KUNST/ZEIT/SCHRIFT
Um ein Bild zu verstehen, muss man zwei Dinge gleichzeitig tun: Die Dinge auseinanderhalten – sie unter-scheiden – und sie „zusammen sehen“. So gibt es also keine Trennung zwischen „Lesen“ und „Sehen“. In der Praxis. Wohingegen es sehr große Unterschiede macht, wie über das Bild gesprochen werden kann. Die Lesbarkeit des Bildes (seine Dechiffrierung) und die Sichtbarkeit (seine Gegenwart) bilden eine gespannte Einheit. So gibt es Bilder, die so lesbar sind, dass sie unsichtbar werden, und (nicht nur in der Kunst) Bilder, die so gegenwärtig sind, dass sie undechiffrierbar sind. Da hätten wir an den Enden „Information“ und „Erhabenheit“, meinetwegen, doch die Sache wird komplizierter, wenn wir sie unter bestimmten Aspekten betrachten. Nehmen wir das soziale Signal. Oder „die Propaganda“.
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Lange, bis in die Zeit der deutschen Klassik wohl, war man vor allem mit der Suche nach dem Schönen beschäftigt, das Hässliche wurde tunlichst nicht einmal erwähnt. Gotthold Ephraim Lessing widmete ihm in seinem „Laokoon“ einige Kapitel. Vom Schöpfer der Skulptur sagt er und erklärt dabei, möglicherweise mit anderer Stoßrichtung gemeint, „Grenzen der Malerei und Poesie“: „Der Meister arbeitete auf die höchste Schönheit, unter den angenommenen Umständen des körperlichen Schmerzes. Dieser, in aller seiner entstellenden Heftigkeit, war mit jener nicht zu verbinden. Er musste ihn also herab setzen; er musste Schreien in Seufzen mildern; nicht weil das Schreien eine unedle Seele verrät, sondern weil es das Gesicht auf eine ekelhafte Weise verstellet. Denn man reiße dem Laokoon in Gedanken nur den Mund auf, und urteile. Man lasse ihn schreien, und sehe. Es war eine Bildung, die Mitleid einflößte, weil sie Schönheit und Schmerz zugleich zeigte; nun ist es eine hässliche, eine abscheuliche Bildung geworden, von der man gern sein Gesicht verwendet, weil der Anblick des Schmerzes Unlust erregt, ohne dass die Schönheit des leidenden Gegenstandes diese Unlust in das süße Gefühl des Mitleids verwandeln kann.“[1] Das Hässliche müsste wohl vermieden werden, weil es kein Mitleid erzeugt. Dies vom Kopf auf die Füße gestellt besagt: Hässlich machen ist eine Form, das Mitleid zu negieren.
Mitleid und Ekel sind also zwei Empfindungen, die unentwegt miteinander konkurrieren und die kulturell moderiert werden müssen. Das Mitleid mit dem Seufzenden verwandelt sich in Abscheu vor dem Schreienden (eine Dramaturgie der Folter, nebenbei).
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Das propagandistische Hass-Bild, das mit der kleinen Verachtung und dem Ekel beginnt, wird „gelesen“ und gesehen, und das gesehene Hass- und Ekel-Bild muss nicht einmal als solches gedacht sein. Aber auf beiden Ebenen wird durch den Ekel das Mitleid, durch die Verachtung die Mitmenschlichkeit abgebaut.
Das Ekel-Bild beginnt mit der „Verkürzung“ und der „Verdichtung“ (der „Karikatur“); so wäre die Frage, ob mit einer Sprache der vereinfachten Bilder die Kultur der Verachtung und des verneinten Mitleids beginnt. Wo nicht mehr genauer hingesehen werden kann, kann sich dem Blick die Mitmenschlichkeit nicht vermitteln, auch nicht wenn „Mitleidigkeit“ als Reflex ausgelöst wird. Das Bild, das dem Betrachter keine Zeit mehr zum Ansehen gibt. Das weder gesehen noch zu Ende gelesen werden kann. Das kein Verstehen mehr ermöglicht sondern nur „die Sache selber“ ist (Sekundentakt von Zeigen und Sehen). Anti-Laokoon!
Das Reduzierte ist das Wesen des Verachteten. Nicht die Information „bemitleidenswert“ sondern eine Fülle der Information zum Menschlichen in einem Bild sind nicht-propagandistisch. Und möglicherweise geht es beim Laokoon nicht allein darum, den Schrei zum Seufzer, wie Lessing meint, „herabzumildern“, sondern auch darum, in der Geste des Schmerzes alles andere, was einen Menschen ausmacht, nicht verschwinden zu lassen. Diese Milderung spricht davon, dass der Mensch nicht auf das Leiden reduziert werden kann.
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Lesbar und zugleich nicht-propagandistisch zu sein ist das Geheimnis eines informativen visuellen Geschehens.
Und sichtbar und nicht codiert/reduziert.
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Nehmen wir weiter an, dass es eine der fundamentalen „Aufgaben“ (man beachte die Anführungszeichen!) der Kunst sei, eben Schönheit und Schmerz zusammen zu bringen. Im richtigen Leben geht das nicht, oder anders gesagt: Es ist dann immer „irgendwie“ Kunst. (Der leidende Mensch, der zugleich schön ist – nicht trotz des Leidens sondern in seinem Leiden.) Wenn Lessing beobachtet, dass man um der Schönheit willen das Leiden herabmildern kann, so gibt es natürlich auch den Gegenentwurf, nämlich die Schönheit herabzumildern, um das Leiden darzustellen. Nicht im Sinne eines Verdrängens oder Verleugnens, sondern ganz so wie im Laokoon. Als Beschreiten des richtigen künstlerischen Weges.
[1] Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie. Mit beyläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte; von Gotthold Ephraim Lessing. Erster Theil. Berlin, bey Christian Friedrich Voß. 1766
Georg Seeßlen
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