Kleine Film-Geschichte der IRA und des „Troubles“ in Nordirland
Wenn es um Terror geht, dann hat das westliche Mainstream-Kino eine sehr klare Verteilung der Rollen. Schurkische, fanatische, brutale und wahnsinniger Täter auf der einen Seite, und auf der anderen unschuldige Opfer, und zwei Arten von Helden: die einen, die zivilen, die sich dem Terror und seinen Folgen stellen, um sich bis zum Tod das Menschliche nicht nehmen zu lassen, und die anderen, die mit gleicher Gewalt und gleichem heiligen Zorn zurückschlagen. Das Verhältnis zwischen Täter, Opfer und Held bestimmt dabei den Grad.
Je näher man einem terroristischen Zusammenhang kommt, desto schwieriger wird eine solche klare Frontenbeschreibung, wie man insbesondere in den cineastischen Reaktionen auf die Geschichten der RAF in Deutschland oder die „bleierne Zeit“ in Italien sieht. Nicht weil man etwa die Motivation von Terroristen besser verstehen könnte, eher im Gegenteil: Wenn man dem Terror nahe kommt, muss man erkennen, dass sich da keine Fremden gegenseitig massakrieren, sondern „nächste“, Menschen, die einst Nachbarn waren, Menschen, die, wenn sie sich nur dazu entschließen könnten, miteinander statt gegeneinander zu wirken, eine Menge Probleme lösen könnten. Menschen, in denen etwas kaputt gegangen sein muss, damit sie so mörderisch werden könnten, aus guten Gründen, wie sie selber glauben mögen. Je näher man den Gesten von Terror und Gegenterror kommt, desto furchtbarer, unerklärlicher, widersprüchlicher, am Ende unmenschlicher müssen sie einem erscheinen.
Der Konflikt zwischen Irland und England, der eine so lange Geschichte von Terror und Gegenterror hervorgebracht hat, ist uns auf diese Weise so nah und so fern zugleich. Man kann versuchen, ihn zu erklären, als einen religiösen, als einen sozialen, als einen ökonomischen, als einen politischen (zwischen Republik und Monarchie) und, wenn man schon so will, auch als einen „nationalen“. Irgendwann jedenfalls hatte die Kette des Unrechts, wie in ähnlichen Zonen des Terrors, einen unumkehrbaren Zustand der negativen Identitäten geschaffen. Man definiert sich selber angesichts des nahen „Feindes“, alles tut gut, was dem anderen weh tut. Und während sich die Linie zwischen dem Eigenen und dem Anderen (das einem doch so ähnlich ist) schärft, verschwimmen alle anderen Grenzen der Moral, der Politik, der Allianzen. Alles scheint gerechtfertigt in diesem mehr oder weniger „heiligen“ Krieg, auch die Allianz mit dem Verbrechen, auch die mit einem äußeren Feind (wie dem deutschen Faschismus), auch der Verrat, auch die Grausamkeit gegen Unschuldige, auch das Rekrutieren von Kindern. Der Terror wird Teil der eigenen Person, der eigenen Familiengeschichte. Aus dem Teufelskreis heraus kommt so leicht keiner.
Vielleicht ist es eine der geheimen Aufgaben des Kinos, dem Terror und seinen Bedingungen nachzuspüren. In der Rebellion der IRA, der Irish Republican Army gegen eine Besetzung von Nordirland und in den brutalen Maßnahmen zu ihrer Unterdrückung zum Beispiel, wo sich mehr offenbart als die konkrete Tragödie einer historischen Entwicklung. Immer wird hier auch das Mensch-Sein verhandelt. Das Mensch-Sein inmitten der Gewalt, des Misstrauens, des Hasses, der Angst. Oder die Unmöglichkeit davon.
DIE WURZELN DES ZORNS
Die Konflikte haben eine lange Geschichte, und eine lange Filmgeschichte. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass einer der ersten Filme, die sich mit dem irisch-englischen Konflikt beschäftigte, THE INFORMER (1929) von dem deutschen Migranten Arthur Robison ist, die Geschichte eines Mannes zwischen den Fronten. Denn in allen Filmen über den irisch-englischen Konflikt geht es auch um das, was man auf dieser Seite des Kanals „Heimat“ nennt, um das Recht darauf, und darum, wie Heimat verloren geht, gerade weil man es mit allen Mitteln zu verteidigen meint. John Ford, der seine irischen Wurzeln nie verleugnete, hat eine Reihe von Filmen über seine verlorene Heimat gedreht, Fabeln der Gewalt und der Identität. Seine Verfilmung des Romans von Liam O’Flaherty, THE INFORMER (1935), ist natürlich ungleich bekannter, nicht nur weil Robisons Arbeit zu den unglücklichen Hybriden zwischen Stumm- und Tonfilm gehört. Gypos (Victor McLaglen) Tragödie beginnt damit, dass er sich weigert, eine Exekution auszuführen, und sie endet in einer Kirche, mit einer doppelten Vergebung. Durch den Menschen und durch Gott. Eine Szene, die sich immer wiederholen wird, denn der mörderische Konflikt hat nicht nur eine religiöse Grundierung. Religion scheint auch der einzige Ausweg, die einzige Gnade, nicht selten für Menschen, denen auf Erden nicht zu helfen ist.
Die andere Seite bildet der reine Held, Michael Collins, dem H.C. Potter im Jahr 1936 ein wenngleich sehr stilisiertes Gedenken bereitete: BELOVED ENEMY erzählt vor allem eine Liebesgeschichte zwischen dem irischen Rebellen und der englischen Lady, Brian Aherne und Merle Oberon. John Ford hatte, wie auch in THE QUIET MAN, hinter dem Konflikt ein rurales Paradies gesehen, einen Sehnsuchtsort der grünen Täler und der zärtlich-rauen Familien. In BELOVED ENEMY sind sogar die Frisuren ausschließlich melodramatisch.
Aber der Konflikt war ja auch weit entfernt in Zeit und Raum; denn immer hatte es eine andere Option gegeben. Die Heimat zu verlassen, ins Land der Freien und Tapferen. Nicht nur bei John Ford ist der Western, unter vielem anderen, eine Fortsetzung des irischen Freiheitskampfes (woran, eher unglücklich, Sergio Leone mit GIÙ LA TESTA, anzuknüpfen versuchte).
Als 1947 Carol Reed im britischen Film das Motiv wieder aufnahm, da war ein weiteres Kapitel des Konfliktes geschrieben, das eines Krieges im Krieg, und das einer weiteren „Verschmutzung“ des Narrativs. ODD MAN OUT ist die maßgebliche Studie über die schreckliche Entfremdung des Menschen in diesem „irischen Problem“. Von Anfang an kann es hier keine klassischen Helden und keine klassischen Schurken geben. Es ist stattdessen die furchtbare Reise eines verwundeten Mannes (James Mason) in den Tod. Durch die Stationen einer negativen Passion. Und durch eine Gesellschaft, die an ihm auch moralisch zugrunde geht. Und auch hier gibt es die Kette der Schuld, den Verrat und die Religion als Grundmotiv: Johnny McQueen wird bei einem Überfall verletzt, den die Leute des irischen Widerstands durchführen, weil sie Geld brauchen, und dabei wird auch ein Bankkassierer erschossen. Während er durch die nächtliche Stadt irrt, suchen ihn seine Freunde und seine Geliebte, aber gerade als er den rettenden Hafen erreicht, trifft ihn die tödliche Kugel. Da war er seinem Todesengel allerdings schon begegnet. Auf einem Schuttabladeplatz.
Zehn Jahre später versuchte Michael Anderson in SHAKE HANDS WITH THE DEVIL die Mechanismen der Verstrickungen nüchterner und präziser zu beschreiben. Es wird niemandem gelingen, sich aus dem Konflikt herauszuhalten, auch und gerade nicht dem Arzt, der heilen will, und der vom Töten im Ersten Weltkrieg genug hat. Der Friede zwischen der IRA und den Black & Tans (der paramilitärischen Organisation, die nach 1920 den irischen Aufstand niederschlagen sollte). Das Empfinden von Filmen wie diesem glich dem der Zeit, in der sie spielten: Der Zweite Weltkrieg war vorüber, mit Mühe und Not hielt der Waffenstillstand im darauf folgenden Kalten Krieg, aber da war kein dauerhafter Frieden in Belfast. Nur ein vorübergehendes Vergessen.
In den folgenden Jahren spielte der Konflikt vor allem in historischen Panoramen ihre Rolle, wie in RYANS DAUGHTER (1970) von David Lean bis THE EAGLE HAS LANDED (1976) von John Sturges, als Seitenkonflikt im großen Krieg. In die Gegenwart, immerhin, führt HENNESSY (1975) von Don Sharp, die Rachegeschichte eines im Herzen friedliebenden Mannes, der seine Familie durch eine Bombe verliert. Man sieht in diesen Filmen, so unterschiedlich sie sind, wie die Geschichte enteignet wird, wie sie sich im Genre auflöst.
DER ENDLOSE KRIEG
THE LONG GOOD FRIDAY (1980) von John Mackenzie ist, soviel ich weiß, der erste britische Film, der sich mit der Gegenwart des Terrors auseinandersetzt. Und auch hier geht es nicht um den Konflikt selber, sondern um die Auswirkungen, die er auf die Menschen der Krisenzeit hat. Bob Hoskins ist der Gangster in London, der sich durch die Anschläge der IRA in seinem Reich gestört fühlt und seinen eigenen Krieg mit der Untergrundarmee beginnt, mit sehr blutigen Folgen. Wie Résistance und Algerienkrieg einst im französischen Gangsterkrieg der fünfziger und sechziger Jahre, so spukten die „Troubles“ in Nordirland und die Terrorakte der IRA im britischen Gangsterfilm der achtziger Jahre, wenn auch nicht immer so explizit wie in THE LONG GOOD FRIDAY. Erst vor diesem Hintergrund einer Stimmung von Unsicherheit und Gewalt wurde es möglich, sich genauer mit Einzelschicksalen zu beschäftigen.
Es sind, genauer gesagt, vor allem Geschichten von Menschen in den ausweglosen Falle von Loyalität und Moral. Diese Ausweglosigkeit zeigt sich etwa in Filmen wie MAEVE (1981 – Regie: Pat Murphy, John Davies), der Geschichte einer jungen Frau aus Belfast, die nur scheinbar dem Konflikt entkommen ist, um in London ein neues Leben zu beginnen. Der Film schildert dieser Flucht (unter anderem die Art, wie man durch jede noch so zarte Beziehung unweigerlich in den Konflikt hineingezogen wird) und die Wunden, die sie hinterlassen hat. Noch drastischer führt der Weg zwischen den Fronten den Protagonisten in CAL (1984) von Pat O’Connor in ausweglose Schuld. Fast ohne zu wissen, worauf er sich da einlässt, gerät Cal (John Lynch) in Ulster in die Mordkomplotte der IRA und wird mitschuldig am Mord an einem Polizisten. Und dann verliebt er sich in die Witwe des Ermordeten (Helen Mirren): Es gibt in diesen „Troubles“ weder Öffentliches noch Privates; alles versinkt in einer endlosen Kette der Gewalt im Maquis.
Der international erfolgreichste Film zum Nordirland-Konflikt in diesen Jahren wurde A PRAYER FOR THE DYING (Auf den Schwingen des Todes – 1988) von Mike Hodges, die Geschichte eines Mannes, der vergeblich aus dem Kreis der Gewalt aussteigen will. gehört zu der Reihe der Filme, die von einem Mann erzählen, der aus dem Teufelskreis der Gewalt aussteigen will. Vielleicht ist es der Film, der die Motive, die das Kino bislang zur Darstellung des Konfliktes gefunden hatte, am konsequentesten miteinander verband: Den einsamen, dem Tod geweihten Mann, Martin Fallon (Mickey Rourke), der endlich seine verschüttete Menschlichkeit entdeckt, als er bei einem Anschlag versehentlich einen Bus mit Schulkindern statt mit britischen Soldaten in die Luft jagt. Der vergebliche Versuch, das Land zu verlassen. Die Begegnung mit Kirche und Gnade, die letzte Liebesgeschichte, und die Geschichte des Verrats. Die Verbindungen zum organisierten Verbrechen. Und schließlich das Opfer.
Gegenüber der mythopoetischen Verdichtung von A PRAYER FOR THE DYING hatten es die historisch-kritischen Filme so schwer, wie die leichteren Genrefilme. Zweimal beschäftigte sich Lawrence Gordon Clark, eher indirekt, mit dem Thema: In HARRY’S GAME (1982) geht es um einen Agenten, der sich in die IRA einschleusen lässt, um den Anschlag auf einen britischen Minister vereiteln, und in ACT OF BETRAYAL um einen IRA-Verräter, der in Australien eine neue Identität annimmt, doch auch in der neuen Heimat vom langen Arm des Terrors erreicht wird. Typisches Thriller-Handwerk, gewiss, und doch spiegelte sich gerade in den in jeder Hinsicht heimatlosen Helden dieser Filme das Dilemma eines sich selbst fortzeugenden Konflikts: Wenn der Held, wie im ersten Film, den Menschen, die er bekämpfen soll, zu nahe kommt, beginnt er sie zu sehr als Opfer zu sehen, um sie noch bedingungslos hassen zu können, und wenn er sich von ihnen entfernen will, dann holen nicht nur die Killer ihn ein, sondern auch seine eigenen Empfindungen.
Ein neues Mittel im Kampf entsteht: der Hungerstreik. Noch mehr als zuvor rotieren darin Elemente von Täter und Opfer. Der Hungerstreik in Nordirland und die Attentatswelle in England bildet den Hintergrund von HOSTAGE (1984 – Regie: Aisling Walsh): Bei einer Geiselnahme durch eine Zelle des irischen Untergrunds beginnt eine junge Frau, sich ihren Zweifeln zu stellen, an der Begründung wie an den Methoden des Kampfes. Kein Zweifel: Die Anzahl der Filme, die zu Mitte der achtziger Jahre über den Terror und den Gegenterror gedreht wurden, sprechen von einer Sehnsucht nach dem Frieden. Darf man hoffen, sie hätten ein wenig zu den Versuchen beigetragen, der Gewalt zu entkommen?
DIE METAPHER DES UNFRIEDENS
Am Ende der neunziger Jahre schien ein prekärer Frieden möglich. Vielleicht noch lange kein friedliches Miteinander, aber doch ein wechselseitiger Verzicht auf Gewalt und Provokation. Immer noch konnte man erschrecken über die Bilder von Mauern, die Protestanten von Katholiken trennten, ebenso wie vom sozialen Elend, das an ihnen nicht Halt machte. Und die Gewalttaten der „New IRA“ waren in frischer Erinnerung.
Die Filme dieses Jahrzehnts hatten sowohl ihren religiösen Subtext als auch ihren appelativen Charakter weitgehend verloren. Es ging nun um zwei andere Aspekte, um die Versuche von Gesten der Versöhnung, aber auch um ein historisches revivre, die Suche nach Ursachen dieses sozialen Krieges, nach Lehren, die man daraus ziehen könnte, aber auch eine Erinnerung an die Opfer. In Ulster gab es keine Tagesordnung, zu der man hätte wieder über gehen können.
In der ersten Hälfte des Jahrzehntes beschäftigten sich die Filme vor allem mit dem Streu- und Nach-Effekt des Terrors. In diesem Konflikt waren unter anderem „lebende Zeitbomben“ erzeugt worden, die nun überall in der Welt auftauchen konnten, vorzugsweise natürlich in den USA, wie der Ex-IRA-Terrorist auf der Suche nach seinem Verräter in BLOWN AWAY (1994 – Regie: Stephen Hopkins), der IRA-Terrorist mit der schrecklichen Mission in New York in Alan J. Pakulas THE DEVIL’S OWN (1997), der ausgerechnet in der Familie eines gutmütigen Polizisten Unterschlupf findet oder, ganz anders, der IRA-Häftling in A FURTHER GESTURE (1996) von Robert Dornhelm, der zum Geburtshelfer einer revolutionären Zelle im südamerikanischen Befreiungskrieg wird. Die IRA und ihre Splittergruppen waren in den neunziger Jahren zu einer Metapher eines globalen Misstrauens geworden. Und es kann auch jeden treffen, auch wenn er ursprünglich so wenig mit dem Konflikt zu tun hat wie der amerikanische Agent Jack Ryan in PATRIOT GAMES (1992 – Regie: Philip Noyce), oder der Soldat in Neil Jordans THE CRYING GAME (1993), der von einer IRA-Gruppe als Geisel genommen wird und eine sehr persönliche Beziehung mit einem seiner Entführer entwickelt. Wie weit man damals noch von einer Bereitschaft zur Versöhnung entfernt war, zeigt im übrigen wohl der Umstand, dass der Film in England selber ein ökonomisches Desaster wurde: Das Publikum war hier noch nicht bereit, Sympathie mit einem IRA-Mitglied zu entwickeln.
IN THE NAME OF THE FATHER (Im Namen des Vaters – 1993) von Jim Sheridan machte es ihm immerhin insofern leichter, als er die wahre Geschichte von Vater und Sohn zeigt, die unschuldig unter die Anklage gestellt wurden, als Mitglieder der IRA für das Bombenattentat der „Guildford Four“ im Jahr 1974 verantwortlich zu sein. Ganz buchstäblich scheint dieser Film (freilich gleichzeitig großes Schauspieler-Drama) für eine Wiederaufnahme der historischen Prozesse zu plädieren. Noch war man weit entfernt von einer neuen filmischen Anklage gegen die Brutalität der britischen Seite wie in BLOODY SUNDAY, der den Angriff auf den Bürgerrechtsmarsch im Jahr 1972 wiedergibt, oder Steve McQueens HUNGER einzigartig „nahe“ Studie über den Hungerstreik von Bobby Bland.
Aber zweifellos gehörte ein Perspektivwechsel zu den Filmen dieses Jahrzehnts: Der Terror der IRA hatte seine Wurzeln nicht nur in einer Ur- und Vorgeschichte von unlösbaren Konflikten zwischen einem Land, das lieber für sich bliebe, und einem Empire, das so etwas nicht dulden konnte, sondern auch in sehr konkreten Handlungen von Unrecht und Gewalt.
Geschichten der (versuchten) Versöhnung erzählen Filme wie THIS IS THE SEA (1996 – Regie: Mary McGuckian), eine Liebesgeschichte aus der Gegenwart, über die Grenzen hinweg, und immer noch unmöglich genug, oder Jim Sheridans THE BOXER (1997), die Geschichte des IRA-Mannes Danny Flynn, der nach 14 Jahren Gefängnis noch einmal an seine Karriere im Ring anknöpfen möchte, aber dessen Freunde von einst seinen Abschied vom politischen Terror nicht akzeptieren, schon gar nicht die Gründung einer Boxschule, in der die alten Fronten nicht mehr gelten sollen. Vom langen, verzweifelten Weg zu den Gesten der Versöhnung erzählt auch noch Oliver Hirschbiegels FIVE MINUTES OF HEAVEN (2009), und von der Rolle, die die Medien dabei spielen (so oder so): Vor der TV-Kamera sollen sich Alistair Little, der einst Jim Griffin erschoss, und dafür 13 Jahre im Gefängnis saß, und der Bruder seines Opfers versöhnen, 33 Jahre später. Möglicherweise aber geht es dabei nicht um Versöhnung, sondern um Rache. Vielleicht ist das eine vom anderen wirklich nur einen Lidschlag von Geschichte und Bewusstsein entfernt.
MILLENIUM, NO PEACE
Das ständige Wiederaufflackern der Konflikte und die Unfähigkeit der englischen Politik, die eigenen Versäumnisse im nie erklärten Bürgerkrieg zu reflektieren und zu korrigieren, ließen zu Beginn des neuen Jahrhunderts die Filme wieder rauer und unversöhnlicher werden. Das Kino (und manche Fernsehproduktionen) sahen zurück, und konnten die Augen nicht davor verschließen, dass die Wunden noch offen waren, wie Paul Greengrass 2001 in BLOODY SUNDAY zeigte. Am 30. Januar 1972 hatte die britische Armee 13 unbewaffnete Teilnehmer des Bürgerrechtsmarsches erschossen und 14 weitere schwer verwundet. 24 Stunden lang dauerte dieser blutige Sonntag in Derry, den Greengrass in einer dokumentarischen Haltung ohne jede mythische Überhöhung wiedergibt. Es ist ein Lehrstück darüber, wie Kräfte, die „die Ordnung“ aufrecht erhalten sollen, sie fundamental zerstören. Für Greengrass und die meisten Filme mit diesem Motiv, die in den Jahren nach 2000 gedreht wurden, gibt es keine Flucht mehr in die Metaphern, und für die Protagonisten gibt es keine Flucht mehr in irgend eine Form der religiösen Gnade. Es geht nicht um Opfer, es geht um Mord.
Greengrass konzentriert sich in seinem Film ganz auf die Geschehnisse des Tages selber. Mit mehr Hintergrundinformationen wartet dagegen SUNDAY (Regie: Charles McDougall) auf, der im selben Jahr entstand.
Paul Greengrass seinerseits war als Produzent auch an OMAGH (2004 – Regie: Peter Travis) beteiligt, auch dies eine direkter Realität orientierte Studie über das Bombenattentat der IRA vom August 1998, bei dem 29 Menschen das Leben verloren. Die Omagh-Gruppe setzt sich aus Angehörigen der Opfer zusammen, die sich verpflichtet fühlt, in ihrem Namen die Wahrheit über diesen Terroranschlag herauszufinden. Stilistisch Greengrass’ BLOODY SUNDAY eng verwandt, reflektiert OMAGH die andere Seite der Gewalt: Vielleicht wird erst in diesen Jahren möglich, auch im Film das wirkliche Ausmaß der Brutalität auf beiden Seiten zu zeigen.
Diese Brutalität umfasste auch den eigenen Körper, wie der Hungerstreik im Maze Gefängnis zeigte, und dessen Hintergründe etwa der Film H3 (2001 – Regie: Les Blair) erkundet. Ganz aufs Existentielle bezieht sich dabei Steve McQueens THE HUNGER (2008), die Geschichte des Hungerstreiks, der von Bobby Sands im Jahr 1981 angeführt wurde. Auch hier sind wir nicht mehr in einer Metaphernsprache des Kinos; der Darsteller von Sands, Michael Fassbender, begab sich selbst in die Hölle des Hungerns, um zu vermitteln, was in den 66 Tagen bis zum Tod von Bobby Sands geschah. Es war die einzige Möglichkeit, die britische Regierung zu zwingen, die IRA-Häftlinge als politische Gefangene zu akzeptieren. Wenn dies auch nie offiziell geschah, so waren doch symbolische Zugeständnisse ein Erfolg dieses öffentlichen Selbstmordes, etwa das Recht, Zivilkleider in der Haft zu tragen. Haben da stolze Menschen einen Sieg für ihre Würde davongetragen? Oder wandte sich die Bereitschaft zur Gewalt schließlich gegen sich selbst? Es gibt darauf keine eindeutigen Antworten.
Sie sind auch in der Geschichte nicht zu finden. Nicht in einem neuerlichen, nun an historischen Tatsachen orientierten Portrait von MICHAEL COLLINS (1996 – Regie: Neil Jordan) und nicht in Ken Loachs THE WIND THAT SHAKES THE BARLEY (2006). Im Gegenteil: Auch die Rückkehr zu den Wurzeln der Konflikte gelangt nur zu Menschen, die in großer Verzweiflung das Falsche tun. Weil es das Richtige nicht gibt. Und deswegen kehrt auch der Film zum Kern des „Trouble“-Narrativs zurück, zum Verrat als letzte Geste der Menschlichkeit. Bei Kari Scogland in 50 DEAD MEN WALKING (2008) nach der Autobiographie von Martin McGartland als Versuch, in ständiger Gefahr von Folter und Tod durch den Verrat Menschenleben zu retten. Mit SHADOWS OF A DANCER (2012) von James Marsh schließt sich der Kreis; wieder geht es um den „Verrat“ als zugleich einzigen und unmöglichem Ausweg. Es ist die Geschichte einer IRA-Kämpferin die zur Verräterin wird, um ihren Sohn zu retten. Und es ist, wie bei John Fords INFORMER ein verlorener Kampf um die Menschlichkeit. Nur das göttliche Licht der Gnade, das Gypo Nolan noch aufnahm, das ist nicht mehr da.
Georg Seeßlen, epd-Film
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