Ein Star ist unverwechselbar und durchschnittlich, unerreichbar und immer schon da, magisch und doch wie ein Mitglied der Familie
Ein Ereignis wie die Wahl zum deutschen Bundestag hat unterschiedliche Funktionen, von denen manche sich widersprüchlich zueinander verhalten. Die Wahl ist, vor allem anderen, ein Akt der Legitimation. Noch bevor wir uns entscheiden, wem wir unsere Stimme geben, erklären wir uns nicht nur mit dem System der repräsentativen Demokratie, sondern auch mit dem begrenzten Personal und den begrenzten Ideen der vorhandenen „politischen Klasse“ einverstanden.
Die Wahl ist auch eine Interessen-Überlegung. Trotz der Angleichung der Volksparteien untereinander, trotz des Wissens um den Lügen-Anteil in den sogenannten Wahlversprechen besteht ein Rest der Hoffnung, durch die Wahl jene Kräfte zu stärken, die am ehesten unsere Interessen vertreten. Aber die Wahl ist auch ein Akt der Abbildung. Wir tendieren am Ende zu jener Kandidatin oder jenem Kandidaten, der uns am meisten entspricht. Er oder sie soll uns aus der Seele sprechen und ein Spiegelbild unserer Ängste und Begierden sein. Und schließlich: Die Wahl ist eine Inszenierung, in der für kurze Zeit der Raum zwischen Bühne und Publikum geöffnet wird und die Rollen neu verhandelt werden. Das ist eine Sache der Performance, der Kostüme, des Lichts, der Stimme, der Gestik und Mimik und jener Eigenschaft, die wir an anderer Stelle Star-Qualität nennen würden.
Keine der großen Traumfabriken dieser Welt hat es bislang vermocht, die Star-Qualität vollständig berechenbar und vollständig herstellbar zu machen. Aber alle haben Techniken entwickelt, sie herauszustellen, sie zu verstärken, sie aus einem Potenzial in die Erscheinung zu übertragen. Wenn ein Star geboren ist, dann scheint die komplette Traumfabrik für ihn zu arbeiten; dann nimmt die Beziehung zum Publikum rasch irrationale und metaphysische Züge an. Der Star, wie der Stern am Himmel, leuchtet, weist den Weg, vermittelt Trost. Und der Superstar ist einer, der noch die anderen Stars überstrahlt, eine Sonne vielleicht.
Offensichtlich müssen wir es uns angewöhnen, das Auftreten der politischen Klasse im allgemeinen und die Wahlkämpfe im Besonderen als eine Traumfabrik anzusehen. Ihr Produkt ist ein Traum von der richtigen Ordnung und von Gesichtern, die sie repräsentieren. Ihre Maschinisten sind Spin-Doktoren, Medienberater, Eventmanager, Lead-Agenturen, Designer, Fotografen, Bildbearbeiter, Regisseure, Sprachtrainer, Psychologen und Werbefachleute. Das Ziel ist die Verwandlung des Politikers in einen Star.
Und zur Inszenierung des Politikers als Star gehört die Inszenierung und Selbstinszenierung des Publikums als Fans. Bei einem wie Horst Seehofer hat das die klassische Form der Bierzelt-Johler, bei Angela Merkel ist das subtiler, wie etwa ein Foto belegt, dem wir in diesen Tagen immer wieder begegnen: Da wird sie, im Outfit des schon markenzeichenhaften Hosenanzugs aus dem schwarzen Fastback-Auto steigend, von einer Gruppe junger Frauen erwartet, die eher gecastet als spontan wirken, in der Art, wie sie möglicherweise die Mitglieder einer Boy Group begrüßen würden. Und sie halten „Angie“-Schilder in die Höhe, deren Design auf den ersten Blick wie das Logo eines neuen Discountmarktes anmutet. Was in diesem Bild auffällt, ist die Abwesenheit von Politik und einer dramatischen Logik. Die Technik jugendlicher Star-Beziehung wird auf eine Politikerin in gesetztem Alter übertragen. Es scheint zu funktionieren.
Sechs wesentliche Elemente des Startums
Die konventionelle Einzigartigkeit Ein Star ist zugleich unverwechselbar und durchschnittlich. Er ist eine ferne Projektion und ein inneres Erleben, unerreichbar und immer schon da. Er ist etwas anderes und der Durchschnitt des Normalen. Man kann es ihm nicht gleichtun, aber ihm nacheifern. Angie ist die Mutter der Nation (eine Rolle, die passenderweise in der TV-Landschaft gerade vakant ist) und zugleich ein Mensch zum Anfassen. Dass sie es von jenem Kohl’schen Mädchen, das schüchtern über den eigenen Status zu staunen scheint, zu einer Queen gebracht hat, die ihre eigene Entrücktheit genießt, ist eine Entwicklung, die wir aus dem Kino kennen.
Die Wunscherfüllung Ein Star hat die magische Übertragung in sich, das, was er repräsentiert, auch geben zu können. Freiheit zum Beispiel, Erfolg oder eben Sicherheit, Ordnung, wohliger Stillstand. Angela Merkel, darüber herrscht eine merkwürdige Einheit, verspricht, uns vor Veränderungen zu bewahren. Das Land, das sie behütet, will sie als Insel in der Welt vor Chaos und Niedergang schützen. Es gehört zum Wesen einer deutschen Mutter (der madre tedesca, wie die überprotektive Glucke spöttisch in Italien genannt wird), dass sie die Kinder auch rücksichtslos verteidigt und vorzieht. Der Umstand, dass Angela Merkel im Ausland so gehasst wird, bringt uns nur um so näher zu ihr: Ein Star ist immer auch ein imaginäres Familienmitglied.
Die Ambiguität Alle Stars führen uns in ein Reich, in dem gewisse Grenzen der sozialen und psychischen Ordnungen verschwimmen, die Grenzen zwischen den Klassen und den Geschlechtern, zwischen den Zeiten und den Räumen. Stars bilden Lösungen auf innere und äußere Widersprüche ab, und immer steckt in ihnen auch ein geheimes, maskiertes Begehren. Und eine geheime und maskierte Angst. Angie spricht weiblich in einer männlichen Sprache und umgekehrt, und für die jubelnden jungen Frauen mit den Schildern, gecastet oder nicht, mag sie das Mutter-Imago ein wenig auch auf die Rolle der älteren Schwester hin verschieben. Eine Schwester, die geschafft hat, was man selber noch anstrebt.
Die Problemlösung Ein Star verspricht nicht so sehr, ein Problem zu lösen, er selbst ist vielmehr die Lösung. Er erlaubt daher Regression, er enthebt uns der mühseligen Arbeit der Verbalisierung und Rationalisierung. Wir lieben Angie dafür, dass sie uns zu verstehen gibt, wir sollten uns nicht um die Feinheiten der Politik kümmern. Sie macht das schon.
Die Unverbindlichkeit Ein Star gibt uns viel und verlangt kaum etwas von uns, außer, dass wir ihm die Treue halten, dass wir kaufen, was er uns anzubieten hat. Dass wir sein Bild, seinen Namen, sein Logo hochhalten.
Wiedererkennbarkeit und Serialität Jeder Star hat neben seiner Erscheinung der Ganzheit viele Details und Zeichen der blitzraschen Wiedererkennbarkeit, die am Ende freilich auch immer ein letztes Geheimnis offenbaren. Bei Merkel sind das: das Rautenzeichen, die Hosenanzüge und die seltsamen Ketten. So wird aus dem Image das Ikon gewonnen: Auf einem gewaltigen Plakat sehen wir nichts als dieses Rautenzeichen. Was einerseits ein Fall für den tiefenpsychologisch geschulten Semantiker sein mag und andererseits von Peer Steinbrück, clownesk und pubertär genug, mit dem Stinkefinger beantwortet wird. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.
Erwähnte ich schon, dass die Star-Qualität stets etwas mit der sexuellen, familiären und geschmacklichen Ordnung der Gesellschaft zu tun hat? Die Angie-Schilder mit dem charakteristischen Sprechblasen-Haken erinnern gewiss nicht zufällig an die vertrauten Schilder über Lebensmitteldiscountern und ihren Widerschein im Fernsehen. Dort, wo man schon mehr zu Hause ist als in der eigenen Wohnung, sich seine Ration von Glück und Geborgenheit holt, herrscht dieselbe Mischung aus Hysterie und Langeweile. Angie ist wie eine Waschmittelmarke, und in ihrem ewig laufenden Werbefilm gibt es dieselbe Transformation: kollektive Begeisterung, die sich in privates Glück verwandeln soll. Einfamilienhaus, brave Kinder, schraubende und grillende Männer. Sie dürfen in aller Ruhe schrauben und grillen, weil Mutti so leicht alles wieder sauber kriegt. Es gibt nur einen Weg, den uns solch ein Star weisen will: den Weg nach Hause.
All das, also die Familien-Mythologie, die Star-Konstruktion, das Farbspiel und die Jubelinszenierungen sind keine in der Tiefe von Macht und Psyche verborgenen Dinge. Ihr Inszenierungscharakter ist so offensichtlich, dass wir weniger Betrogene bleiben, als zu Mitspielern werden. Im Vorfeld einer Bundestagswahl sollen wir nicht politisch wirken, wir sollen vielmehr vom Politischen erlöst werden. Angela Merkel kann das am besten, aber ihre Konkurrenten sind darin auch nicht schlecht.
Das Drama einer Wahl, das Ur-Geschehen einer Demokratie, ist mittlerweile in zwei Formen der Kontrolle gespalten, die sich die Gründer so wohl nie hätten träumen lassen: Auf der einen Seite ist das endlose Spiel von Zahlen, Umfragen, Statistiken, Hochrechnungen, Sonntagsfragen und repräsentativen Samples. Auf der anderen: Das Wahlvolk beobachtet sich selbst, es genießt seine Quantifizierung, es kokettiert mit seiner Berechenbarkeit, es weiß sich beobachtet und soll sich in dieser Beobachtung sicher fühlen: Guck mal, das sind ja wir!
In solcher Quantifizierung bin ich nicht so gottverdammt einsam mit meiner Entscheidung. Wir Wähler wandern, wir haben Wechselstimmungen oder nicht. Wir folgen Trends oder lösen welche aus. Wir werden geordnet und analysiert. NSA und Google setzen nur fort, was wir als Wähler schon gewöhnt sind: unsere Auflösung in Daten und Metadaten.
So ist die politische Welt als Wille und Vorstellung gespalten: hier die hyperrealistischen Zahlen und Daten und dort die meta-realistische Faszination durch den politischen Star. In beidem erhalten wir eine wunderbare Phantasie: Wir sind wichtig! Nur zu dumm, dass wir uns in Wahrheit bloß in einer Traumfabrik befinden.
Georg Seeßlen, der Freitag, 19.09.2013
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20. September 2013 um 10:18 Uhr
danke, das beste bisher zu den wahlen. dachte, man müsste dazu auf ewig baudrillard und karatani zitieren.