Oder: Wie umgehen mit Unerträglichem aus dem Erbe der populären Kultur?

Wir sind, will mir scheinen, im Umgang mit dem Erbe der populären Kultur ein wenig pharisäerhaft geworden, und zwar dergestalt, dass wir die populäre Kultur selbst, noch mehr aber seine Adressaten, als kindhaft, unmündig, der pädagogischen Fürsorge und, wenn notwendig, der wohlmeinenden Zensur bedürftig ansehen. Besonders auffällige Akte solcher kultureller Fürsorge – wir erinnern uns an das Wirken der Hollywood-Codes, die allein das Zeigen eines Schlafzimmers verbot, an die Entfernung der „Tarzan“-Romane aus amerikanischen Schulbibliotheken mit der (übrigens fälschlichen) Unterstellung, der Herr des Dschungels und seine Jane lebten in „wilder Ehe“ zusammen, oder an die  Comic-Zensur in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre – betreffen in aller Regel einen „sittlichen“ Konsens, der sich einige Zeit später als reaktionäre Blase oder wenigstens als spießige „Heile Welt“-Konstruktion herausstellte. Und seien wir ehrlich, war es nicht immer das größte Vergnügen, diese Codes der freiwilligen oder unfreiwilligen Zensur zu brechen, zu unterlaufen oder listig zu überhöhen?

Erst in den achtziger Jahren machte sich die Idee bemerkbar, man könne Produkte der populären Kultur nicht nur „erlauben“ oder „verbieten“, ganz so als gestatte da eine Gesellschaft ihren kulturell schwächsten Mitgliedern, nämlich einerseits den Kindern und Jugendlichen und andrerseits jenen „Massen“, dem „Volk“, für die Unterhaltung nun einmal geschaffen wird, eine kontrollierte Droge von Regression und Trivialität. Irgendjemand schien sich immer dafür zuständig zu fühlen, darüber zu bestimmen, was diesem kulturellen „unten“ zuträglich ist und was nicht. Nach einer Phase in den siebziger und achtziger Jahren, in der beinah alles möglich schien, nämlich einerseits eine intensive Beziehung zwischen hoher und „niedriger“ Kultur, zwischen Kunst und Pop, und andrerseits eine veritable „Verwahrlosung“ der Popkultur in Porno-Boom, Horrorvideos und Computergames (Stoff genug für Pädagogenschelte, Medienkongresse und Spiegel-Titelgeschichten) restaurierte sich die mediale Fürsorge, wennzwar nun unter anderen Kriterien, die man sehr allgemein unter dem Motto der „political correctness“ zusammenfassen kann. Man wurde sensibel gegenüber Rassismus, Sexismus und Diskriminierung, und statt die Brüste von Prinzessin Aleta aus den „Prinz Eisenherz“-Comics zu retuschieren, achtete man auf Herabwürdigungen von Minderheiten in Wort und Bild. So weit so gut: Man darf das einen kulturellen Fortschritt nennen.

Aber bei der zeitgenössischen Produktion auf die Einhaltung eines ethischen und politischen Mindeststandards in einer demokratischen Zivilgesellschaft zu achten, ist das eine. Das andere ist der Umgang mit dem popkulturellen Erbe. Denn auch die Popkultur hat ihre Geschichte, und die ist genau so wenig unschuldig wie es die Geschichte der so genannten Hochkultur ist.

Hergés zweites großes Abenteuer um seinen Reporter-Helden, „Tintin im Kongo“, ist seit langem ein Schlüsselfall für diese neue Fürsorglichkeit. Eine Geschichte, deren ideologisch-moralischer Hintergrund, die rassistische Ikonographie, der sadistische Kolonialismus und die Brutalität gegen Mensch und Tier immer noch, bei aller historisch-nostalgischen Verklärung, jeden humanistischen, demokratischen und aufgeklärten Leser empören müssen. Diese Verbindung von Niedlichkeit, Abenteuer und Unmenschlichkeit kann nicht einfach hingenommen werden, und wer sich ein wenig in der Comic-Geschichte auskennt, weiß, dass da nicht etwa einem Autor ein ideologisch-moralischer Patzer unterlaufen ist, dass das nicht alles nur einfach aus dem Zeitgeist und der allgemeinen Einstellung damals zu erklären ist, sondern dass „Tintin im Kongo“ als Propaganda für Kinder produziert und vermarktet wurde.

Darüber hinweggehen mit einer Geste der Verharmlosung – ist ja nur Unterhaltung, ist ja nur für Kinder – wäre unpassend. Tintin ist auch ein Stück Weltkulturerbe, im guten wie im schlechten Sinne: Weder durch das Verbot noch durch die Verdrängung wird man los, was an Üblem in ihm steckt. Aber wie kann eine demokratische Gesellschaft mit ihrem kulturellen Erbe umgehen? Etwa durch Säuberungen, Übermalungen, Schnitte, Umdeutungen? Sollte also „Tintin im Kongo“ einfach zum verschwinden gebracht werden? Sollten die „schlimmsten Stellen“ in Bild, Plot und Dialog entfernt werden? Sollten wir gar aus Tintin einen „Guten“ machen und die Diskriminierungen in Anerkennungen umdeuten? (Längst gibt es übrigens Anti-Alben zu „Tim im Kongo“: Die beste Kritik an einem Comic ist, frei nach Jean Luc Godard, ein anderer Comic.)

Die zweit einfachste Lösung, neben einem schlichten Verbot einer unkommentierten Ausgabe für den „gewöhnlichen“ Gebrauch auf dem Markt und in den Bibliotheken, wäre die Verwissenschaftlichung und Musealisierung: Keine Neuausgabe ohne Kommentar, ohne historische und politische Einordnung, ohne Handreichungen für ordentliche Distanzierung. So will man es nun ja schließlich auch mit Hitlers „Mein Kampf“ halten in einer Medienkultur, in der man ohnehin nichts mehr wirklich verbieten kann. Man könnte dann vielleicht noch über eine restringierte Altersfreigabe sprechen, einen Warn-Aufkleber, wie auf gewissen CDs, der eine „parental guide“ verlangt, man könnte den Kreis der Konsumenten durch die Einschränkung der Vertriebswege auf die „politisch reifen“ und „mündigen Bürgerinnen und Bürger“ begrenzen, kurzum es ginge um eine sanfte Form des Umgangs mit einem heiklen Produkt der populären Kultur: Nicht wirklich Zensur, aber auch kein unverantwortliches Laisser-faire. Bei näherem Hinsehen ist das fast so gruselig wie der Band selbst (der ohnehin wohl seltener in Kinderzimmern als in den Regalen nostalgischer Sammler zu finden sein wird).

Unglücklicherweise nämlich hat auch diese Vorgehensweise eine Reihe von Nebenwirkungen: Wir handeln exemplarisch an einem „Sündenbock“ ab, was doch erst durch kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Popkultur aufzuarbeiten wäre, der intensive Zusammenhang zwischen Politik und Unterhaltung (damals wie heute). Den Rassismus aus unserer (populären) Kultur bekommt man nicht mit dem Verbot eines Comic-Albums hinaus (und schon gibt es Stimmen, die „Pippi Langstrumpf“ oder „Die Schlümpfe“ als rassistisch schmähen, was sinnvoll wäre, wenn es um die Sensibilität gegenüber den Bildern und Begriffen ginge, und absurd ist, in einer bloß äußerlichen Betrachtungsweise). In der ethischen Fürsorge der political correctness steckt eine indirekte Anklage, nämlich die an ein unmündiges Publikum, das wohl anfällig wäre für die Bilder und Worte eines halbfaschistischen Rechtskatholiken, der Hergé damals zweifellos war. Wie aber stellen wir uns auch nur ein Kind im lesefähigen Alter vor, das auf die rassistischen Aspekte dieser Geschichte noch hereinfällt? Welche Instanzen fühlten sich ermächtigt, die notwendige publizistische Fürsorge zu praktizieren; müssten es nicht wieder staatliche Stellen sein, müsste nicht wieder eine Definitionsmacht erzeugt werden? Wie ist, mit anderen Worten, auch die sanfteste Form der Zensur demokratisch zu rechtfertigen? Und wie wäre zu verhindern, dass eben die verordnete Präsenz der pädagogischen Fürsorge nicht zum genauen Gegenteil führte, nämlich zu einer Lust gerade am „Verbotenen“ des diskursiv in Watte gepackten Produktes?

Das kulturelle Problem einer solchen Debatte, wie sie hier möglicherweise an einem etwas marginalen Exemplar durchgespielt wird, ist ihr Bipolarität. Zu recht weist die eine Seite auf die Unerträglichkeit des Produktes hin, doch die Forderung nach Zensur – wie etwa im Gerichtsurteil anlässlich der Entfernung der „Tintin“-Bände aus der Stockholmer Kinderbibliothek – ruft eine auch nicht ganz von der Hand zu weisende Warnung vor solchen Eingriffen hervor. Wirklich verheerend indes ist es erst das Urteil, das immerhin fünf Jahre nach dem Antrag durch Bienvenu Mbutu Mondondo auf ein Verbot oder zumindest einen Hinweis auf dem Einband vom „Tribunal de première instance de Bruxelles“ erging: Das Gericht befand „Tintin au Congo“, anders scheint man aus dem Dilemma nicht herausgekommen zu sein, als „nicht rassistisch“. Damit wird einer kritischen Auseinandersetzung auch in den Schulen, die es in Belgien und Frankreich seit den fünfziger Jahren durchaus gibt, der Boden entzogen: Theoretisch wäre es augenblicklich juristisch problematisch, wenn ein Lehrer seinen Schülern zu erklären trachtete, wie Rassismus in einer Publikation wie „Tintin“ funktioniert. Theoretisch wurde auf diese Weise der Rassismus in „Tintin“ gesellschaftlich sanktioniert. Theoretisch wäre hier ein Musterbeispiel dafür zu sehen, wer oder was im Kampf gegen gezeichnete Weltbilder von Rassismus und Kolonialismus definitiv die falschen Instanzen sind.

Ich plädiere, statt einer solchen am Ende doch wieder eher symbolischen Aktion am Einzelfall, für die Förderung der kritischen Kompetenz auch und gerade im Bereich der populären Kultur. In „Tim im Kongo“ ist so wenig etwas trivial wie in Nietzsches „Mensch und Übermensch“; das eine wie das andere ist nicht ohne kritisches Bewusstsein zu lesen. An Kritik aber muss man in einer demokratischen Kultur von früh an herangeführt werden; Kritik auch gegenüber der populären Kultur für Kinder, die weder Gegenstand der Verachtung noch der nostalgischen Verklärung sein darf. Wäre es nicht wunderbar, wenn „Tim im Kongo“, dieses propagandistische Machwerk (von einem großen Künstler geschaffen!) dazu diente, kritische Lektüre zu erproben? Nur eine Kultur, die zu Kritik nicht fähig ist, benötigt Verbote.

 

Georg Seeßlen

Bilder: Tintin au Congo  by Hergé; Casterman 1931