Ist Italien bereit und in der Lage, sich selbst das Ende
des Berlusconismus zu erklären.
Davon wird Alfred Jarry nicht geträumt haben, als er 1896 den Pere Ubu zu Papier und auf die Bühne brachte. Diese Karikatur von Egoismus, Gier, Dummheit, Niedertracht, Feigheit und Betrug, die an die Macht strebt. Geträumt davon nämlich, dass im Jahrhundert darauf eine Karikatur dieser Karikatur ein reales Land im realen Europa mehr als 20 Jahre lang in den Bann ziehen würde. Die Generation, die heute die „Leistungsträger“ der italienischen Gesellschaft stellen sollte, in Wahrheit aber nur die Wahl zwischen Rumhängen, sich Durchschlagen oder Auswandern hat, kennt nur den Berlusconismus als politisches System, mit kleinen Pausen zwischendurch, in denen freilich eine Rückkehr zu mehr oder weniger demokratischen Verhältnissen nicht gelingen konnte. Und man wird und wird ihn nicht los, den „Cavaliere“, mit all seinen Sexskandalen, Bestechungsaffären, dubiosen Kontakten und offenkundigen Lügenmärchen. Man wird Berlusconi nicht los, weil seine Ränkespiele ihn immer wieder der Justiz entziehen, man wird ihn nicht los, weil seine Medienmacht einen Nebel um ihn verbreitet, man wird ihn nicht los, weil, wie es scheint, zu viele Italienerinnen und Italiener sich nicht von ihm losmachen können oder wollen. Man wird ihn nicht los, weil sich, wie alle anderen demokratischen Verständigungen, auch alle Gerichtsverfahren um diesen neuen König Ubu in eine Farce verwandelt haben. Bis jetzt, vielleicht.
In dieser Situation der Lähmung kommt, nach 26 Monaten und 50 Verhandlungstagen, das Urteil im Prozess wegen Prostitution einer Minderjährigen und Zeugenbestechung wie eine Zäsur. Sieben Jahre Gefängnis, ein Jahr mehr als von der Anklage gefordert, dazu, was möglicherweise bedeutender ist, der lebenslange Entzug des Rechts auf öffentliche Ämter, das würde beweisen: Einer wie Berlusconi steht nicht über dem Gesetz. Einer wie Berlusconi kommt nicht mit allem davon. Und einem wie Berlusconi soll nicht das nächste politische Amt, und wär’s das des Präsidenten, Gelegenheit geben, sich Staat und Gesellschaft nach seinen Interessen zu formen.
Ob dieses Urteil Bestand haben wird, und ob in den ausstehenden weiteren Verfahren ähnliche Richtersprüche zu erwarten sind, bleibt abzuwarten. Entscheidender scheint die Frage, ob Italien bereit und in der Lage ist, sich selbst das Ende der Ära Berlusconi, das Ende des Berlusconismus zu erklären. Aber wie? „Drei Frauen gegen Berlusconi“, so eine der Zeitungs-Überschriften zum Spruch der Richterinnen, und die magischen sieben Jahre? Kaum ist die Sprachlosigkeit gegenüber diesem Urteil gewichen, beginnen schon wieder Märchen und Verschwörungsphantasien. Und überall das Gesicht des Cavaliere, das die Grenzen der plastischen Chirurgie und die Grenzenlosigkeit der Schauspielerei ausdrückt. Das Urteil mag signalisieren: Wir können ihn loswerden, das mediale Grundrauschen dazu sagt: Das schaffen wir nie.
Wie tief das Land vom Berlusconismus durchdrungen ist, mag eine kleine Typologie der Nutznießerei und Abhängigkeiten beschreiben: Da ist zunächst der klassische Berlusconist. Mehr als ein simpler Parteigänger des Cavaliere ist der Berlusconist überzeugt davon, dass die Mischung aus Populismus, Medienmacht, Wirtschaft und Politik das adäquate Instrument für den frank und freien Markt darstellt und ein reiches und erfülltes Leben darin. Der Berlusconist geht mit den Vorgaben des Cavaliere pragmatisch um, er wird, so oder so, den Berlusconismus auch nach dem Verschwinden von Berlusconi selbst fortsetzen. So wird der gewöhnliche Berlusconist auch eher dafür plädieren, die bestehende Regierungskoalition fortzusetzen. Er wird dafür sorgen, dass der Berlusconismus als typisch italienische Ausformung des Neoliberalismus eine Konstante in der italienischen Politik bleibt. Skandale, Prozesse und öffentliche Ubu-Clownereien kommen diesem Berlusconisten eher ungelegen.
Dem gegenüber steht der Berlusconianer, für den Berlusconi nicht bloß ein Erfolgsmodell sondern ein Idol ist, auf das man nichts, aber auch gar nichts kommen lässt. Bereitwillig teilen Berlusconianer, bei denen der Frauen-Anteil dann doch bemerkenswert hoch ist, alle Lügenmärchen und Verschwörungsphantasien, und ein Blick in die Kommentare der deutschen Online-Presse zeigt: Offensichtlich ist auch in Deutschland Platz für vehemente Berlusconianer, die in der Verurteilung nur eine Machenschaft „roter Richter“, oder eben: Richterinnen, der kommunistischen Hetzpresse und politisch korrekter Rechthaber sehen können. Berlusconianer folgen ihrem Idol auch in alle Niederungen; sie werden daher zur Gefahr für die Fortsetzung des unauffälligen Berlusconismus in Koalitionen.
Dann gibt es die Berlusconiden, und davon nicht wenige. Das sind jene, die in kleinem und kleinstem Rahmen das Herrschaftsmodell Berlusconis nachahmen und sich selbst als Mini-Ausgabe des „Cavaliere“ inszenieren. Auch eine Metzgerei, auch eine Familie kann man „berlusconistisch“ führen. Die Gewinnerinnen und Gewinner des Berlusconismus in der Mikrostruktur der Macht werden sich von dem einen oder anderen Prozess gegen ihren Schutzpatron nicht wirklich beeindrucken lassen.
Das vierte sind die Berlusconiasten. Sie betrachten den Cavaliere als performatives Gesamtkunstwerk der Italianitá. Berlusconiasten beteiligen sich gerne an Scherzen über Berlusconi, die in etwa immer darauf hinauslaufen: So sind wir eben. Was für lausige Politik, aber was für Entertainment! Ahnen sie indes einen Angriff auf die Italienischkeit, so reagieren die Berlusconiasten eher trotzig. Er ist ein Monster, gewiss, aber er ist unser Monster.
Zu sprechen ist noch von den Berlusconanten. Das sind alle diejenige, die sich im System Berlusconi nützlich gemacht haben, die abhängig wurden, die Schuld auf sich geladen haben und die, früher oder später, selber mit Prozessen oder zumindest anderen Folgen für Reichtum und Karriere rechnen müssen. Allein beim Ruby-Prozess haben sich 31 Zeugen der bewussten Falschaussage schuldig gemacht, darunter der Vize-Außenminister Bruno Archi. Berlusconanten müssen alles daran setzen Berlusconi und das System des Berlusconismus zu schützen, und so wie Ubus Günstlinge dürfen sie nicht mit so etwas wie wechselseitiger Solidarität rechnen. Denn im System Berlusconi gibt es keine Freunde, nur Komplizen.
Die Berlusconiteure schließlich sind jene, die zwar nicht dem Lager des Cavaliere angehören und sich auch nicht mit ihm gemein machen, aber eigentlich ganz froh sind, dass es ihn gibt. Denn einerseits lässt sich im Berlusconismus und seinem moralischen, politischen und am Ende auch ökonomischen Desaster eine Menge verbergen von dem, was auch jenseits von Berlusconi schief läuft in der italienischen Politik. Und andrerseits konnte man sich immer mal wieder arrangieren. So hält sich ja nun auch der Triumph des PD in sehr engen Grenzen, könnte doch Berlusconis Fall zum Bruch der Koalition führen. Was jetzt schon sicher scheint: Dieser Prozess und sein Urteil wird von der „politischen Klasse“ in Italien nicht fortgesetzt. Und der Richterspruch, so viel macht ein Blick in die Zeitungen klar, wird sich nur an wenigen Orten zu einem Prozess der Selbstaufklärung und vielleicht der Selbstheilung weiten. Wie auch? Berlusconi verurteilen heißt nicht nur, auch dem „Berlusconi in uns“ (ein geflügeltes Wort beinahe schon) den Prozess zu machen. Es heißt zu sehen, dass zwanzig verlorene Jahre hinter uns liegen. Es wird noch viele Prozesse wie diesen brauchen, um das Gespenst Berlusconi aus der italienischen Politik zu vertreiben.
Als dieser Tage der Abgeordnete Adriano Zaccagnini seinen Abschied von Beppe Grillos 5 Sterne-Bewegung erklärte, tat er es mit den Worten: „Nach zwanzig Jahren Berlusconismus sind wir dabei, einen Berlusconi 2.0 hervorzubringen“. Unabhängig vom polemischen Gehalt dieser Äußerung macht sie klar, dass Berlusconi selbst nach dem Ende seines Systems zumindest als Referenzgröße in der italienischen Politik weiter spuken wird. Der Graben zwischen der Berlusconophilie und der Berlusconophobie wird weiter bestehen. Und Pere Ubu wird weiter greinen, grinsen und grimassieren. MERDRA!
Georg Seeßlen, der Freitag 27.06.2013
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