Auf die Frage „Was ist deutsch?“ gibt es keine vernünftige Antwort. Nur Stürme von Erinnerungen, Emotionen und Narrativen.

My anti-deutshness gives me fever, these days. Merkwürdigerweise scheint allein das Wort „anti-deutsch“ bis weit in die „linke Mitte“ hinein, vom neuen deutschen Spießertum ganz zu schweigen, einen bedingten Reflex auszulösen. Als wäre anti-deutsch sozusagen eine Art erzdogmatische Inversion von „antisemitisch“ oder eine irgendwie rassistisch aufgeladene Form der alten linken Anti-Haltungen von antikapitalistisch bis antimilitaristisch. Als wäre „anti-deutsch“ eine Spätform des sattsam bekannten Selbsthasses einer „verspäteten Nation“ und damit natürlich wieder, nun eben: typisch deutsch. Und als ginge es da zumindest gleich viel zu weit mit alledem: der schlechten Laune im Exportweltmeisterland, dem moralischen Geraune gegen den fröhlichen Pop-Nationalismus, der Skepsis gegenüber den Inszenierungen der „guten Deutschen“ gegen die Gespenster aus dem „Dunkeldeutschland“, dem endlosen kritischen Sermon um Faschismus und Krieg und natürlich der eindeutigen Haltung zu Israel. Als wäre „anti-deutsch“ eher eine gefährliche Gemütskrankheit denn eine Ausgangshaltung des politischen Diskurses. Um wenigstens das einmal aus der Welt zu schaffen eine Erinnerung an den anti-deutschen Schlüsselsatz von Karl Marx: „Krieg den deutschen Zuständen! Allerdings!“

Es geht um „Zustände“ in Deutschland

Zustände, meine Lieben! Es geht weder um ein „Volk“, noch um ein „Land“, nicht einmal um eine Nation. Es geht auch nicht um einen Zustand deutsch. Es geht um „Zustände“ in Deutschland. Anti-deutsch wäre also mit Karl Marx gesprochen (man wird hier doch noch mit Karl Marx sprechen dürfen, oder?) eine fundamental kritische Haltung gegenüber sehr genau zu benennenden Zuständen. Und Kritik bedeutet, mit Michel Foucault gesprochen (man wird hier doch noch mit Foucault sprechen dürfen, oder?) einen symbolischen Verweigerungsakt gegen „Regierung“. Einschließlich einer herrschenden Meinung, einschließlich eines hegemonialen Dispositivs, einschließlich eines seiner selbst ungewahren Mainstreams der Bilder, Begriffe und Erzählungen.

Natürlich gibt es den Diskurs-Bruch zwischen den „Anti-Deutschen“ und anderen Fraktionen der Linken, der aus der Geschichte der verbliebenen Opposition im wiedervereinigten Deutschland zu verstehen ist. Er beginnt schon damit, dass dieser Akt des Nationenbauens mit seinen Diskurswechseln in der Außen- und nicht zuletzt der Militärpolitik selber als Bruchstelle gesehen wird oder nicht. So mag es bereits ein „anti-deutscher“ Reflex sein, wenn ein fundamentaler Unterschied zwischen der Bonner und der Berliner Republik gesehen wird. Es geht weiter damit, wie die Rolle Deutschlands im nicht-werden-wollenden Europa gesehen wird. Es hat damit zu tun, wie viel an nationalen Sommermärchen und Feelgood-Movies man ertragen will, wie viel „Versöhnung“ mit der Geschichte, wie viel Deutsch- und Heimattümelei, wie skeptisch man gegenüber dem „gesunden Nationalismus“ ist, der uns selbst noch von der Old School-Linken verordnet und verheißen wird.

Der Knackpunkt aber dann war in aller Regel die Haltung zu Israel; hier die Forderung nach der Aufarbeitung eines linken Antisemitismus, dort die Unterstellung, man gebe aus purem „Philosemitismus“ Grundsätze der Linken wie die Kritik am Wirtschaftsimperialismus der USA auf. Es stecken dadrin, gewiss, schwerwiegende moralische und politische Konflikte, es gibt sie, die Unvereinbarkeiten. Und es gibt die Unfähigkeit, auch Dilemma und Widerspruch als Diskurs-Anteil zu akzeptieren. Ist es gleich wieder sehr anti-deutsch, wenn man Rechthaberei, Dogmatismus und Unduldsamkeit als nun ja, doch irgendwie, also, hmmm? Als wäre Solidarität mit Menschen und Solidarität mit Menschlichkeit nicht politischer Grundsatz genug.

Bei der Bundeszentrale für politische Bildung erfährt man folgendes zum Thema[1]: „Mit der deutschen Einheit erschien 1990 eine neue Strömung im linksextremen Spektrum. Die „Antideutschen“ und „Antinationalen“ haben sich längst als feste Größen in der linksextremen Ideenwelt etabliert. Ihre Herausbildung aus der klassisch „antiimperialistisch“ ausgerichteten extremen Linken ist durchaus bemerkenswert.“ Bemerkenswert scheint immerhin, wie oft man das Wort „extrem“ in drei extrem schlichten Sätzen unterbringen kann, und wie locker man eine Zuschreibung wie „anti-deutsch“, in eine politische Außenwelt projizieren kann.

Ich persönlich, wenn ich das einmal einflechten darf, habe mich meiner Lebtag nicht als „anti-deutsch“ ausgegeben. Da mir das Etikett aber von allen Seiten, sogar aus dieser Zeitung heraus, angehaftet wird, manchmal, wie in „Bahamas“ mit Zusätzen wie „Haus- und Hof-Kulturwissenschaftler der Linken“ (was so bescheuert ist, dass es mir nicht einmal schmeichelt), versuche ich es mir nun eben recht und schlecht selbst zu deuten.

Wie „anti-deutsh“ ist es, was mich so umtreibt?

Fever in the morning, fever when I touch the deutshness. „Zustände“ ergeben sich aus Geschichte, aus politischen Ökonomien, aus Machtverhältnissen, aus Diskursen und aus Dispositionen. Die ersten vier Elemente der „Deutschheit“ der Zustände, in denen man hierzulande lebt, sind vergleichsweise einfach in theoretischen und wissenschaftlichen Erörterungen zu klären. Was unter anderem heißen mag: Man kann sich streiten, einander zu widerlegen versuchen, These gegen These, Beweisführungen und Belege einander gegenüberstellen. Und Unterstellungen, willkürliche rhetorische Verdrehungen und persönliche Anwürfe tunlichst unterlassen. Wie man das eben so machen sollte, als aufgeklärter linker Mensch, nicht wahr?

Die Kritik an deutschen Zuständen gilt also:

– einem doppelten Missgriff im Umgang mit der Geschichte, nämlich einerseits ihrer Verleugnung, der Blindheit gegenüber Kontinuität und dem falschen Verständnis für einen Überdruss an Aufarbeitung und Erinnerung, und andererseits an ihrer Umdeutung, in der die Verbrechen, die im Namen einer Nation begangen wurden, zu einer nationalen Tragödie verzerrt werden und eine neue Opfermythologie entsteht.

– einer neomerkantilistischen Außenpolitik, mit der deutsche Regierungen und ihre politischen Klassen auf unheilvolle Weise und mit einem gelegentlich erstaunlichen Maß an Skrupellosigkeit in die Organisation der Welt als fundamentalistisch neoliberales Marktgeschehen eingreift, und sich dabei durchaus nationaler Rhetorik bedient, um diese Politik zu begründen.

– einer Postdemokratie, die sich gern „nationaler Interessen“ bedient, wenn es darum geht, weitere Bauelemente der Demokratie und des Rechtsstaates, sagen wir einmal: aufzuweichen, die Sozialabbau und Opferung von Bürgerrechten durch einen Nationalismus light (und selten ohne den Hinweis auf die anderen, die doch auch …) legitimiert, und

– eines Diskurses, der die Verteidigung einer nationalen Minimaldemokratie über die Arbeit an einer transnationalen Demokratie, die diesen Namen verdient, stellt, und der nicht lassen mag von einer Konstruktion der „Identität“ durch die Nation.

Ist das jetzt anti-deutsch oder einfach kritisch-demokratisch? Und ist einfach schon anti-deutsch, wer es mit der Kritik an den „deutschen Zuständen“ übertreibt? Kehren wir noch einmal zur BPB und ihrer Aufklärung über den, natürlich, extremeren Flügel der Anti-Deutschen zurück: „Er geht davon aus, dass Nationen generell künstliche Konstrukte seien, mit deren Hilfe Staaten das Funktionieren eines kapitalistischen Verwertungszusammenhangs sicherstellten. Notwendigerweise führe ein als „Nation“ definiertes Kollektiv zur Ausgrenzung „Anderer“ und damit auch zur Fortschreibung des Antisemitismus. Die Abschaffung aller Nationen und Staaten könne demnach auch nicht vor Israel Halt machen. Solche an anarchistische und kommunistische Utopien anknüpfenden Vorstellungen lehnen mithin auch Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ab; ihre revolutionäre Rhetorik ist zumeist an anarchistische Modelle angelehnt.“ Bis auf die letzte Volts würden das vermutlich eine Menge, keineswegs dem Extremismus verdächtige, HistorikerInnen, Soziologinnen und JuristInnen unterschreiben: Nationen hat es nicht immer gegeben, es wird sie vermutlich auch nicht immer geben, und sie haben sich weniger aus der Macht des Schicksals und einem Kollektiv der Seelenverwandtschaft, als aus dem Zusammenwirken von wirtschaftlicher, politischer und militärischer Macht gebildet. Ihre „identitäre“ Funktion scheint gegenüber der meta-nationalen Macht des Kapitals, da muss man nun wirklich nicht „extrem“ sein, der Konstruktion einer nützlichen Idiotie verdächtig angenähert. Und damit sind wir am wirklich wunden Punkt. Die Nation als Identitäts-Tabu. Anti-deutsch – Israel, Kapitalismus und Faschismustheorien hin oder her – erscheint als Kränkung einer Welt- und Subjektkonstruktion. Wenn ich nicht deutsch bin, so oder so, was bin ich dann? Darf ich denn ein bisschen Deutschheit nicht mehr umarmen, diese Wärme, dieses Verständnis?

Dieser Gedanke muss offensichtlich ausgeschlossen werden. Selbst wenn sich der anti-deutsche Gedanke aus lauter vernünftigen Überlegungen zusammensetzen sollte, was er natürlich nicht tut, bewahre!, ist er unvernünftig, weil er als Identitätsräuber auftritt. Als würde erst der anti-deutsche Gedanke die hässlichen deutschen Zustände erzeugen. So bekommen wir es also schriftlich von der Bundeszentrale für Politische Bildung: Anti-deutsch ist gleich anti-rechtsstaatlich und anti-demokratisch.

Warum muss etwas überhaupt deutsch sein?

That’s why my anti-deutshness gives me fever, really. My anti-deutshness pulls the trigger. Und man beginnt zu verstehen, warum „anti-deutsch“ zu einem solchen, nun ja, Kampfbegriff werden konnte. So wie wir von der Bundeszentrale für politische Bildung erfahren, dass „anti-deutsch“ zum Ausschluss aus dem demokratischen Diskurs führen kann, so haben offensichtlich die „moderaten“ Linken einen guten Grund, das „anti-deutsche“ zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Es scheint nämlich einen point of no return zu markieren. Ein Nicht-Dazugehören und Nicht-Mitmachen, das eine spätere gnädige Wiederaufnahme im Mainstream unmöglich macht. Ein Diskurs, der selber seine Nicht-Anschlussfähigkeiten bearbeitet. Die Drohung, auch aus der politischen Ökonomie des Kulturbetriebes ausgeschlossen zu werden, der noch großteils im nationalen Rahmen läuft.

Aber über all das könnten wir ja noch reden, und sei’s in Form von Leitartikeln und Seminararbeiten. Wirklich schwierig wird die Sache erst bei den Dispositiven und den Disposition des Deutschseins. Denn hier geht es um Stimmungen, um Gefühle, um Geschmack, um mehr oder weniger kollektive Neigungen und um Bereitschaften, gewisse Dinge zu tun oder nicht. Nicht, dass man nicht auch den Dispositiven wissenschaftlich und theoretisch zu Leibe rücken könnte. (Und sogar bei Deutschlandfähnchen und Nationalevents lohnt es sich manchmal, den Spuren des Geldes zu folgen.) Freilich gibt es kaum einen gesicherten Punkt, keine eindeutigen Formeln, keine „objektive“ Perspektive; man steckt immer mitten drin, man ist immer Teil davon. Zwei (da wir schon dabei sind:) extreme Theoreme zum Dispositiv des Deutschseins haben sich jedenfalls als ziemlich blödsinnig herausgestellt. Das eine ist das Theorem vom guten Volk als Opfer einer hyperorganisierten bösen Gehirnwäsche. Als würde den Deutschen das Unleidige ihres Deutschseins nur durch die Bild-Zeitung, die Rechtspopulisten und die TV-Heimatschnulzen verpasst. Das andere ist das Theorem von „Mentalität“, deren extremste Ausformung etwa lauten könnte: Für die Deutschen ist der Faschismus der Normalzustand, alles andere wird ihnen von außen aufgedrängt. Das ist natürlich beides Quatsch. Aber wo liegt die Wahrheit über Deutschland? Etwa in der Mitte? Ist Deutschheit eine Frage von Angebot und Nachfrage?

Deconstructing deutshness. Was wäre das Gegenteil von anti-deutsch? Etwa pro-deutsch oder einfach nur deutsch mit dickem Punkt dahinter? Oder deutsch mit einem Seufzer, ach ja, ist nun mal Identität und Schicksal. Aber auf die Frage: Was ist deutsch? gibt es keine vernünftige Antwort. Nur Stürme von Erinnerungen, Emotionen, Narrativen, Bildern und Dispositionen. Deutschheit ist eine mythische Konstruktion, und zwar, zugegeben, eine ziemlich komplizierte Konstruktion. Aber alles, was konstruiert ist, kann auch dekonstruiert werden.

Deutsch-sein verbindet Identität mit Fremdbestimmung. Das klärt, welch ein extremer Gedanke, die Bereitschaft zur Gewalt gegen das Nicht-Deutsche. Die deutsche Identität rechtfertigt die Gewalt gegen das, was sie in Frage stellt. Es ist nur verblüffend, wie weit, in Abstufungen natürlich, diese Konstruktion nach links gehen kann, wie weit zu jenen, die sich gerade noch so viel auf ihren Humanismus und ihre Toleranz eingebildet haben. Die Frage ist daher brandgefährlich, weil sie sich stets umzudrehen droht: Warum muss etwas überhaupt deutsch sein? Ist etwas, das deutsch ist, etwa besser, nützlicher, glücklicher oder vernünftiger? Bleibt, wenn ich diesem oder jenem die Maske der Deutschheit abnehme, etwa nichts als eine Leere? Oder die nackte Gewalt?

Ich weiß immer noch nicht, ob ich nun eigentlich anti-deutsch bin oder nicht. Träume aber von einer Welt, in der diese Frage so wichtig wäre wie die, ob man Gurkensalat mag oder nicht.

Georg Seeßlen

taz 28-10-2015

[1] „Antiimperialistische“ und „antideutsche“ Strömungen im deutschen Linksextremismus. http://www.bpb.de/politik/extremismus/linksextremismus/33626/antideutsche-und-antiimperialisten

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