Weihnachten vorbei, puuh. Na, schön konsumiert? Dummes Zeug gekauft für Leute, von denen man im Gegenzug noch dümmeres Zeug bekommt?

Oder so was von Freude geschenkt, Wünsche erfüllt, Geschmack getroffen? Die Ware, sagt der olle Marx, ist eine „gesellschaftliche Hieroglyphe“. Jenseits von Habenwollen und Wegwerfen muss man sie entziffern. Fängt natürlich mit dem Gebrauchswert an. Durch einen dieser Bau- oder Mediamärkte kann man ohne weiteres gehen, von einem Ding zum anderen, von dem man nicht die geringste Ahnung hat, wozu es gut ist. Ein Duschkopf, der aussieht wie ein Lautsprecher ist in Wahrheit ein Konverter, den man mit einem CD-Player verwechseln kann. Im klassischen Kaufhaus sollte man eine Ware erwerben, bevor sie wieder aus dem Angebot verschwunden war; wir kauften mit dem Angebot um die Wette. In den neuen Discounter-Märkten kauft man mit der Entzifferung der Ware um die Wette. Wenn wir uns nicht beeilen, hat das Ding schon selber vergessen, wozu es gut sein sollte.

Aber die richtige Bedeutung der Ware liegt natürlich weit jenseits des Gebrauchswerts. Wenn ich herausgefunden habe, wozu man es gebrauchen kann, geht es vor allem darum, was ich damit ausdrücken kann. Ach was, viel mehr: Was ich damit werde. Eine Person, bestenfalls. Sind wir nicht, was wir geworden sind, so sehr durch den Gebrauch von Dingen wie durch die Fernsehprogramme?

Deswegen beschleicht uns ein wenig nostalgische Wehmut, wenn wir zur gleichen Zeit den großen Kaufhäusern mit ihrer glanzvollen Inszenierung der Ware, und den Versandhäusern beim Sterben zusehen, deren Kataloge einst, literarisch und ikonographisch, der größte ästhetische Grundlagenvertrag unserer Gesellschaft waren. Nicht das Grundgesetz und nicht die Klassiker-Liste des Deutschen Bücherbundes, nicht der „Förster vom Silberwald“ und nicht die Tagesschau, der Heilige Text unserer Halb-Nation waren die Kataloge von Quelle und Neckermann. Hans Magnus Enzensberger sprach damals davon, dass der Neckermann-Katalog die „Hölle des Kleinbürgertums“ abbildete. Ach ja, mag schon sein, diese Beschränkung und Selbstbeschränkung, diese Beharrung auf allermodernst erzeugte Anti-Moderne, dieser Badenweiler-Marsch in der Mahagony-Musiktruhe zu „Quo Vadis“ und Eierlikör/Meisterbrand! Furchtbar! Aber es war unsere Hölle, unsere einzige, gemütliche Heimathölle, oder? Und es war ein muffiges, aber offenes System. Was nun an die Stelle der großen Kaufhäuser und der Versandhäuser getreten ist, das ist so laut, heftig und überall, dass wir wenig Gedanken daran verschwenden, was sich denn eigentlich ändert. Nur Unbehagen, ja, ein Unbehagen gibt es. Aber daran haben wir uns ja auch gewöhnt.

Neben die Bau-, Media- und Möbelmärkte, die weit geschlossenere Design- und Gebrauchssysteme anbieten als das Warenhaus, diese konkrete Utopie der kapitalistischen Klassenmischung, neben die konzernstalinistischen Zwangsernährungsfabriken der LidlPennyAldiRealNettoAllkauf (wenn sich vier, fünf wichtige Leute dort darüber einig wären, dass Hackfleisch ab jetzt aus Kamelscheiße mit Geschmacksverstärkern besteht, dann wird es so kommen), die immergleichen Drogeriemärkte und Getränkemärkte und Outlet-Stores, die mit Zeichen und Räumen unsere Städte besetzt haben wie Alien Intruders, treten die Läden, die nun wieder radikal die Klassengegensätze betonen. Wie im richtigen Leben, so scheint auch in unseren Einkaufsparadiesen die Mitte zu verschwinden und die Ränder treiben auseinander. Ein-Euro-Ramsch und Marken-Religion. Mindestens so schnell sie sich ökonomisch und kulturell begründen kann, entdeckt der Einzelhandel die „neue Unterschicht“. Im kulinarischen Diskurs sind die Ränder noch unscharf; man sieht Leute mit dem S-Klasse-Mercedes beim Lidl vorfahren (aber natürlich kommt, neben den Grundnahrungsmitteln und dem Marken-Alkohol, den man hier günstig erwerben kann, dann die Luxusware aus dem Mediterraneo- und Bioladen auf den Tisch). Beim Dresscode und seiner Logistik aber hört der Klassenspaß auf. Da lässt sich so schnell keiner im falschen Laden erwischen.

Nur ein Beispiel: Der KiK-Laden (Sie kennen diese unangenehm quäkende Kinderstimme eines sprechenden roten Hemdes aus der Fernsehwerbung, oder?) und die Landhaus-Mode. (die verdirbt Ihnen vielleicht im wirklichen Leben die Laune). Beides einmal nicht als Geschmackskatastrophen betrachtet, sondern als Hieroglyphen der neuen Klassengesellschaft, ergibt ein klares Bild dessen, was aus der Enzensbergerschen „Hölle des Kleinbürgertums“ vierzig Jahre, einige Vereinigungen und Spaltungen später, geworden ist.

In der Text/Bild-Produktion hat KiK das Katalog-Prinzip vom Versandhaus übernommen, so wie er die Waren-Inszenierung des Kaufhauses übernommen hat. Und so wie der Katalog natürlich kein Backstein-großer „Klassiker“ mehr ist, sondern ein BILD-ähnliches Blättchen, so ist auch die Inszenierung der Ware nicht mehr von Glanz und Phantasie geprägt, sondern von einer scheinbar bewussten Lieblosigkeit, die von der hasserfüllten Inkompetenz des Verkaufspersonals gebührend verstärkt wird.

Letzten Monat warb der sechsblättrige KiK-Katalog , eine der herrschenden Zeichen- und Dingwelten der örtlichen Fußgängerzonen mithin, mit der Ikone der deutschen Clever-Blöd-Sein-Kultur auf dem Titel. Sie sitzt da in einer Art Schneidersitz mit einer blonden Kranzfigur und verkündet: „Besser als wie man denkt!“ Darunter: „Eure Verona Pooth“. Auf diesem Titelbild gibt es eine Damen-Nickijacke zu 7,99 und Damen-Nickihosen, ebenfalls je 7,99. Zu den anderen Models in diesem kleinen Katalog gehört eine weitere Blondine, die entschieden übergewichtig ist und für Damen-Pullover wirbt die es in 1XL bis 5XL je 9,99 (mit Gummizug)  gibt. „Große Größen für starke Frauen“ lautet der zugehörige Slogan. Nun ist ja das mittelständische Schlankheitsideal durchaus kritisch zu hinterfragen, im Kik-Katalog fällt allerdings auf, dass sympathische Leibesfülle den Frauen vorbehalten ist.

KiK, so erfahren wir auf der letzten Seite, gibt es über 2.800 mal europaweit, und außerdem sucht man immer noch neue Ladenlokale und 1.000 Azubis für August 2010. Die Proll-Hölle ist anders durchlässig geworden als die Kleinbürgerhölle Enzensbergers. Im ganzen Katalog gibt es nichts, was über 10 Euro kostet, Hosen, Jacken, Dessous („Elegant und sexy zugleich für unter 10 €“), Pullover inbegriffen. Die Hölle als umfassendes Gesamtkunstwerk ist in eine kurze Biographie gekippt: Was mit den Nickijacken beginnt, führt besser als wie man denkt über Strickjacken und Ohrringe  zu Herrenhemden und Hosen (mit Nadelstreifen, echt jetzt) zu den erwähnten Dessous in Pink und dann zu den Baby-Waschlappen und Mädchen-Langarmshirts, alle „für Rundum-Babyglück!“ und „Jedes Teil unter 5 €“)

Selbst die Damen in den pink-schwarzen Dessous scheinen sich übrigens nicht allzu viel aus verruchtem Erscheinen zu machen, sie drapieren sich wie mehr oder weniger schmackhafte Fleischstücke, strahlen aber auch ein gewisses „Bringen wir es hinter uns“-Feeling aus. Die Lippen nur ein klein wenig geöffnet, scheinen sie zu erwarten, dass gleich das Baby von der nächsten Seite schreit.

Tatsächlich scheint hier „Notwendigkeit“ in die Hölle zurück gekehrt, die Bilder sprechen von einer schieren Pflicht, sich zu bekleiden und mit dieser Kleidung noch eine Art reduzierter aber auch aggressiver Lust auszudrücken. Jedes der Kleidungsstücke trägt ein mehr oder weniger kompliziertes, aber vollkommen imaginäres Zeichen, nicht unwichtig scheint dabei: „Mit Rückendruck“. Die Worte sagen „Team“ oder „Manhattan“ oder „Challenge“. Das hat nichts zu sagen, ist aber auch nicht stumm.

Was die Models und was die Mode anbelangt, so scheint es sich um mehr oder weniger erfüllbare Träume zu handeln. Es gibt zwar ein durchlaufendes, angedeutetes Motiv eines Girlandengitters im Bildhintergrund und ein anderes der Herzen, über dem KiK-Maskottchen (jenem lebenden roten Hemd einer globalisierten Nullzeichenware) und am Kettchen an Frau Pooths Hals, aber ansonsten gibt es keine Geschichten mehr, keine Verheißungen, keine Traumbilder, das Ding selber muss genügen. „Enjoy the Journey“ steht auf dem Poloshirt der „starken Frau“, aber von einer Reise ist hier nichts zu ahnen. Die Hintergründe der Kleidungsdinge sind dagegen grau abgesetzt, wir ahnen Plattenbausiedlungen (nur bei den Dessous gibt’s flauschige Flokatis als visuelle Zugaben), nicht einmal die Kinder haben Spielsachen, und die Herren, die ja wohl ihre Väter sind, tragen zwar auf der letzten Seite des KiK-Katalogs Trainingsanzüge, es sieht aber nicht so aus, als wollte man ihnen irgend sportliche Betätigung abverlangen.

Im KiK-Katalog findet sich „Persönlichkeit als Produkt der äußeren Erscheinung“ (Richard Sennett) allenfalls noch rudimentär. Im Prinzip spricht KiK-Kleidung davon, dass es nicht mehr notwendig, auch nicht besonders erstrebenswert sei, Persönlichkeit zu produzieren, jedenfalls weder durch Kleidung noch durch Ambiente. Stattdessen scheint wesentlich, in irgend einer Weise bezeichnet zu sein (folgerichtig besteht eine der KiK-Stickereien auf Damen-Poloshirts nur aus der Zahl „62“: Möglicherweise, wir wissen es nicht, hat sich jemand etwas dabei gedacht, oder es gehört zum bescheidenen Glück, sich nummeriert zu fühlen) und nicht weiter aufzufallen. Es ist nicht so, dass KiK der „neuen Unterschicht“ die Kleidung liefert, so wie ihr Lidl die Nahrung liefert, sondern, anders herum, der KiK-Katalog und die Dramaturgie eines Lidl-Discounters erschaffen die Kultur der „neuen Unterschicht“: Dumm, übergewichtig, geschmacklos. So sind die Menschen nicht, so werden sie gemacht in einer Warenwelt, die nichts anderes mehr verspricht denn traumlose Versorgung. „Besser als wie man denkt“ gibt sich gar keine Mühe, zu verbergen, dass es sich um eine Art Gefängniskleidung handelt; das Ghetto drumherum ist so bekannt, dass wir es nicht einmal mehr andeuten müssen.

Wie ganz anders, nur zwei Straßen weiter, der Outlet-Laden für Trachten- und Landhausmoden. Auf den Preis für diese „volkstümliche“ Kleidung darf man hier nicht achten müssen, dafür wird mit Glücksverheißungen nicht gespart: Der Besitzer dieser Kleidung hat sich Natur angeeignet, Vitalität, Sexualität und Sentiment eines Landvolkes, das man erfolgreich mit Häusern im Jodlerstil und Industriegebiet Nord vertrieben hat. Hier sieht man, wie das „Volkstümliche“, das als Billigveranstaltung im Fernsehen und in den Bierzelten seine Mainstream-Zeit hatte, einen Prozess der „Gentrifizierung“ hinter sich hat, es differenziert nun in ganz anderer Weise als das Volkstümliche in Enzensbergers Kleinbürgerhölle differenzierte (gegen „das Moderne“, gegen das „Amerikanische“ etwa): Im volkstümlichen Diskurs verteidigt sich das übrig gebliebene reaktionäre deutsche Kleinbürgertum semiologisch gegen die zwangsglobalisierte, neutralisierte neue Unterschicht. Leinen und Dirndl zeigen somit sowohl eine nationale und „völkische“ Zugehörigkeit als auch eine der Klassen. Und das lässt man sich etwas kosten.

Aber da steckt noch etwas ganz anderes dahinter: Während sich nämlich der Körper der KiK-gekleideten Unterschicht in der Öffentlichkeit bis zur Unsichtbarkeit abdämpfen soll, und alles Sexuelle in den Innenraum verlagert (radikale Unterscheidung zwischen Außen- und Unterwäsche ebenso wie zwischen Straße und Privatraum: die globalisierte Billigkleidung ist soweit „islamisiert“, wie die Landhaus-Mode eine imaginäre Kirche im Dorf lässt), provoziert der Landhaus-Look mit seiner „volkstümlichen“ Mischung aus Nuttigkeit und Regression, Angeberei und Obszönität offenbar ebenso bewusst. Wo ein Mensch im „Landhaus-Look“ ist, da ist kein Platz für irgend anderes; schon von daher verstehen wir die ebenso epidemische Ausbreitung wie das leicht hysterische Überbieten darin. Während die KiK-Mode den Verlierer immerhin in seiner Unsichtbarkeit beweglich macht, ist die Landhaus-Mode gerade darauf aus, soziale Räume radikal und unbarmherzig zu besetzen. Der Krieg der Zeichen ist aufs neue entflammt, nicht besser, aber tückischer als wie man denkt, auf beiden Seiten.

Hans Magnus Enzensberger hatte Unrecht. Die Kleinbürgerhölle des Neckermann-Kataloges war kein Endpunkt. In der Kleinbürgerhölle sind im Gegenteil immer wieder neue Teufel los. Toll, was?


Autor: Georg Seeßlen

Text: veröffentlicht in taz