Eine Melancholie, die sich als Vernunft tarnt, oder: Das Eichhörnchen denkt mit
Spirou, mein Freund, besonders glücklich habe ich dich selten gesehen. Eher vermutete ich in dir einen, der sich in totgesagten Parks herumtreibt. Nicht, dass du keinen Spaß gehabt hättest, es war ja immer was los. Mit besonderem Vergnügen denke ich daran zurück, wie ihr auf einer Zollstation einen Amoklauf mit Amtsstempeln durchgespielt und neben allen Papieren, die herumlagen, auch die Gesichter und Glatzen der Zollbeamten abgestempelt habt. Immer wieder mal gelang es dir, eherne Denkmäler erweichen zu lassen, in Rummelsdorf wie in Moskau, große Reden zu unterbrechen und militärische und ökonomische Ordnungen zu stören. Nach unserer Auffassung warst du »links«, wenn auch von jener individuellen, angetrunken poetischen, linksrheinischen Art, für die uns das Talent fehlt (und es mag zu deinem Unglück gehören, dass anstatt deiner die Linke einen mehr oder minder komischen Erzreaktionär namens Asterix adoptierte – das hätte uns zu denken geben sollen: An ihren Comics sollt Ihr sie erkennen!).
Von Zeit zu Zeit also überkam dich diese anarchistische Lust, aber dann kehrte die Melancholie zurück, die sich als Vernünftigkeit tarnt. Amüsieren kannst du dich ab und an immer noch, in der Sonne liegen, Cocktails schlürfen, dem Marsupilami oder deinem Eichhörnchen Pips zuschauen, den Arm lässig aus dem Fenster des Sportwagens deines Freundes Fantasio strecken, das hast du alles drauf wie niemand sonst. Man könnte meinen, du seiest scheißcool. Aber in einer Gesellschaft aus puren Manikern – keiner deiner Freunde, ob alt oder jung, Mensch oder Tier, hat eine Balance gefunden zwischen dem Begehren und der Realität: Entweder sind sie verrückt oder egoistisch (und die Bösen im Spirouversum sind beides gleichzeitig) – in dieser Gesellschaft der Besessenen und Phobiker bist du der Verlorene. Du bekommst das wahre Leben, eine bürgerliche Biografie, komplett mit Kindheit, Jugend, Erwachsenwerden und Aufgaben-Erledigen, nicht in den Griff (die anderen wüssten nicht einmal, was das ist).
Natürlich: Glückliche Helden gibt es sowieso wenige. Aber Spirou ist schon ein besonderer Fall. Das hat, wie meistens, zwei Gründe. Einen im Ich und einen in der Welt. Die Welt, das ist zum Beispiel die Zeit. Als Spirou geboren wurde, war Krieg. Aber dort, wo er arbeitet, als Hotelpage oder »Pikkolo«, soll davon nicht die Rede sein. Robert Velter, der Erfinder von Spirou, war übrigens früher selbst einmal Hotelpage gewesen. Als er 1938 mit der Serie begann, erzählte er von den Ereignissen im »Moustic«, dem Hotel Mücke, in ein-seitigen Gag-Strips. Sie hatten damit zu tun, dass ein Hotelpage die größten Verrücktheiten erleben muss, ohne dass er direkt darauf reagieren kann. Also entwickelt er Methoden der heimlichen Eingriffe in die seltsame Erwachsenen- und Geldwelt. Aber schon bald begann Velter, seinen Helden auf abenteuerliche Reisen zu schicken, seit 1939 zusammen mit dem Eichhörnchen Spip (Pips). In diesem Jahr 1939 wurde der Zeichner zum Kriegsdienst eingezogen, und für ein paar Monate führte seine Ehefrau unter dem Autorennamen »Davine« die Reihe fort. 1943 beendete Velter seine Arbeit an Spirou. Es war Krieg, wie gesagt.
Die Deutschen hatten Belgien und Frankreich besetzt. Sie waren böse und terroristisch, auch in Paris machten sie Jagd auf Juden. Von alledem durftest du nichts wissen; im Hotel Moustic wie in deinem Verlagshaus gehörte es zum guten Ton, so zu tun, als ginge alles weiter wie gewohnt. Wir müssten auf die Schatten in deinen Strips achten, auf das Unheimliche der Dinge, um den historischen Hintergrund zu erahnen. Für einen wie Spirou blieben nur Traum und Flucht.
Die Inaugurationsgeschichte dafür ist das mit Rob-Vels 28. Folge beginnende Abenteuer »Spirou et l’héritage de Bill Money«. Da lernt der Page Spirou im Hotel Moustic den Millionenerben Billy Money kennen, der verhindern muss, dass das Familienvermögen in die Hände seines schurkischen Vetters Jim Rascal fällt. Um das zu schaffen, begeben sich die beiden auf eine Weltreise (und Spirou hat das Hotel endlich verlassen, das auch eine Falle war). Es musste der große Traum der Kids gewesen sein, zu dieser Zeit, von einem amerikanischen Millionär in die weite Welt entführt zu werden, was für einen Preis der kleine Felix Krull dafür auch bezahlen musste. Es folgen die üblichen Superschurken, darunter Sosthène Sill (der Schweigeterror), der in seiner Folterkammer ein Eichhörnchen in einem Laufrad benutzt. Nachdem Spirou es befreit hat, wird es zu seinem Begleiter. (Da »Spirou« zugleich ein walonischer Begriff für »Eichhörnchen« und im übertragenden Sinne für Lausbub ist, hat er in Pips also gewissermaßen sein Totem-Tier gefunden.) Pips sagt in seiner misstrauischen und sarkastischen Misanthropie ebenso viel über den jugendlichen Helden aus, wie das Marsupilami mit seinem hemmungslosen Hedonismus über das Duo Spirou und Fantasio aussagen wird.
Zwischen 1943 und 1946 führte der belgische Comic-Autor Joseph Gillain (Jijé) die Reihe weiter und gab ihr die Gestalt, die wir kennen. Indem er Spirou einen Partner namens Fantasio an die Seite gab, erweiterte er die narrativen und die Flucht-Möglichkeiten enorm. Es ging nun um zwei ewige Jugendliche auf der Suche nach Abenteuern. Spirou kam nur nicht aus seiner Pagen-Uniform heraus. Seit der Episode »Spirou et l’aventure« sind er und der »vieux frère« unzertrennlich, und in »La Jeep« ist Fantasio zum ersten mal als Reporter des Magazins unterwegs, das Spirous Namen trägt. Nachkrieg und Unfrieden sehen die beiden ruhelos; so wie in den frühen Spirou-Abenteuern die deutsche Besatzung, so spukt nun Rüstungstechnologie und neue Angst im Kalten Krieg in den Abenteuern (nebst einer etwas widersprüchlichen Faszination für amerikanischen Pop).
Gerade deswegen aber wuchs auch die Lust an steter Heimkehr. Zu einem eigenen Erzähl-Kosmos wurde die Serie erst, als sie von dem Neuling André Franquin übernommen wurde. Bei Jijé war Fantasio noch ein komischer Sidekick, nun wurde er zu dem rasenden Reporter, den Spirou auf seinen Unternehmungen begleitete. Und nach und nach entstanden die Nebenfiguren, solche wie der genial-vertrottelte Graf Champignac (Pacôme Hégésippe Adelard Ladislaus de Champignac, um genau zu sein), oder als Gegenspieler der fiese Zurglob (Zyklotrop), aber auch Typen aus »Rummelsdorf«, zum Beispiel der eitle Bürgermeister Gustave Labarbe mit der Vorliebe für pathetisch-hohle Reden oder der ewige Trunkenbold, der seine ordungspolitischen Maßnahmen durchkreuzt, sowie die Konkurrentin Seccotine (Stefanie), die gelegentlich sarkastisch die Männerfreundschaft aufmischt. Und schließlich, der Geniestreich der Serie: das Marsupilami, das auf einer Expedition in Palumbien gefunden wird.
André Franquin konnte seine Kreativität auch deswegen entfalten, weil er sich mit anderen Talenten verstärkte. Michel Regnier alias Greg, arbeitete bei den Szenarios mit, Jean de Mesmaeker (Jidéhim) zeichnete die liebevollen Hintergründe. Das machte eine neue Vielschichtigkeit aus: In »Spirou« gab es neben den großen Syntagmen der Comic-Erzählung immer einen paradigmatischen Reichtum, oder einfacher gesagt: Es war nicht nur immer was los, es gab auch immer was zu entdecken. (Und genau zwischen beidem, mein Freund, verbirgt sich deine Melancholie.) Eine Serie wie »Spirou« lebt von der Verbindung zwischen fantastischen Abenteuern und grotesk-gemütlichen Alltagsszenen. Wo Regression ist, soll Phantasie werden. Und umgekehrt. Jetzt wohnen die beiden Helden auch in Paris, sie ziehen von einer Mietwohnung in ein Haus im Grünen, Spirou und Fantasio gehören offensichtlich dem progressiven Flügel des französischen Bürgertums an, sie machen jede Mode, jede technologische Umwälzung mit, sie wissen, was in der Welt los ist, sind Weltbürger und Franzosen zugleich, und dazu gehört die regelmäßige kleine Suche nach der verlorenen Zeit: Sie fahren aufs Land, so oft als möglich nach Rummelsdorf. Dort fällt das modernistische und urbane von ihnen ab, und sie sind wieder Kinder im Herzen. Der Geschmack gewisser Pilze führt sie zurück.
Franquin machte aus jeder einzelnen seiner Figuren eine grandiose Miniatur der bürgerlichen Groteske, vieles davon, was auf den ersten Blick so heiter erschien, war tiefschwarz. Nur zu Spirou selber fiel ihm nichts ein, konnte ihm nichts einfallen: »Seine Persönlichkeit war stets ein Problem für mich, und ich habe mir nie klargemacht, dass ein Held wie er gar keine Persönlichkeit besitzt. Er hat keine Persönlichkeit, weil er da anstelle des Lesers ist. Deshalb muss er ›leer‹ sein. Das konnte ich nie akzeptieren, und ich habe mir darüber die ganze Zeit den Kopf zerbrochen, wie ich Spirou, in Ermangelung seiner Art zu sein, eine Art des Tuns geben kann… Das ist mir nie gelungen. Er war immer diese kleine Marionettenfigur, mehr oder weniger aktiv, aber ohne Persönlichkeit.« So erzählte er es seinem Biographen Numa Sadoul.
Das ist so ein Fall: Der Autor leidet an seiner Figur, und die Figur leidet unter ihrem Autor. Aber das Schlimmste musste kommen, als die beiden getrennt wurden. Spirou, mein Freund, du bist der einzige Held, der so sehr an seiner Leere leidet, dass man ihn unendlich dekonstruieren muss, auf der Suche nach seiner verlorenen Seele, nach seiner verlorenen Geschichte: Alles, was du als kleiner Page im Hotel Moustic verdrängen musstest, was an Terror, Verführung und Korruption dein jugendliches Herz überforderte, das kehrte in grotesker Form zurück: der Krieg, die Diktatur, die Kollaboration, schwarze Pädagogik, schwarze Sexualität. Tintin, dem Helden von Hergés »Les aventures de Tintin« (auf Deutsch: »Tim und Struppi«), konnte es gelingen, den Mangel des Seins in den Reichtum des Tuns zu überführen (er hatte kein Problem mit den Faschisten), dir hingegen konnte das aus verschiedenen Gründen nicht gelingen. Unter anderem, weil du, anders als Tintin, nicht Eigentum eines Zeichners, sondern Eigentum eines Verlages bist. Und der will Geld mit dir verdienen. Und wenn man nicht mit deinem Mythos oder deinen Abenteuern Geld verdienen kann, dann mit der Zerstörung, und wenn ein Team nicht schnell genug arbeitet, dann setzt man ihm Konkurrenten entgegen. Seien wir ehrlich: »Spirou« ist jener Klassiker der frankobelgischen Comics, der am meisten kreative Talente kaputt und unglücklich gemacht hat. Franquin selber freilich hatte das Unglück in sich.
Das Schlimmste aber, was er seinem Helden antun konnte, war, dass er die Rechte am Marsupilami mitnahm. Das Allestier, die polymorphe Vision des Genusses, die Freiheit des absoluten Subjekts, die einzig denkbare Verkörperung der ewigen Kindheit. Das Spirouversum geriet mit seinem Verschwinden unwiderruflich aus dem Gleichgewicht (während im übrigen auch die Abenteuer des Marsupilamis ohne Spirou eher mechanisch gerieten; dialektische Einheiten kann man eben nicht einfach auseinander dividieren). Immer wieder wurde versucht, die entstandene Lücke zu schließen, und immer wurde nur umso deutlicher, dass Spirou mit diesem göttlichen Tier einen wichtigen Teil seiner Seele verloren hatte. Franquin, das ist die freundlichere Version der Geschichte, war zu sehr in seine neue Schöpfung Gaston verliebt, um sich Spirou weiter zu widmen. (Gaston, der von allem, was Spirou fehlt, so überreichlich hat und in »Spirou« nur einige sporadische Auftritte hatte, bevor er Ende 1957 seine eigene Serie bekam, ist – als der aktivste Nachfolger von Bartleby, dem Schreiber – natürlich eine eigene Geschichte wert.)
Zwischen 1969 und 1979 führte Jean-Claude Fournier die Serie routiniert weiter. Auch er fügte weitere Figuren ein, wie den japanischen Magier Itoh Kata. Nach neun Alben überwarf er sich mit dem Verlag Dupuis, der schnellere Folgen und mehr Alben erwartete. Es war eine Dekade der Nettigkeit im Spirouversum, mein Freund Spirou schien sich in der überschaubaren Welt mit seiner Leere arrangiert zu haben, die freilich dem Cash-Cow-Denken des Verlags zum Opfer fiel. Das Spirouversum in den siebziger Jahren war ein geschlossenes System mit etlichen harmlosen, satirischen Fühlern in die Welt. Niemand machte sich hier Gedanken über die Beziehung von Fantasio und Spirou, die von Seccotine nie wirklich gestört werden konnte, die anarchistischen Impulse waren auf die Bearbeitung kleiner Wahnsysteme beschränkt. War damals der Abschied von der Kindheit noch leichter? Keine Ahnung.
Zu Beginn der achtziger Jahre wurde Spirou von zwei Teams gleichzeitig weiter geführt: Nic & Cauvin scheiterten ziemlich sang- und klanglos an einer Variation, die den gängigen action-orientierten Zeichentrickstil imitierte, die Figuren mussten auf die gewohnte Entourage und nicht zuletzt auf die liebevollen Hintergründe verzichten; Tome & Janry dagegen gelang es noch einmal, den Spirou-Kosmos im Sinne von Franquin zu rekonstruieren und ihn mit einer Reihe von zeitgenössischen Anspielungen zu erweitern. Zu ihren eigenen Kreationen gehört der Mafia-Boss Don Vito Cortizone: Er will Spirou für seine Ziele einspannen, weil er jemand braucht, »der Frauen widerstehen kann! Der noch nie der Liebe verfallen ist«. (»Luna Fatale« jedenfalls ist ein Verführungstraum, den Spirou gerade noch einmal überlebt.) Die Meta-Pointe ihrer Arbeit aber ist es, dass sie damit begannen, die geschlossene Welt zu öffnen, ihre Helden zu entwickeln und zu befragen, und dafür veränderten sie sogar Zeichen- und Erzählstil mittendrin. Aus dem „Semi-Funny“-Strip, in dem das Komische und das Abenteuerliche in der immer gleichen verlässlichen Mischung kombiniert sind, wurde eine Serie, die in jedem Album eine neue Mischung ausprobiert.
Der Verfall des Spirou-Kosmos aber war nicht aufzuhalten. 1998 legten Tome & Janry eine völlig neue Konzeption auf, in »Machine qui rêve« schlugen sie einen ›realistischen‹ Spirou vor, das heißt einen Spirou, der an seinen Realitäten zu zweifeln beginnt. Auf der anderen Seite hatten sie auch eine Prequel-Serie entwickelt. In den neunziger Jahren verkauften sich die Abenteuer des »Kleinen Spirou« prächtig, während die klassische Serie von einer Krise in die andere taumelte. Interessanterweise darf der kleine Spirou alles, was dem Helden verboten ist, er ist obszön, aggressiv – und glücklich. Nach und nach ergibt sich, ausgehend von dem ersten Versuch, »La jeunesse de Spirou«, das Bild einer sonderbaren Kindheit in einer Familie von Hotelangestellten, selbst der Großvater trägt die Pagen-Livree. Nicht fehlen dürfen die üblichen, im leicht verschärften »Petit Nic«-Stil gehaltenen Pups- und Pinkelpointen.
Der »erwachsene« Spirou freilich, der zur gleichen Zeit eben die Pagen-Livree abgelegt hat, bearbeitet sehr heftig seine Neurosen und seine Schizophrenie. Einmal überschreitet Spirou die Grenze der Rasse – »Ein Dorf sieht schwarz« –, ein andermal die Grenze des Genders, und in der Manga-Hommage »Spirou à Tokyo« von Morvan & Munuera kann er den Yakuza nur entgehen, indem er sich verkleidet: als Hotelpage im Spirou-Look. Jeder neue »Spirou« widmet sich seitdem einer anderen Facette seines Wesens, versucht zugleich, Traditionen zu bewahren und die Figuren neu zu erfinden. Und Spirou selber hat angefangen, sich vor allem mit sich selbst und seiner Stellung in der Welt zu beschäftigen. Unter anderem versucht er zu erklären, wo in der Zwischenzeit seine verschüttete Sexualität geblieben ist, ob Abenteuer etwas mit Verantwortung zu tun haben, und natürlich stellen sich die Fragen nach dem Guten und dem Bösen neu. Aus der geschlossenen Welt des Spirouversums ist eine nonlineare Geschichte des Abschieds geworden: Wie zum Teufel wird man vom Kind zum Erwachsenen in einer Gesellschaft, die Jugend gerade abschafft (oder, was das selbe ist, über alles gießt)?
Nun also: Spirou est divisus in partes tres. Da ist auf der einen Seite der »kleine Spirou«. Dort schauen die Jungs der Lehrerin unter den Rock, und manchmal auch dem Tod bei der Arbeit zu. Der kleine Spirou tangiert von der Kinderseite das Tabu, oder was man gerade dafür hält. Er hat eine Oma mit Alzheimer und einen Pfarrer, dessen Unternehmungen zur Seelenrettung immer in den absurdesten Etablissements enden. Dann gibt es die reguläre Serie, die versucht, die Tradition des ›semi-funnys‹ mit jeweils neuen Trends zu verbinden. Mit wechselndem Glück, um es freundlich zu sagen. Die dritte Schiene sind seit 2006 die »one shots« (die in Deutschland unter dem Titel »Spirou & Fantasio Spezial« erscheinen): Hier dürfen Zeichner und Autoren mit der Figur experimentieren, und das Ganze richtet sich am ehesten an ein erwachsenes Publikum, ein erwachsenes Publikum mit Comic-Gedächtnis, um genau zu sein. Es geht in die Richtung der »graphic novels«, es sind epische Geschichten, die ihre Charaktere und ihre Settings ausloten und voller doppelter und dreifacher Böden sind: »Die Sümpfe der Zeit« von Frank LeGall oder »Die Gruft derer von Rummelsdorf« von Yann und Tarrin sind intelligente Etüden über vorgegebene Motive, reichlich hypertextuell und sophisticated. Der vorläufige Höhepunkt der one shots aber ist Émile Bravos »Porträt eines Helden als junger Tor«.
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Das Hotel Moustic liegt nun wieder in Brüssel. Es ist das Jahr 1939. Spirou vernachlässigt seine Pflicht, weil er auf dem Bolzplatz den Streit zwischen Jungs schlichten will, deren Eltern Kommunisten, Faschisten oder »anständige Belgier« sind. Er will keine Politik. Gleich darauf lernt er eine neue Kollegin kennen und den Reporter Fantasio, der hartnäckig versucht, seine Freundschaft zu erringen, weil in dem Hotel einiges an illustren Gästen versammelt ist: Der berühmte (jüdische) Boxer, seine Frau, die Modeschöpferin, vier Diplomaten aus Deutschland und Polen, die über Krieg und Frieden verhandeln. Spirou ist da in der Tat ein reiner Tor: Er liest (als „Comic im Comic“) nur den »Petit Vingtième«, die Jugendbeilage der reaktionären katholischen Zeitung » Le Vingtieme Siècle«, in der die Comics von Tintin erschienen, und Polen ist ihm weit genug fort, um die Kriegsgefahr zu ignorieren. Aber die Liebe und der Krieg reißen ihn aus seiner Unschuld. Beinahe hätte Spirou den Weltfrieden gerettet, aber vielleicht hat Fantasio wieder einmal alles vermasselt, vielleicht meinten es die Boches ohnehin nie ehrlich, und vielleicht war das Eichhörnchen schuld. Der Krieg, wie gesagt…
Nebenbei erfahren wir auch, warum Spirou nie aus seiner Livree kommt, nämlich einerseits weil er als Waisenjunge einfach kein Geld hat, sich andere Klamotten zu kaufen. Zweitens, weil sein erster Versuch, sich in ›zivile‹ Kleidung zu werfen, dazu führt, dass man ihn ständig mit Tintin verwechselt. Und drittens, weil sie ihn an seine große tragische Liebe zu Kassandra erinnert, die sich als Zimmermädchen ins Hotel geschlichen hat, in Wahrheit aber Komintern-Mitglied ist und schließlich mit großer Wahrscheinlichkeit den stalinistischen Säuberungen zum Opfer fällt. Émile Bravo, im Stil ganz an die Anfänge der Serie erinnernd und die Grundlagen der bei »Spirou« gelockerten Dogmen der ›ligne claire‹ erforschend, schafft es traumhaft, die Konstruktionen des semi-funny-Comic mit dem Grauen der Geschichte zu verbinden. Er fügt der Hauptgeschichte ein Seitenstück zu, ein Prequel zum Prequel sozusagen: Es handelt von den Erlebnissen eines gewissen Jean-Baptiste in einer katholischen Erziehungsanstalt. Und es erklärt, warum Spirou nie aufgehört hat, ein Kind zu sein: weil man ihm dort die Kindheit gestohlen hat. So sehr, dass er sogar seinen Namen verlieren möchte. Aus dem gequälten Kind Jean-Baptiste wurde im Jahr 1938 Spirou, den sein neuer Freund, der überdrehte Reporter Fantasio, charakterisiert: »Wenn wir erst einmal berühmt sind, wirst du in deinem Aufzug der albernste Held aller Zeiten sein.«
Nein, Spirou, mein Freund, der albernste Held aller Zeiten bist du ganz und gar nicht geworden. Nur der Held, der seine innere »Leere« so deutlich spürte wie kein anderer. Und der uns immer ahnen ließ, was dahinter steckte. Kindheit und Jugend sind in den siebzig Jahren deiner Existenz ein paar mal neu erfunden worden. Bei jeder neuen Variante hast du einen Teil davon preisgeben müssen. Und das ist der zweite, der Ich-Grund deiner Melancholie: die unbehauste Kindheit, aus der das Abenteuer nur befreien konnte; die Gewalt, die das Waisenkind in der katholischen Erziehungsanstalt erfahren musste (auch ein sexueller Missbrauch ist nach der Lektüre von Bravos Zusatzgeschichte nicht auszuschließen); die Ausbeutung als Kinder-Arbeiter in der Hierarchie des Hotels; die Macht, mit der die Geschichte in das beschränkte Weltbild eindringt; der große Schmerz einer verlorenen Liebe; der Zwang zum Verrat – und in alledem ist ein Eichhörnchen unterwegs, Totemtier und Metapher, ein anderes Spirou, das möglicherweise durch einen Stromschlag ein sehr, sehr unglückliches Bewusstsein bekommen hat: Das denkende Eichhörnchen bildet sich sogar ein, durch einen Telefonkabel-Biss den Zweiten Weltkrieg und damit tendenziell die Vernichtung der menschlichen Rasse ausgelöst zu haben. Wer weiß? Ist ein menschenhassendes Eichhörnchen mit bösem Bewusstsein etwa weniger wahrscheinlich als Adolf Hitler?
Du aber Spirou, bist in ein paar kleinen Meisterwerken der Comic-Kunst in den letzten Jahren erklärt worden. Vielleicht mehr als es einem Helden gut tut. Und zugleich bist du, dreigeteilt, weiter von dir selbst entfernt als jemals zuvor. Du bist ganz und gar kindisch geworden, und ganz und gar erwachsen. Nur in der Mitte, da will nichts Rechtes gelingen. Das ist deine ganz persönliche Krise, einerseits. Und andrerseits, mein Freund, kannst du wieder mal nicht anders und drückst dabei gleich die Krise von Jugend im Neoliberalismus aus. Zwischen den Bildern höre ich dich manchmal heulen. Aber ich sag’s nicht weiter.
Autor: Georg Seeßlen
Text geschrieben Oktober 2009
Text: veröffentlicht in SPEX #324, Dezember 2009
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