Gegen das Wirtschaften des Neoliberalismus ist kaum ein Kraut gewachsen. Das bemerkt man auch in der Kultur, die im Wortsinne unberechenbar ist.
Wir leben in nebligen Zeiten. Schon ein Gespräch über ein Fußballspiel ist ein kleines Verbrechen. Denn offensichtlich wird die Wahrheit im Fußball nicht mehr vorwiegend auf dem Platz produziert, sondern durch Kontobewegungen, Übertragungsrechte, Trikotwerbung, Ablösesummen, Immobiliengeschäfte und Managermacht. Ein Jenseits, ein Darüberhinaus, wenigstens ein Daneben zur Ökonomie gibt es nicht mehr. Der Homo oeconomicus ist verbindliche Wirklichkeit geworden und die ganze Welt nur noch mithilfe der drei Ws zu verstehen: Wirtschaft, Wettbewerb, Wachstum. Wer vom Geld und seiner Zirkulation für einen Augenblick schweigen möchte, der muss sich das leisten können.
Wenn wir auch sonst nicht viel wissen von den geheimen Verhandlungen zwischen der EU-Kommission und den US-Amerikanern zum „Freihandelsabkommen“, so hat man doch raunen hören, dass auch „Kultur“ eine Rolle dabei spielt. In Frankreich will man just diese Kultur ausklammern. Eine kulturelle Schutzzone gegen den Angriff der Konzerne auf das Leben der Menschen? Herr, du meine Güte: Wie soll das gehen? Und was ist überhaupt „Kultur“?
Nennen wir „Kultur“ alle jene Dinge und Ereignisse, die soziale und ästhetische Elemente miteinander verknüpfen und die sich nicht direkt als Ware oder Dienstleistung amortisieren lassen beziehungsweise Profit abwerfen. Sie benötigen offensichtlich Finanzierungsmodelle, die weder dem freien Markt gehorchen noch dem steuerbasierten Fürsorgemodell staatlicher Aufgaben.
Die Finanzierungslücke für Kultur ergibt sich durch einen strukturellen Widerspruch zwischen Investition und Profit. Das Generieren von individuellem und kollektivem Gewinn ist deshalb nicht ausgeschlossen, aber es bleibt unberechenbar. Kurzum: Kultur, wie wir alten Europäer sie verstehen, existiert nur gegenüber der Ökonomie: also nicht unabhängig von ihr, aber eben auch nicht als Teil von ihr.
Vom Hirten gefüttert und geschlachtet
Dieses Modell einer spannungsreichen Verbindung von Ökonomie und Kultur hat auch seine Tücken. So sind Ökonomie und Kultur oft genug freiwillige oder unfreiwillige Verbündete bei der Erzeugung gesellschaftlicher Hierarchien. Sie besorgen gemeinsam die gar nicht so kleinen Unterschiede in einer Klassengesellschaft. Das Modell bietet einen Kampfplatz der Komplizenschaften zwischen privaten Sponsoren und staatlicher Kulturbürokratie. Kultur in ihrer ganzen Bandbreite wird also immer beides zugleich: von ihren Hirten gefüttert und geschlachtet. Wohin aber mit der Kultur in einer Zeit des unsinnigsten Überflusses der Ökonomie, in der der Staat seine Hauptaufgabe darin sieht, zuerst die Konkurrenten und dann die Bevölkerung kaputtzusparen?
Die „alte“ Kultur ist dem neuen Kapital ein Dorn im Zeh. Zum einen ist sie, da der alte Staat ihr im vorigen Jahrhundert viele Privilegien eingeräumt hat, immer noch eine Brutstätte von Kritik und Widerstand. In der Kultur wird gelegentlich noch über den Finanzkapitalismus und seine politische Oligarchie hinausgedacht. Und so nützlich es sein mag, dass sich der Zorn der verbliebenen Dissidenz kulturell austobt, so unsicher bleibt doch diese „wilde“ Zone, die es daher dringend zu kolonialisieren gilt. Zum anderen konstituiert sie immer noch, was der globale Neoliberalismus nicht mehr brauchen kann: Gesellschaft.
So setzt man sich als Ziel die Umwandlung der Kultur in eine „Kreativwirtschaft“ mit angeschlossenem Markt. Nicht mehr um Zukunft und Transzendenz geht es in der zu Kreativwirtschaft und Entertainment verkommenen Kultur, sondern um das Generieren von Marktwerten. Unter solchen Bedingungen wird Kultur nicht zum Gegenüber, sondern zur Karikatur der Ökonomie.
Im Freihandelsabkommen wird nicht nur verhandelt, was die Ökonomie mit der Kultur alles anstellen darf, sondern was Kultur überhaupt ist. Ist sie ein Grundrecht, das ein Rechtsstaat seinen Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung zu stellen hat? Oder ist sie ein Luxus, den sich nur einzelne leisten können und die Gesellschaft höchstens, wenn sie ihre anderen Aufgaben wie Kindertagesstätten, Straßen, Kriegführen und Rentensysteme erledigt hat? Ist Kultur ein „freier Raum“, in dem Menschen wahrnehmen, diskutieren und „machen“ können, ohne von Staat und Ökonomie behindert, kontrolliert, missbraucht zu werden? Oder ist Kultur die geschmeidigste und anmaßendste Verbindung der Interessen von Postdemokratie und Finanzkapital: oligarches Privileg einerseits, Unterhaltung für die unnützen Massen andererseits?
Kultur-Privatisierungs-Kaste
Der Kapitalismus, das ist nun mal seine Art, will wachsen und wuchern. Ökonomisierung, Kapitalisierung und Privatisierung müssen immer mehr Bereiche des Lebens erfassen, und es muss immer fundamentaler werden. Daher gilt es, die Fähigkeiten und Instrumente von Menschen, über ihre Alltagsinteressen und ihren Überlebenskampf hinaus zu sehen, zu hören und zu tasten, unter das Diktat der Ökonomie zu zwingen. Die Medienkonzerne wissen, warum sie ihre Lobbyistenheere ausschwärmen lassen, um beim geplanten Freihandelsabkommen der Kultur keine Schlupflöcher und keine Schutzzonen zu lassen. Es geht nicht um die „Subvention“ des Murxenbacher-Museums in Mönckersheim, nicht um den Abbau von „Kulturbürokratie“, nicht um Buchpreisbindungen und Steuerbegünstigungen. Es geht ums Prinzip, nämlich um den Systemwechsel der Kultur. Wenn die Frankfurter Allgemeine Zeitung auf ihren Wirtschaftsseiten von Kultur spricht, dann nennt sie die Adressaten nur „Kunden“, an deren „Bedürfnissen“ eine „staatlich alimentierte“ Kultur „vorbei produziere“. Das ist die konsequente Strategie einer Kaste, die Kultur privatisieren will.
Aber hey, vielleicht vertun sich die neuen Herren der Welt. Vielleicht lässt sich die Kultur gar nicht so leicht in ihrem Sinne umbauen und der Beginn des Widerstands der Kultur gegen das Freihandelsabkommen ist auch der Beginn eines politischen Widerstands dagegen. Man sollte sie nicht unterschätzen, die gute alte Kultur.
Georg Seeßlen, taz 20-04-2014
Bilder: jeweiser.de
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