Die Killerin
Mir spukt eine unsinnige alte deutsche Filmklamotte im Kopf herum. Da steht in einem verrauchten bayerischen Wirtshaus ein heimatlich gekleideter Mann auf und spricht zu den Bewohnern seines Dorfes in einer Mischung aus Häme und Verzweiflung: „Wir brauchen keine Fremden nicht. Wir sind uns selber schon zu viel.“
Der Satz klingt abgründiger, als er gemeint war. Und doch scheint er mir die aktuelle Situation perfekt zu beschreiben: Europa kann sich selbst kaum noch ertragen. Und dann kommen auch noch die Flüchtlinge.
Bis vor einigen Jahrzehnten konnte man die Geschichte Europas als die eines schneckenhaften Fortschritts in Richtung Demokratie und Humanismus schreiben. Zwar hat es nie an Mahnungen gefehlt, da entstehe nicht das Europa der Millionen, sondern das der Millionäre, aber wer wollte es denn so düster sehen.
Auch die Brüsseler Bürokratie mit einem „Normierungswahn“ konnte als Begleiterscheinung eines langsamen Zusammenwachsens akzeptiert werden. Denn so viel war und ist klar: Die Zeit der Nationalstaaten läuft ab; wenn etwas hilft, dann nur eine neue, transnationale Form der Demokratie. Eine, die Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bringt. Ein Projekt, für das es sich zu engagieren lohnt.
Neoliberales Kuddelmuddel
Entstanden ist genau das Gegenteil. Ein postdemokratisches, neoliberales Kuddelmuddel nationaler und oligopolistischer Interessen, ein Experimentierfeld für neue Regierungs- und Verwaltungsformen jenseits demokratischer Legitimierung; gegenseitige ökonomische Erpressung bis an den Rand von Wirtschafts- und Bürgerkrieg; Lobbyismus und Verschmelzung von Politik und Wirtschaft in groteskem Ausmaß; eine Politik, in der Banken wichtiger sind als Menschen; eine Regierungsform, die über das Schicksal der Gesellschaften in Geheimverhandlungen zum TTIP bestimmt, jenseits der Parlamente, jenseits der Öffentlichkeit: Ein Europa, das als Eurozone auf den Hund gekommen ist.
Das, was man jetzt, unmenschlich genug, als „Flüchtlingsstrom“, „neue Völkerwanderung“ oder „Flüchtlingskrise“ bezeichnet, macht vielleicht auch jenen klar, die die Hoffnung auf das Projekt Europa nicht aufgeben wollten, dass es mehr als gescheitert ist: Europa hat sich nicht als kultureller und politischer Fortschritt, sondern als barbarischer, korrupter und amoralischer Rückfall realisiert.
Dieses Scheitern hat jetzt Bilder: Ertrunkene Flüchtlinge, Polizeigewalt, Lager, brennende Unterkünfte, grölende Faschisten, furchtbarer Politikerjargon. Es gibt Menschen, die helfen, und es gibt Institutionen, die das tun, keine Frage. Aber sie können es weder praktisch noch moralisch im Namen Europas tun.
Am Leitfaden der Macht
Wie rasch konnte Europa seine exekutiven Mittel aktivieren, als es um die Rettung von Banken ging, und wie blockiert und verschleppt es nun, wo es um Menschenleben geht. Zur gleichen Zeit, da Flüchtlinge im Meer und auf den Gleisen sterben, weil man sich über ihren Verbleib nicht einigen kann und weil man verbrecherische Regimes nicht zu humanitären Mindeststandards verpflichten kann, tritt eine neue Verordnung aus Brüssel in Kraft, die zum Beispiel Rettungshubschraubern die Landung versagt, weil nur noch viereckige, aber keine runden Landeplätze gestattet sind.
Über die Krümmung von Gurken konnte man noch lachen. Aber hier zeigt sich, dass nicht am Leitfaden der Menschen, sondern am Leitfaden der Macht entwickelt wird.
Wäre Europa, was es einmal zu werden versprach, dann wäre die Aufnahme der Flüchtlinge, ihre Versorgung, ihre Integration in Arbeit und Kultur kein Problem, sondern eine jener Aufgaben, an denen man wachsen und reifen kann: Es hätte hier eine neue, humanistische Gesellschaft entstehen können; Europa als Idee einer neuen Gemeinschaft freier Menschen. Nichts Perfektes, nichts Konfliktfreies, nichts Idyllisches. Nur etwas, das wirklich hat, wovon die leere Rede ist: Werte. Dieses Europa wäre keine Frage von Herkunft, Hautfarbe oder Religion, keine Frage der Historie(n), sondern einer gemeinsamen Zukunft.
Galoppierende Entdemokratisierung
Nun wird sichtbar, wie dünn die Haut über der Verbindung von neoliberaler Rücksichtslosigkeit und einem rechtspopulistischen, halbfaschistischen Untergrund ist. Und welch erbärmliche Rolle spielt Deutschland in diesem Europa! Man zwingt mit wirklich allen Mitteln eine linke griechische Regierung nieder, die es wagt, sich gegen Neoliberalisierung und Austerität zu stellen, und lässt ein autoritäres und rassistisches Regime wie das ungarische gewähren. Eine Kanzlerin, die offen ausspricht, dass es nicht um Europa, sondern um den Euro geht. Die galoppierende Entdemokratisierung Europas, um die eigene Demokratiesimulation zu schützen.
Ich möchte diesem Europa nicht angehören, aber natürlich noch weniger jenen „Euro-Skeptikern“, die am liebsten zu altem Nationalismus, einschließlich der alten Grenzen, zurückkehren würden. Also – wohin?
Menschen, deren Lebenswelt nicht ohne Zutun Europas in eine Hölle verwandelt wurde, suchen Zuflucht in diesem Europa und finden Politiker vor, die Begriffe wie Abschiebung, Rückführung und Abschreckung im Munde führen, von „Abschiebelagern“ reden, ohne vor Scham in den Boden zu versinken, und Souveränität simulieren, indem sie Flüchtlinge wie lästige Kostgänger behandeln, ihnen Arbeit, Bildung, Selbstbestimmung rauben. Eine Hölle namens Europa.
Europa neu denken
Die europäischen Nationalstaaten machen nicht nur Politik für oder vor allem gegen Flüchtlinge, sondern sie machen sogar Politik mit Flüchtlingen. Macht- und Wirtschaftspolitik mit hilfsbedürftigen, recht- und machtlosen Menschen zu treiben, ist das Ende jeder humanistischen und demokratischen Gesellschaft. So etwas hatten wir nur den großen Menschheitsverbrechern zugetraut; so etwas ist heute europäischer Standard.
Ich weiß nicht, ob dieses Europa noch zu retten ist. Nur weil man „links“ ist, ist man nicht unbedingt zum Optimismus verpflichtet. Die Ereignisse der letzten Wochen haben die einen oder anderen Augen geöffnet. Den Flüchtlingen zu helfen ist erste Bürgerpflicht. Die zweite ist es, Europa neu zu denken. Von Grund auf.
Georg Seeßlen taz 09-09-15
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