirtschaft, der Oligarchen und des Feudalismus führen Menschen, die von der Angst um ihren Arbeitsplatz, ihre soziale Fürsorge, ihren Wohnraum umgetrieben werden. Was sagt uns das?
Die Führungsriegen der rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien und ihr Fußvolk haben offensichtlich noch weniger gemeinsame Erfahrungen und noch weniger gemeinsame Interessen als es bei den von ihnen angegriffenen „Altparteien“, den „Etabliertern“ der politischen Klasse der Fall ist. Ihre Gemeinsamkeit wird daher gleichsam künstlich hergestellt, in einer vulgären, medien-affinen, karnevalisierten, aggressiven Sprechweise oder in der Konstruktion gemeinsamer, vergleichsweise willkürlich definierter Feinde. Die gemeinsame Erzählung von Flut, Grenze, Verschwörung und Heilserwartung durch die Rückkehr zu Vor-Demokratie und Vor-Moderne muss so irrational sein, weil sonst der Widerspruch zwischen ökonomischen Interessen oben und Aggressionsrausch unten rasch offenkundig würde.
Schon Hannah Arendt hat in dieser brisanten Allianz von Kapital und Straße die Gewalt des Faschismus ausgemacht. Wir könnten uns das in etwa so vorstellen: Die Übersschussenergien zweier „extremer“ Klassen, der einen, die von allem zu viel hat, die zu viel Geld, zu viel Macht und nicht zuletzt zu viel Unsicherheit akkumuliert hat (denn dieses neue Kapital ist durchaus prekär und muss manchenorts nicht nur moralische, sondern auch juristische Durchleuchtung fürchten: der Rechtspopulismus unserer Tage ist auch eine Erbschaft des Berlusconismus), und der anderen, die von vielem zu wenig hat, nicht nur wirtschaftlich gesehen, sondern auch was demokratische Teilhabe, Bildung und soziale Praxis anbelangt. Und auch hier in diesem anderen Prekariat häufen sich nicht nur Erfahrungen des Scheiterns, sondern auch der Schuld. Es gibt also für diese beiden Gruppen zumindest diesbezüglich ein gemeinsames Interesse: Ein Sündenbock muss gefunden werden.
Nun mag sich die Frage erheben, was zum Teufel diese Vertreterinnen und Vertreter des neuen neoliberalen Reichtums reitet, um statt wie ihre Kollegen das Geld in St. Moritz oder beim Yachtenkauf zirkulieren zu lassen, etwas unglamouröse und dezidiert „unkultivierte“ Bewegungen zu führen, außer dass sie es können und dass Macht halt geil ist.
Die Antwort mag zunächst verblüffen: Der Rechtspopulismus in den hoch oder sogar überentwickelten Staaten des Westens ist ein Krisensymptom des Neoliberalismus. Denn die große Erzählung von der Globalisierung und Universalisierung des Kapitalismus, von einem grenzenlos wirkenden Kapital, das sich in Grenzen gehaltene Arbeitskräfte zum Dumpingpreis sucht, ist nur die eine Seite. Die andere Seite besteht in der Notwendigkeit, immer wieder Unterschiede, Konflikte, Verlierer und Spannungen zu erzeugen. Nur aus Unterschieden kann Profit erzeugt werden. Deswegen zerfallen die Impulse des Kapitals in zwei gegenläufige Richtungen, in den Impuls der Globalisierung und in den Impuls der Spaltungen. Eine Fraktion der ökonomischen Elite verfolgt Weltoffenheit, Diversity, Grenzüberschreitung, Europäisierung zum Beispiel, die andere muss auf Abgrenzungen, Teilmärkte, Nationalisierung und Enteuropäisierung setzen. Ebenso stehen sich eine Tendenz zum Volkskapitalismus, also eine Stärkung der Teilhabe möglichst breiter Bevölkerungsschichten am Wohlstand, die Bildung einer möglichst breiten Mittelschicht, Konsumförderung und politische Konsensbildung und eine Tendenz zur Verschärfung der sozialen Gegensätze, der rücksichtslosen Bereicherung, der „Deregulation“ der Ökonomie von politisch-moralischen Vorschriften gegenüber. Nur auf den ersten Blick erscheint es daher widersinnig, dass Gewinner der neoliberalen Entgrenzung zu Anführern von Bewegungen werden, die zumindest von Verlustängsten getrieben wird. Die eigentlichen Ziele der Führungsriege der neuen rechtspopulistischen Bewegungen haben mit Flüchtlingen, mit „Lügenpressen“ oder mit „Werten“ kaum etwas zu tun. Es geht in Wahrheit um die Auflösung des Konzepts der sozialen Marktwirtschaft, die Schwächung oder Abschaffung der parlamentarischen Demokratie und die Entmachtung der liberalen Zivilgesellschaft. Es sind genau genommen jene drei Kräfte, die die Entfaltung des neuen Kapitals behindert, das sich eben aus Krisen und Spannungen, aus Blasen und Zusammenbrüchen erst bilden konnte. Das Beispiel Dänemarks zeigt, wie sich innerhalb nur weniger Wahlzyklen durch das Erstarken der Rechtspopulisten ein einstiges Modell von funktionierendem Wohlfahrtsstaat, sozialem Frieden und Liberalität in ein destruktives Durcheinander verwandelt. Es gelang den Rechtspopulisten nicht nur, dass der so lange gepflegte politische Konsens für eine Verteilungsgerechtigkeit aufgekündigt wurde, sondern auch dass die Angst, die „Fremden“ könnten die Sozialsysteme missbrauchen umgeformt wurde in die allgemeine Abschaffung dieser Sozialsysteme. Auch in der Rhetorik der AfD geht es vom „Missbrauch unserer Sozialsysteme“ direkt zur „Steuerverschwendung“. Kurzum: Die rechtspopulistischen Bewegungen drücken mindestens so sehr wie die Ängste und den Hass der Verlierer im Neoliberalismus das Interesse seiner Hardline-Gewinner aus: Sie sind das militanteste Instrument der fundamentalen Privatisierung. Der Rechtspopulist will in Wahrheit genau das abschaffen, was er gegen die „Fremden“ zu verteidigen vorgibt, den funktionierenden Sozialstaat, die letzten politischen Absicherungen vor dem Verelenden weiter Kreise und den politisch-moralischen Grundkonsens, der dem anarchischen Verwertungsinteresse eines viel zu rasch konzentrierten Krisenkapitals noch Hindernisse entgegen setzen könnte.
Könnte man einem begeisterten AfD-Wähler etwa die Augen öffnen, durch den Hinweis darauf, dass er einem politischen Projekt nachläuft, das genau das erst produziert, was er zu vermeiden hofft? Das Auseinanderbrechen der Gesellschaft. Die Verschärfung der sozialen Ungerechtigkeit. Die Abschaffung der sozialen Sicherungen. Gesetzlosigkeit. Entwertung der Kultur. Die Verrohung der politischen Diskurse und die Ausbreitung von Gewalt. Den Abbau von Bildungs- und Aufstiegschancen. Von einer Lügenpresse ganz zu schweigen. Oder von einer kulturellen Offenheit, die Menschen erst in die Lage versetzen, auf dem globalisierten Arbeitsmarkt ihre Chancen zu wahren. Die Rechtspopulisten bringen ihre Anhänger auf lange Sicht auch um ihre ökonomische Zukunft. Denn in all der nationalistisch und völkisch aufgeladenen Stimmung geht ja die Globalisierung weiter: Man kann heute vielleicht ein paar Flüchtlinge verjagen, aber man wird morgen dennoch keinen Job in einem internationalen Konzern bekommen, wenn man nicht gelernt hat, mit kultureller Vielfalt umzugehen. Rechtspopulismus mag heute wie eine Droge wirken, wie ein Versprechen in gute alte Zeiten zurückkehren zu können, die es nie gegeben hat. Aber zugleich entwickelt sich diese selbsterfüllende Prophezeiung auch zu einem ernsthaften ökonomischen Problem. Rechtspopulismus hält die Modernisierung und Globalisierung nicht auf, er verringert nur die Chancen seiner Anhänger. Renationalisierung bringt in Europa den einzelnen Staaten kurzfristig vielleicht Vorteile im Wettbewerb untereinander, aber schon mittelfristig ist abzusehen, und die nüchternen Ökonomen sehen es deutlich genug, welche Folgen eine solche Fortschrittsbremse haben wird. Kurzfristig können sich Mainstream-Medien vielleicht durch einen Rechtsopportunismus gegen die authentisch rechte Presse behaupten, am Ende werden sie sich noch schneller überflüssig gemacht haben. Rechtspopulistische Parteien und „Führer“ können Macht akkumulieren, um den Preis, dass sie ihre Städte, ihre Regionen, ihre Staaten von der Entwicklung abschneiden. Es sind nicht Flüchtlinge, es sind Rechtspopulisten, die ihre Länder den Verhältnissen der Regionen ähnlich machen, aus denen diese kamen. Das Chaos, vor dem sie warnen und gegen das sie sich als Heilmittel andienen, richten sie selber an. Der Rechtspopulismus scheint den Verlierern eine Stimme zu geben. In Wirklichkeit beraubt er sie um die Chancen für morgen.
Georg Seeßlen
Foto © R. Sage
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26. März 2016 um 11:15 Uhr
Wenn doch nur die sogenannten einfachen Leute, die die AfD (und andere rechte Parteien) wählen, diesen Essay lesen würden und ihn nicht nur lesen, sondern auch verstehen würden!