Wenn Politik nur dazu dient, Reiche reicher und Arme ärmer zu machen, helfen nur noch Clowns
In einem meiner Lieblingsfilme unter den Western all’ italiano, „La collina degli stivali“ wird die Herrschaft eines babygesichtigen Erzkapitalisten geschildert, der mit seiner terroristischen Bande und mithilfe windiger Advokaten und korrupter Gesetzeshüter alle Leute von ihrem Grund und Boden vertreibt. Wer sich seinem Willen nicht beugt, wird umgebracht, gefoltert oder verjagt. Die Organe von Gesetz und Ordnung sind schwach, korrupt oder profitieren ohnehin von der Herrschaft des Kapitalisten. Niemand kann sich seiner Gewalt entgegensetzen, die Karl Marx wohl als Muster der „ursprünglichen Akkumulation“ anerkannt hätte.
Niemand? Ein Zirkus kommt in die Stadt, mit Akrobaten, schönen Frauen und vor allem, mit Clowns. Und mit dem Zirkus kommen ein Pistolero, ein Haudrauf und ein befreiter Sklave. Der Kapitalist, der gerade wieder einem eingeschüchterten Landbesitzer seinen Boden abgenommen und ihn durch Drohungen mundtot gemacht hat, um ihn sogleich als mies bezahlten Lohnarbeiter wieder einzustellen, zeigt sich großzügig und lädt alle, seine Opfer, seine Mittäter und die ohnmächtigen Zeugen, zu einer Vorstellung des Zirkus ein.
Doch die Clowns spielen ein derbes Stück. Sie spielen das Stück vom Terror-Kapitalisten und seinen Methoden der mörderischen Akkumulation. Sie sprechen im Namen der Opfer. Und sie spielen den Aufstand, so lange, bis der Terror-Kapitalist sein wahres Gesicht zeigt. Dann kommen der Pistolero, der Schlagdrauf und der freie Sklave zum Einsatz. Das Volk, das in der Zirkusarena endlich nicht mehr ratlos war, befreit sich. Was nach der Revolte kommt, muss offen bleiben. Denn der Zirkus und der Pistolero verschwinden im Abendhimmel. In verschiedene Richtungen. Nur so viel ist klar. Ohne die Clowns würde der babygesichtige Terror-Kapitalist noch heute herrschen. Beziehungsweise genau das tut er.
Wenn staatliche Gewalt, ökonomische Interessen, das Gesetz und der Alltag eine Einheit gebildet haben, um die Menschen von ihrem Land, aus ihrem Leben und aus ihren Rechten zu vertreiben, wenn ein unbarmherziger Merkantilismus dafür sorgt, dass die Bank den Ruin ihrer Kunden überlebt, und nicht umgekehrt, wenn Leute, die sich ihre Rechte nicht nehmen und ihre Solidarität nicht abkaufen lassen wollen, mit Gewalt bedroht werden, wenn der Umbau der Demokratie mit freiem Markt in eine staatskapitalistische „marktkonforme Demokratie“ mit lebens- und menschenfeindlichen Großprojekten vorangetrieben wird, wenn Gesetz und Politik nur noch einem einzigen Ziel dienen, die Reichen reicher und die Armen ärmer zu machen, dann – ja, dann helfen nur noch die Clowns.
Wenn jemand das Spiel der Clowns so wenig versteht,
dass er nicht einmal erkennt, wie das System gemeint ist, das er repräsentiert,
dann bleibt ihm höchstens noch eine Zwergenrolle.
Die Clowns sind die einzigen, die dem Herrschaftssystem ein fundamentales Nein entgegen setzen können. Die Clowns in der Arena sind die einzigen, deren Spiel von den Zuschauern erkannt werden kann, mit einem Lachen und mit einem Zorn. Und nicht umsonst gibt es den Clown in zwei Ausprägungen. Da ist der weißgesichtige Clown, dieser geschniegelte Bajazzo mit seinem Glitzeranzug, ein vollendeter Opportunist, der sich Autorität angemaßt hat und der im Namen der Ordnungen und der Interessen und der furchtbaren Normalitäten spricht. Und da ist der dumme August, rotnasig und in viel zu großen Schuhen, der erfindungsreich und mehr oder weniger poetisch die Selbstinszenierung des weißen Clowns sabotiert.
Der Kampf zwischen Berlusconi und Grillo, zum Beispiel, ist so eine Auseinandersetzung. Das große, glitzernde und eben clownesk übertriebene Ja zu allem, was Neoliberalismus und Postdemokratie an Niedertracht zu bieten hat, und das fundamentale, polternde, kindische und poetische Nein. Und um diese beiden, da wuseln die „Zwerge“, die kleinwüchsigen Menschen, die in ihren kleinen Feuerwehrautos unterwegs sind, sich mit Kanonen davonschießen lassen oder aus Koffern purzeln. Die kleinwüchsigen Clowns in ihrem Durcheinander-Eifer sind nicht komisch, weil sie so klein sind, sondern sie sind so komisch, weil sie das Klein-Sein aus ihren Zuschauern repräsentieren. Alle gegen den großen weißgesichtigen Clown, der sich mit seinem Spitzhut noch größer und noch bedeutender gemacht hat. Oder doch alle für sich und Gott gegen alle. Wer am Ende gewinnt? Die Zwerge sind, auch wenn sie dem Großen einmal seine Instrumente geklaut haben, dann doch mehr übereinander gefallen, und die poetische Gewalt des dummen August richtet sich schließlich gegen ihn selbst. Er kann ja nichts anderes als Nein zu den Verhältnissen sagen. Er muss stolpern über sein Nein.
Wenn Peer Steinbrück in Hinblick auf die Wahlen in Italien von den zwei Clowns gesprochen hat, glaubte er wohl, wie die Gäste im Zirkus am Hügel der blutigen Stiefel, kein Teil ihres Spiels zu sein. Reden wir nicht von Respekt oder Ignoranz: Wenn jemand das Spiel der Clowns so wenig versteht, dass er nicht einmal erkennt, wie das System gemeint ist, das er repräsentiert, dann bleibt ihm höchstens noch eine Zwergenrolle. Doch nun wird aus dem Spiel, wie man so sagt, Ernst. Die Clowns haben auf die unterschiedlichste Art die Wahrheit über die Welt gesagt, in der sie auftreten. Jetzt kommen die Leute, die die Manege aufräumen (all diese Sahnetorten, Luftballons und Knallkörper) und jemand, der die Leute nach hause schicken muss. Der Zirkusdirektor vielleicht, der übrigens in „La collina degli stivali“ sehr folgerichtig sterben musste.
Es lebe der Nationalkapitalismus!
Es lebe die kryptorassistische Niedertracht!
Aber wie können wir heimkehren, wenn doch die Clowns die Wahrheit gesagt haben, so als wäre nichts gewesen? Dies ist die deutsche Lösung, so scheint es. Ein fundamentales Nein ist hier nicht zu hören gegen den Neomerkantilismus des Merkel-Staates, gegen die alternativlose Herrschaft der Systemrelevanz und gegen eine mediale Verblendung, die von „uns“ spricht, und den Menschen im Nachbarstaat längst das Häuschen und den Schafskäse auf dem Brot neidet, der nicht vom Lidl stammt. Es lebe der Nationalkapitalismus! Es lebe die kryptorassistische Niedertracht! Und die Zyprioten sollen sich nicht so haben; wenn wir ihnen helfen sollen, dann müssen sie schon was hergeben dafür. Nur die Clowns bleiben standhaft. In Nikosia waren es die Theaterleute, die sich vor dem Regierungsgebäude als erste fanden, um ganz direkt und fundamental ihr „Nein“ zu offenbaren. Wir haben uns in Deutschland auf eine Art der Alltagsclownerie verständigt. Da es eine fundamentale Kritik der, naja, freien Presse nicht mehr gibt (erwähnten wir, dass der Terrorkapitalist im Wilden Westen der Hügel der blutigen Stiefel natürlich auch die Zeitung in seiner Gewalt hat?), haben wir den Clowns, Kabarettisten, Komikern die Aufgabe übertragen, Nein zu sagen. Aber nur so, dass wir danach heimgehen dürfen und genau so weitermachen wie vorher. Und natürlich ohne Pistoleros, Schlagdraufs und freie Sklaven!
Ein politisches System wie den Berlusconismus, von dem wir uns zu unrecht schon befreit fühlten, wäre niemals möglich ohne die willfährige Hilfe eines Heeres von „Medienarbeitern“ und „Kreativen“, die nichts dabei finden, als Stimme ihres Herrn zu lügen, zu maskieren und zu denunzieren. Ein politisches System wie der Merkelismus, dessen Europäisierung uns nicht aus der Perspektive der Opfer, sondern aus der der Nutznießer erzählt wird, wäre nicht möglich ohne die willfährige Hilfe eines Heeres von „Medienarbeitern“ und „Kreativen“, die nichts dabei finden, „für uns“ zu lügen, zu maskieren und zu denunzieren. Wer, wenn nicht die Clowns, könnten noch die Wahrheit über die Menschenfeindlichkeit des deutschen Staatskapitalismus sagen?
Doch das Nein der Clowns ist in der Manege und jenseits von ihr dazu bestimmt, in ein tragisches Bewusstsein zu münden. Bleiben wir bei dem fundamentalen und wahrhaftigen Nein? Dann könnte es geschehen, dass ausgerechnet jene am meisten davon profitieren, denen es galt. Der Terrorkapitalist im Publikum könnte sich am Sieg des weißgesichtigen Clowns ergötzen. Die Zwerg-Clowns würden sich zum neuen Gesellschaftsspiel formieren und den dummen August an den Marterpfahl binden. Wollen wir indes zurück in die politische Wirklichkeit, dem „kleineren Übel“ eine Chance geben, erkennend, dass Radikalität im Spiel und Pragmatismus in der Realität zwei verschiedene Dinge sind, dann freilich gibt man auch seine Lizenz zum Weitermachen. Der Zirkusdirektor wäre umsonst gestorben. Der dumme August, der weißgesichtige Clown und die übereifrigen Kleinen wären nur die Gespenster für den jovialen Zuschauer, der all das nur so moderiert und langweilig in sich trägt wie ein Steinbrück.
Die Clowns verlassen die Manege. Sie hinterlassen ein Loch des Wahnsinns und der Wahrheit. Der Zirkus zieht weiter und wir, wir kehren zurück an den furchtbarsten Ort der Welt. In die politische Normalität.
Georg Seeßlen
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