Vielen Dank! An unwürdigen Schauspielen um Doktor-Arbeiten haben wir nun eigentlich schon genug, obwohl zu vermuten ist, dass das Spiel erst richtig losgeht. Bei Gutti war die Schadenfreude noch groß, und das zu Recht, bei Frau Schavan gibt es schon Zweifel und Unbehagen. What’s next? Vielleicht traut sich ja sogar jemand, mal Doktor-Arbeiten von „Wirtschaftskapitänen“ anzuschauen, aber wahrscheinlich eher nicht. Über dem fetischistischen Spiel an den Texten indes scheint man zu vergessen, dass man ja auch einmal darüber nachdenken könnte, ob dieser Titel überhaupt noch zeitgemäß ist.
Die Doktor-Arbeit soll beweisen, dass der oder die Doktorierende zum selbständigen wissenschaftlichen Denken in der Lage ist, was immer man gerade darunter versteht. Demgegenüber ist das Einhalten der Regeln eine Sekundärtugend, die mehr oder weniger notwendig ist. So wie Nicht-Dopen beim Radrennen und Nicht-Spiele-Verschieben beim Fußball. Die einen sind immer mal wieder empört, den anderen ist es wurst, Hauptsache jemand gewinnt. Seit es den Doktortitel gibt – 900 Jahre ist das nun schon her – wird geschummelt, werden Titel direkt oder indirekt gekauft, gibt es die kleine aber umsatzstarke Industrie der Doktormacher. Von den „Begleitern“ bis zu den „Komplettlösern“ kommen sich die Parteien, Anbieter und Nachfrager der Karriere-Prothese, wenn es um ökonomische Belange geht, einander gern einmal entgegen, kriegen Leute aus großen Familien und Parteimitglieder leichter ihren Doktor als Habenichtse.
Denn mag der Doktortitel als Abschluss einer akademischen Ausbildung vielleicht irgendetwas nachweisen, im richtigen Leben hat er ganz andere Funktionen. Er ermöglicht insbesondere dort, wo am wenigsten wissenschaftlich gedacht wird, einen Karriere-Einstieg um zwei, drei Gehaltsstufen höher als die Konkurrenz. Nicht weil man etwa am Wissenschafts-Nachweis interessiert wäre, sondern weil der Titel auch hilft die Institution zu verkaufen, in der man ihn an Türen und auf Briefpapier benutzt. Der Doktortitel ist ein Instrument der Differenzierung in bürgerlichen Hierarchien, ein Medium der Selbstvergewisserung und Selbstermächtigung, die Illusion von Bildung in der Welt von Google und Think Tank-Geheimwissen, eine kulturelle Waffe im sozialen Abstiegskampf und noch dies und das. In seinem sozialen Gebrauch jedenfalls hat der Doktortitel mit seinem wissenschaftlich-fachlichen Aussagewert nicht das Geringste zu tun.
Denn wovon gibt der Doktortitel gerade dort, wo man sich Vorteile für die Karriere versprechen darf eigentlich Zeugnis? Braucht man in der Politik oder im Wirtschaftsmanagement, vor Gericht oder in der Finanzspekulation, als „Blattmacher“ oder Fernsehredakteur etwa den Nachweis für „wissenschaftliches Denken“? Das genaue Gegenteil muss man beherrschen! Aber man weist anderes nach: Zum Beispiel Ehrgeiz, aber auch die Fähigkeit der eigenen Familie, das Entsprechende zu finanzieren, die Bereitschaft, sich hervorzutun, eine karrierebewusste Lebensplanung, den Umgang mit untoten Dingen und Texten. Ein Preis ist zu zahlen, entweder in Geld, in Lebenszeit oder in Opferbereitschaft. Kann auch schiefgehen. Wenn eine Doktorarbeit zwischen drei und fünf Jahren Lebenszeit vernichtet, weil man unterwegs bemerkt, dass es gar nicht mehr um den großen Wurf, sondern nur noch ums Irgendwie-Fertigwerden geht, dann ist das genau so furchtbar wie die Strategie, eine „leere“ Zeit des Lebens auf diese Weise wenigstens halbwegs sinnvoll zu füllen.
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Der Doktor-Titel ist ein Instrument der Un-Demokratie.
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Braucht aber, andersherum, jemand einen Titel der vor seinem Namen seine Befähigung zu wissenschaftlichem Denken und Arbeiten herumtragen muss? Trägt ein Facharbeiter einen Facharbeiter-Titel vor dem Namen, der ganz bestimmt fachkundig denken und handeln können muss? Oder ein LKW-Fahrer die Klasse seines Führerscheins? Innerhalb des akademischen Betriebs könnt ihr euch meinetwegen mit Titeln schmücken, dass ihr nicht mehr gehen könnt; auch Nerds brauchen ihren Schwanzvergleich. Aber in der äußeren Welt gibt es keinen Grund (mehr), einen solchen Titel herumzutragen und einzusetzen. Und wenn der Doktortitel in der äußeren Welt nichts mehr bedeutet, dann gibt es keinen Grund mehr, ihn zu fälschen, zu kaufen oder sonst wie zu erschummeln. Denn innerhalb der akademischen Welt nutzt wiederum ein gefälschter Nachweis für die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Denken nichts, wenn man dann in der Praxis zeigt, dass man es nicht kann.
Der Doktortitel ist ein Relikt aus einer Beziehung zwischen einer Klasse, die es nicht mehr gibt, und einer Institution, der Universität, die es nicht mehr gibt. Der einzig unserer Realität angemessene Doktortitel ist ein gekaufter Doktortitel.
Zu den Problematiken, die wir mit einem so zugleich relikthaften und aktualisierten Mythos haben, gehören gewiss die Beziehungen zu den „Doktorvätern“ bzw. „Doktormüttern“ (sagt man so? Das ist jedenfalls nur in Deutschland so familiär modelliert), die mal zu intensiv, ein andermal aber auch vollkommen beliebig sein können. Er (oder sie) soll helfen das richtige Thema zu finden, die Arbeit zu begleiten und wird am Ende als Erstgutachter die Arbeit auch benoten. Das schafft eine bemerkenswerte Mischung aus Abhängigkeit und Vertrauen. Als wissenschaftliches Kind von Doktor-Eltern wiederholt man offensichtlich in diesem Verhältnis noch einmal die familiäre Ordnung der bürgerlichen Welt, es ist offensichtlich eine Art Psycho-Drama mit Stadien der Unterwerfung und der Initiation. Die meisten Doktorarbeiten dokumentieren weniger etwas, was man geschafft hat, als das, was man überstanden hat.
Natürlich gibt es verschiedene Stadien der Modernisierung; und es gibt Modelle, die verdächtige Doktorvater-Konstruktion zu moderieren, abzufedern oder gar aufzulösen. Auch die Unterschiede zwischen der Arbeit in einem Forschungsprojekt und einem Doktorandenprogramm oder auf eigene Faust sind dabei gravierend. Die Belastung bleibt dabei in der Mitte hoch und wird immer höher. Stellen wir hier draußen, die natürlich nicht die geringste Ahnung haben, uns bei Guttenberg noch angestellte Doktorarbeitschreiber vor, die zur Präsentation ihrer Arbeitsschritte mit sorgfältig geputzten Schuhen erscheinen, so macht der Schavanismus in der Doktorarbeit eher so den Eindruck, die Sache hätte sich in gutem Einvernehmen bei ein paar Gläsern preiswertem Rotwein zusammen kreativieren lassen. Das ist natürlich sympathischer, und weil das so ist, kommen die nachträglich strengen Väter auch so unsympathisch rüber, als wollten sie in seltsamer Allianz mit den Neo-Nerds, die allen Ernstes nichts besseres zu tun haben, als Zitatnachweise in Doktorarbeitenden zu kontrollieren, deren Inhalte längst von allen Campus-Winden verweht ist, eine Ordnung wieder herzustellen, gerade noch rechtzeitig. Mittlerweile benötigen viele Doktoranden auch schon wieder psychologische Betreuung oder Coaching, auch und gerade, wenn sie entschlossen sind, sich an die Regeln zu halten. Die übliche Umfrage, 2012 vom Hochschul-Informations-System durchgeführt, brachte erstaunlicherweise ans Licht, dass jeder Fünfte mit seiner Betreuung unzufrieden ist. Die Vorstellung von einem strengen oder gütigen Vater erleichtert diesen Vorgang nicht. Paradoxerweise wird den Doktoranden auch empfohlen, Seminare zu guter wissenschaftlicher Praxis zu belegen (mit anderen Worten: man soll für die Arbeit lernen, was man durch die Arbeit unter Beweis zu stellen gehabt hätte).
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Innerhalb der akademischen Welt nutzt ein gefälschter Nachweis
für die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Denken nichts,
wenn man in der Praxis zeigt, dass man es nicht kann.
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Da gibt es, nur zum Beispiel, das Buch „Der Weg zum Doktortitel – Strategien für die erfolgreiche Promotion“, und in dem beschreibt die Psychotherapeutin Helga Knigge-Illner eine Beziehung zu solchen Doktoreltern, die wie die zu leiblichen Eltern oder zu einem Therapeuten, komplett mit Ablösungsschmerzen und erneutem Kampf um wissenschaftliche und menschliche Selbständigkeit einhergeht. Und da geht es bereits um „ganz normale Promotionsdepressionen“. Ist das Bewältigen von normalen Promotionsdepressionen bereits Ausweis für berufliche Qualifikation, oder ist es schon Teil der Zurichtung? Oder ist ein Doktortitel für die Seele das, was für den schneidigen Studenten in der schlagenden Verbindung von einst der „Schmiss“ war, eine stolz getragene Narbe aus einer geschlossenen sado-masochistischen Anstalt.
Der Doktortitel ist zu einem Fetisch geworden; und paradoxerweise ist er gerade darin Ausdruck und Abwehr einer längst wieder verlorenen Demokratisierung der Universitäten. Als diese sich nämlich in den sechziger Jahren sozial öffneten, entwerteten sie sogleich, karriere- und prestigemäßig, vom Klassenbewusstsein ganz zu schweigen, das bloße Studium; man musste es, wenn man höher hinaus wollte, wieder aufwerten. Durch den Doktor zum Beispiel. In den Zentren der „echten“ Macht, in der Politik, in der Juristik und in der Wirtschaft wird naturgemäß dieser Titel, der nun nichts mehr mit dem Nachweis von wissenschaftlichem Arbeiten zu tun hat, interessanterweise besonders karrierefördernd eingesetzt. Nirgendwo kann man eine bewusste Konstruktion der „kleinen Unterschiede“ besser studieren, nirgendwo die soziale Umwertung eines schlichten Ausbildungsnachweises. Und es geht hier eben nicht darum, was der Doktortitel über das Wissen und gar die Erkenntnis des Doktors aussagt, es geht vielmehr um seine oder ihre Fähigkeit, den Unterschied zu anderen Studenten zu konstruieren. Wie das im Einzelfall geschieht, ist schon fast egal. Egal ob durch beinhartes Management der Ich-AG oder durch freundliche Unterstützung des sozialen Umfelds erworben, der Doktor-Titel ist ein Instrument der Un-Demokratie. Vielen Dr.-Menschen ist er daher ein wenig peinlich, sie müssen ihn, was bleibt uns übrig, noch in den Berufskämpfen der prekärsten kulturellen Arbeit zum Überleben einsetzen, und sie möchten ihn sozial eher verbergen. Für andere bleibt er ein letztes Instrument der Selbstaufwertung in einem Prozess allfälliger Abwertungen. Wir müssen den Doktortitel und die Art, wie er erworben werden muss, am ehesten als eine soziale Krankheit behandeln.
In diesem Augenblick arbeiten in Deutschland etwa 200 000 Menschen an einer Dissertation. Und was haben wir ihnen aufgebürdet: In einer Welt, in der man alles kaufen, fälschen und simulieren kann, sollen ausgerechnet sie das Herz, das Hirn und den Hintern opfern für ein Schauspiel des Nicht-Gekauften, Nicht-Gefälschten, Nicht-Simulierten. Und dann haben wir noch einen Verdacht. Doktoranden sind erste symbolische Opfer für kommende Copyright Wars. An ihnen wird etwas verhandelt, was mit wissenschaftlicher Arbeit und Redlichkeit wenig zu tun hat; es ist wieder einmal eine Sündenbock-Suche. Also lasst uns etwas für die individuelle und kulturelle Gesundheit tun: Schaffen wir den außer-akademischen Gebrauch des Doktortitels ab! Und zwar echt.
Georg Seeßlen
(Doktor der vergleichenden Baseballkappenforschung an der rumänischen Fernuniversität Las Palmas, Canaria)
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