DAS ELEND DER SOZIALEN TIERE
Wenn man nicht gerade mit Marx, Weber oder Luhmann herumhantiert, dann ist das Soziale wohl das, was man so mitbekommt von den anderen, im Alltag und im Beruf, wenn man durchs Leben geht, jenseits der mehr oder weniger gehegten familiären Innenräume, jenseits der Rausch- und Traumwelten, und diesseits der mythischen Projektionen von Politik und Geschichte, diesseits der großen Feiern von „Nation“ und „Volk“. Es hat wohl etwas mit Gerechtigkeit zu tun, mit der Freundlichkeit oder Unfreundlichkeit, mit der man einander begegnet, mit Werten, Codes, Beziehungen, Abhängigkeiten, mit Macht und mit Geld, aber eben auch damit, dass Macht und Geld nicht alles sein darf, was einen mit seinen Mitmenschen verbindet. Man versteht es sofort, dass man das Soziale gern in den Begriffen von Wärme und Kälte ausdrückt. Wir leben, darin sind sich fast alle einig (nur dass es manchen egaler ist als anderen) in einer Zeit der sozialen Kälte.
Dagegen kann man zweierlei tun: Sich trösten oder handeln. Der Mangel an sozialer Wärme ist so ausgeprägt, dass ganze Industrien von der Trost-Produktion leben können. Aber auch die politische Rhetorik und Ikonographie benutzt gern die Simulation von sozialer Wärme. Matteo Renzi, der italienische Ministerpräsident, der seinen Landsleuten gerade wieder einiges an, nun eben „Sozialabbau“ zumuten muss, inszeniert die regelmäßigen Treffen seiner in- und ausländischen Unterstützer an einem Ort, den man nach der Bahnstation „Leopolda“ nennt, an dem das Wort „sozial“ in kaum einem Satz fehlt, und der dekoriert ist wie das heimelige Innenleben einer geschäftigen kleinen Straße mit einer hölzernen Drehbank statt eines Rednerpults, reparaturbedürftigen Fahrrädern im Vordergrund und Vogelbauern dahinter. Kulissen der Schnittpunkte zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit, genau dort, wo Gesellschaft uns im Alltag begegnete. Früher. Ein sozialer Raum, oder auch ein kinematographischer Raum, denn so wie das „Leopolda“-Treffen inszeniert ist wie ein Film des „Rosa Neorealismus“ der Endfünfziger-Jahre (es waren harte Jahre gewiss, aber voller sozialer Wärme), so war umgekehrt das Kino in seinen besten Zeiten einst das gesellschaftsbildende Medium par excellence. Wie zuvor der Roman oder das Theater einer bestimmten Klasse, so sagte nun das Kino beinahe allen, was das ist: Gesellschaft. Nämlich ein Raum, in dem Probleme gelöst und Konflikte ausgetragen werden können, zwischen dem, was ich will, was man tut, und was wir sollen. Ein Happy End ist die Versöhnung der Subjekte mit der Gesellschaft. Mal müssen die einen mehr nachgeben, mal die andere. Und wenn es gar nicht anders geht muss jemand in den Sonnenuntergang davon reiten oder den nächsten Autobus nehmen.
Die Gesellschaft, das sagt einer ihrer großen Chronisten, Honoré de Balzac, ist erst einmal eine Abstraktion; das meiste von „Gesellschaft“ sieht man nicht, sondern man muss es sich denken. Vielleicht kann man es, wenn man eine „soziale Ader“ hat, auch fühlen. Das Soziale muss im Kino jedenfalls erst sichtbar gemacht werden, wenn es nicht bloße Behauptung bleiben soll. Gesellschaft im Kino darzustellen ist also wesentlich schwieriger als, sagen wir, Krieg, Weltuntergang oder Familie.
Wie macht man Gesellschaft im Kino sichtbar?
Der Kinoraum und der soziale Raum sind semantisch miteinander verwandt, insofern jedes Objekt und jede Bewegung in ihnen ein „soziales Signal“ darstellt. Ein Hut, ein Fingerschnippen, die Art, wie man Geld zählt usw. Es bedeutet nicht nur, welche Position jemand in der gesellschaftlichen Hierarchie innehat, sondern immer auch, was das für ihn bedeutet, an Harmonie oder Kränkung, an Glück oder Unglück etc. Man kann also Gesellschaft vor der Kamera nicht nur zum Verschwinden bringen indem man eine ideale oder nostalgische Projektion an ihre Stelle setzt, sondern auch dadurch, dass man Harmonie und Konflikt an die jeweils falsche Position rückt. Das Kino kann von Gesellschaft nicht schweigen, das liegt in der Natur seiner Bilder, aber es kann vorzüglich darüber lügen.
Das, was man von der Gesellschaft sieht, ist dagegen das, was in ihr schiefgelaufen ist. Oder im Begriffe, zu verschwinden. Wenn sie gerade im Überfluss geschieht, die Gesellschaft, dann ist sie selbstverständlich, ein bisschen langweilig, und sie kann mächtig bedrückend sein. Es gibt Zeiten, da ist sogar im Kino die Gesellschaft fast an allem schuld, sie macht Rebellen ohne Grund aus den Jungs, erzeugt Gangster, Psychopathen und verrückte Wissenschaftler, sie lässt die Liebenden nicht zueinander kommen, sie unterdrückt die Frauen, behindert die Kinder und ist zu Außenseitern überhaupt nicht nett. In solchen Situationen sollen „gesellschaftskritische Filme“ helfen. Aber immer dann, wenn im richtigen Leben die Gesellschaft zu verschwinden droht, wenn wieder einmal das Geld die Menschen aus ihrer Welt zu vertreiben droht, dann wird sie vom Kino wieder entdeckt. In der Zeit der wirtschaftlichen Depression in den USA suchte Frank Capra nach einem neuen Miteinander. Als die Industrialisierung die Menschenarbeit mechanisierte blickten die britischen Dokumentaristen voller Neugier und Mitgefühl darauf, was das mit den Menschen und ihrer Gesellschaft machte. Noch in den Trümmern von Krieg und Faschismus ließ der italienische Neorealismus Menschen auf der Leinwand und im Zuschauerraum nach der Verantwortung füreinander fragen. Als Maggie Thatcher, die Prophetin des Neoliberalismus, in London programmatisch erklärt hatte „There is no such thing as society“ setzten Ken Loach oder Mike Leigh ihr humanistisches Arbeiterkino dagegen, mit der Frage, wie mit dem Mangel zu leben wäre, und wodurch er erzeugt wird. Deutschlands Weg in den Neoliberalismus begleiteten nicht nur mittelständische Feelgood-Movies, sondern auch die Filme der „Berliner Schule“, die zeigten, wie fremd sich Menschen und ihre Gesellschaften werden können. Und in der Krise als Dauerzustand entwickelte sich ein Kino der sozialen Apokalypse, bei Lars von Trier in Dänemark, bei Bruno Dumont in Frankreich, bei Calin Peter Netzer oder Christian Mungiu in Rumänien, bei Giorgos Lanthimos in Griechenland und vielen anderen. Immer geht es dabei um eine Frage: Wie leben Menschen, wenn ihre Gesellschaft dabei ist zu verschwinden? Der Mensch, das ist das soziale Tier, das zum Leben die anderen, eine Gesellschaft braucht. Ohne Gesellschaft sind Menschen wie Tiere, denen man den Lebensraum nimmt. Und genau so benehmen sie sich auch.
Hoffnung auf die Wiederentdeckung des Sozialen
Doch anders als in der drastischen Parallelerzählung, der Zombie-Apokalypse zum Beispiel, in der das Verschwinden der Gesellschaft beschlossene Sache ist, steckt in den meisten dieser Filme, immer noch eine Hoffnung auf die Wiederentdeckung des Sozialen. Könnten sich Menschen, denen die Gesellschaft von oben genommen wird, nicht von unten eine neue erschaffen? Es wird ein Nullpunkt von Einsamkeit, Brutalität und Entmoralisierung erreicht. Hier gibt es keinen Trost mehr. Hier hilft nur noch die Gnade der Transzendenz – oder das Handeln.
Auch die Brüder Dardenne, Jean-Pierre und Luc, haben ihre Arbeit an diesem Nullpunkt der Verzweiflung und des Zorns begonnen, und das aus einem zunächst einmal biographischen Impuls. Es ist ihre Welt, aus der sie erzählen, die Stadt Seraing, in der Nähe von Liège und mit dieser bereits verschmelzend, einst ein Zentrum der Schwerindustrie. Hier wächst mittlerweile die zweite Generation der Nachkommen der Fabrikarbeiter auf, denen die Fabriken, der Stolz und die Zukunft genommen wurde. Seraing, das ist eine konkrete Stadt mit konkreten Problemen. Seraing, das ist aber auch Abbild der Welt, wie sie durch Globalisierung, durch Deindustrialisierung, durch deregulierte Arbeitsverhältnisse geschaffen wird. Der Bruch in der Zeit: Die Menschen haben keine Vorbilder mehr und keine Zukunftsperspektiven. Sie leben um zu überleben. Der Bruch des Ortes: Rasender Zerfall und verzweifelte Bemühungen, etwas aufzubauen (auf einem Abgrund der Verschuldung); man ist nicht mehr daheim, und man kann nicht wirklich weg. In Seraing passiert alles, was wir aus einer zerfallenden Gesellschaft kennen, nur ein klein wenig drastischer.
Die Film-Kunst von Jean-Pierre und Luc Dardenne
So erfüllen die beiden Regisseure zwei Grundvoraussetzungen für ein soziales Kino: Die genaue Kenntnis des gesellschaftlichen Ortes, und die Fähigkeit, das Modellhafte darin zu erkennen. Wie bei Balzac: Das Konkrete ist das Medium des „Abstrakten“, das Bild enthält das Sichtbare und das, was man sich an Gesellschaft dazu denken muss.
Die Film-Kunst der Dardennes ist aber nicht aus Anschauung und Talent allein geboren. Sie haben ein paar Wege und Umwege hinter sich. Sie führten, unter anderem, über das Theater und über die Philosophie. Und wer will, kann in den Filmen von Jean-Pierre und Luc Dardenne dies beides noch an der Arbeit sehen. Die Theater-Frage nach der Repräsentation, und die Philosophie. Sie gehörten dann zu den Pionieren einer lebendigen, vernetzten Video-Szene, und schon in etlichen ihrer Dokumentarfilme tauchen Motive, Schauplätze und cineastische Gesten auf, die wir aus den Spielfilmen kennen.
Aber die Frage, wie das Soziale im Filmbild erhalten werden kann, war auch durch die kritischen Auseinandersetzungen mit Antonin Artaud und Berthold Brecht noch nicht wirklich zu beantworten. Am Ende stand der Verzicht auf intellektuelle Brechungen, und es ging um die möglichst genaue Umsetzung von Erfahrung und Beobachtung in die cineastische Geste. Einem Mann zusehen, der auf einem Kahn die Maas entlang fährt und dabei von seiner Erinnerung an die großen Streiks erzählt. Das war möglich, weil es den Dardennes, wie sie selbst sagen, nie darum ging, „Cinéma“ zu machen. Es gibt keine Filmeffekte, kein Make-Believe, keine Suche nach dem großen Bild. Die meisten Darsteller sind Laien, aber auch die Stars des französischen und belgischen Kinos, mit denen sie zusammenarbeiten, da Budgets und Reichweiten ihrer Filme wachsen, vollziehen eher ein revivre als dass sie „schauspielen“. Der Trick der Dardennes dabei ist simpel: Sie geben sich und ihren Mitarbeitern Zeit. Sie stellen die Situationen vor der Kamera nicht her, sondern sie lassen sie sich entwickeln. Man lebt sich in Verhältnisse, in Orte, in Geschichten ein. Anders gesagt: Schon Vorbereitung und Produktion eines Dardenne-Films stehen im Zeichen des sozialen Bewusstseins.
So entstand in den Spielfilmen seit „Das Versprechen“ aus dem Jahr 1996 eine Chronik der gesellschaftlichen Wandlung in Seraing von den Rändern, von den Verlierern her. Die Kinder, die Migranten, die kleinen Kriminellen, die jungen Familien, die Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen. Deren Situationen sind direkte Folgen der ökonomisch-politischen Veränderungen: Hier muss man um jeden Arbeitsplatz kämpfen – und in der Eingangsszene von „Rosetta“ schon sieht man, dass dieser Kampf, aussichtslos wie er sein mag, bis über die Grenzen der physischen Gewalt geführt wird. Im Maquis der neuen Unterschicht muss man verkaufen, was es zu verkaufen gibt, im Zweifelsfall sogar das eigene Kind, wie in „L’Enfant“. Traumatisierte Menschen geraten hier in weitere Spiralen von Gewalt und Ausbeutung, wie in „Le Silence de Lorna“: die „Fremde“, die sich ein Bleiben, eine Heimat erhofft, in einer Stadt, in der sich alle fremd werden; Familien brechen zusammen, und die Kinder können nur von einer unerklärlichen Zuwendung, gerettet werden, wie in „Der Junge auf dem Fahrrad“. Vielleicht.
Jeder Film eine Frage. Eine sehr einfache Frage: Was passiert, wenn eine sehr junge Frau in aller prekärsten Lebensumständen ein Kind bekommt? Oder: Kann die Liebe einer Frau (für die es weder einen sozialen noch einen psychologischen „Grund“ gibt) einen Jungen vor der Gewalt retten? Was geschieht, wenn ein Junge durch seinen Vater dazu gebracht wurde, zur Vertuschung ökonomischer Unredlichkeit bei einem Mord mitzumachen? Oder (in ihrem neuesten Film): Kann eine Frau, die auf die Einnahmen angewiesen ist, auf die Solidarität ihrer Kollegen zählen, wenn diese zwischen ihrer Entlassung und einer Bonus-Zahlung entscheiden müssen? Zum Realismus dieses Stils, der geduldig bei seinen Protagonisten bleibt, in den dramatischen Momenten wie in denen der kleinen Abschweifungen, die man sich gönnen muss (und sei’s, dass man ein Eis schleckt oder einen Rock-Song im Autoradio mitsingt), gehört es, dass die Antworten lange nicht so einfach sind wie die Fragen. Aber unmöglich sind sie auch nicht.
Artaud und Brecht. Und nicht etwa das „Sozialdrama“, ein Etikett, gegen das sich die Dardennes zu recht wehren. Sie nennen es „moralische Fabeln aus der Unterschicht“, und lassen daran keinen Zweifel: „Wir mögen diese Menschen“. Dieses Mögen der Menschen, auch und gerade in ihren Widersprüchen, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei den Dardenne-Filmen im Kern auch immer um „Lehrstücke“ handelt.
Auf das soziale Tier im Elend, den Menschen, der von seiner Gesellschaft im Stich gelassen werden, sieht die Kamera indes nicht von außen. Zuerst scheint sie wie zufällig in eine Situation zu geraten, dann aber übernimmt sie die Perspektive eines Handelnden. Nach und nach beginnen wir die Welt mit den Augen der Hauptfigur zu sehen. Das heißt: Die Kamera selbst vollzieht einen Akt der Solidarisierung. Dazu gehört auch, dass sie sich, anders als eine klassisch-dramatische Kamera nicht auf ein Schema von Aktion / Reaktion (Schuss / Gegenschuss) reduzieren lässt und nicht den dramatischen Ausschnitt allein wählt, sondern den Menschen in seiner Welt sichtbar macht. Immer wieder sehen wir in einem Dardenne-Film einen Menschen, der hierhin oder dorthin gehen, dieses oder jenes tun könnte, und dies in einer Umwelt, die Ausweg um Ausweg zu verbauen scheint. Das Elend wie die Hoffnungen des sozialen Tieres sind auf den Zuschauer übergegangen. Niemals ist der Mensch auf der Leinwand so determiniert, dass er keine Entscheidungen mehr treffen könnte. Das ist das schönste Ende jeder moralischen Fabel, auch wenn sie in der Hölle einer Welt ohne Gesellschaft spielt.
Das Kino der Dardennes erobert den Raum, obwohl es ja auf ein sehr spezielles Soziotop beschränkt ist, indem es ihre Figuren erst einmal in Bewegung setzt. So verknüpft die Erzählung gesellschaftliche Elemente miteinander, statt sie hierarchisch zu schichten. In der Bewegung der Heldin von „Zwei Tage, eine Nacht“ entfaltet sich das Bild dieser Gesellschaft im Nieder- oder im Übergang: Nachdem ihr Arbeitgeber die Belegschaft einer kleinen Firma unter Druck gesetzt hat, der Entlassung von Sandra zuzustimmen und dafür einen einmaligen Bonus zu erhalten, bleibt ihr ein Wochenende, zwei Tage und eine Nacht, um ihre Kollegen umzustimmen. In einer geheimen Wahl sollen sie entscheiden: 1000 Euro gegen das soziale Leben einer Kollegin. Es ist die Frage an jeden einzelnen. Ob es das Soziale noch gibt.
Hierin vielleicht liegt der eigentliche Schritt der Dardenne-Brüder, der in der Tat zu einer Rückeroberung des sozialen Raums führen kann. Und aus der Depression, die Filme häufig auslösen, wenn sie die soziale Wirklichkeit so genau ansehen wie es die Dardennes tun. In allen diesen filmischen Lehrstücken aus der Unterschicht von Seraing kommt der Augenblick, da die Protagonisten erkennen, dass sie Handelnde sind. Dass sie entscheiden können, und daher: dass Veränderung möglich ist. Deswegen geschehen noch keine Wunder, gibt’s noch keine Revolution, wird Seraing kein Paradies. Aber da ist die Möglichkeit einer neuen Gesellschaft. Und deshalb muss jemand wie Sandra auch nicht den nächsten Autobus nehmen. Sie bleibt in Seraing. Denn Gesellschaft existiert nicht, da hatte Maggie Thatcher recht. Sie geschieht. Durch uns.
Georg Seeßlen
zuerst erschienen in DIE ZEIT
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