Warum Amerika seine Grenzen wieder ins All verlegt: Mit George W. Bushs Marsmission kehrt der Mythos vom Weltraum zurück
Präsident George W. Bush verkündet einen neuen Aufbruch zu den Sternen. Zum Mond zurück und dann zum Mars. Eigentlich wissen beinahe alle, dass das purer Blödsinn ist. Wissenschaftlicher Blödsinn, medizinischer Blödsinn, ökonomischer Blödsinn, und nicht zuletzt menschlicher Blödsinn: Haben wir, zum Donner, denn keine andere Sorgen als Menschen auf einen Wüstenplaneten zu schicken, die sich auf ihrer Jahre langen Reise ziemlich sicher den Tod holen, oder zumindest schreckliche Krankheiten? Und falls sie doch ankommen: Warum sollen sie auf einem Weltall-Eiland, das halb so groß wie das unsere ist, Arbeiten verrichten, die Maschinen viel besser können?
Klar: das Ganze ist ein Wahlkampftrick, Ablenkungsmanöver, neurotischer Tick in einem Vater/Sohn-Drama. Schon wieder will dieser Bush in die Tat umsetzen, was sein Vater nur versprochen hat. Aber geben wir es ruhig zu: Noch in jeder Kritik an der technologischen Hybris lauert auch die Faszination. Die Marsmission verspricht Reisen an die Grenzen des Staunens. Weit hinaus ins All und tief hinab in die verschütteten Bilder der Kindheit. Eine Sehnsucht, die durch die zehnte Wiederholung von „Star Trek“ nicht gestillt wird. Es ist wirklich Blödsinn, dass Menschen zum Mars fliegen. Aber als Bild und Erzählung, als Wiederherstellung der Mythe Zukunft, als Menschheitstraum macht die Idee Sinn. Und außerdem bietet der neuerliche Aufbruch ins All die Chance, dass „Amerika“ (nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Welt) noch einmal erfunden wird.
Präsident Bush bezieht sich bei seinen kindisch-pathetischen, nebligen Worten auf die große, punktgenau formulierte Mythe von John F. Kennedy. Dieser hatte den Wettlauf der Systeme im Orbit geadelt, indem er die Sehnsucht nach den Sternen als Wiederkehr der frontier im All definierte. Der Westen, der eine Welt im ständigen Werden zwischen junger Barbarei, Modernisierung, Verschmelzung und Erfindung suggerierte, sollte im All neu bestimmt werden: mit Raketen als Pferden, Aliens als Indianern, Weltraumstationen als Saloons, einem endlosen Vorrat an Wildnis, und natürlich mit „Space Cowboys“.
„Ours is a moving frontier“ – eine Grenze in Bewegung: Das ist die große Gewissheit der guten Ungewissheit. Hinter dem Mythos von der moving frontier steckt nicht nur die Idee der Expansion und Dynamik einer jungen, ungestümen Nation. Er bedeutet auch, dass die äußere Grenze ein Äquivalent im Inneren hat. An der beweglichen Grenze definieren sich Mensch und Gesellschaft ständig neu. Deshalb sind in diesem Mythos auch rechte und linke Ideen so heillos miteinander vermischt, dass es einem Bewohner des alten Europa schwer fällt, den Boden unter den Füßen zu behalten. Und immer lauert hinter der Begeisterung die Verzweiflung.
Die Suche nach der neuen Heimat kann nie vollständig gelingen. Sie muss endlos weitergehen, im Western und im Science FictionFilm, in der horse opera und der space opera. Die moving frontier in sich selbst wieder zu erkennen und in der Welt – das ist die sehnsüchtige Pflicht des Amerikaners. Deswegen wachen Donald Duck oder Homer Simpson immer wieder aus ihrer Vorstadtlethargie auf, um groteske Taten zu vollbringen. Und deshalb erzählen Saul Bellow und Philip Roth immer wieder von der Suche nach der verlorenen (nie gehabten) „Identität“.
Wenn der amerikanische Mensch die moving frontier in sich verliert, wird er krank, verrückt oder langweilig. Und so wie der amerikanische Mensch an seine permanente Grenzverschiebung und -überschreitung glauben will, so wollen wir Nicht-Amerikaner an den amerikanischen Menschen glauben. An einen ständig sich erneuernden, ständig zerfallenden Träumer und Tatmenschen. Es sind die „werdenden Menschen“, von denen Bellow erzählt, die nie zu Seienden werden können. Und wohin können diese Werdenden, für die auf der Welt kein Platz mehr ist, noch aufbrechen wenn nicht in den Weltraum? Der werdende Mensch muss auf den Mars, nicht weil der rote Planet da ist, sondern weil er sich selber dort oben finden kann – vielleicht. Science Fiction handelt weniger von Entdeckungen als von Verwandlungen.
Die moving frontier des alten Westens kam Anfang des 20. Jahrhunderts in Kalifornien zum Stillstand. Aber sie verlief nun durch die Seele jedes Einzelnen. Sie wurde Kultur, Erzählung, Begriff, Bild. Von der Western-frontier hat die Weltraum-frontier auch übernommen, dass sie stets als reale Modernisierung und als Bildermaschine, als Technologie-Metapher und Pulp Fiction funktionierte. Schon im alten Westen wusste am Ende niemand mehr genau zu sagen, was Wirklichkeit war, was Halluzination und was Unterhaltung.
Dabei spielen auch Aspekte von Neugier und Zivilisationsflucht eine Rolle. Unsere Astronauten der populären Träume haben jedenfalls zweierlei mit dem mythischen Cowboy gemein. Sie flüchten vor ihrer Zivilisation und suchen dort draußen etwas reines und absolutes (so etwas findet man ja am ehesten in der Wüste). Dabei werden sie aber wie jeder Cowboy und wie noch die postmodernen Astonauten in „Alien“ oder „Solaris“ vor allem auf sich selbst zurückgeworfen. Man könnte die Weltraumgeschichten der Popkultur auf folgende Formel bringen: Huckleberry Finn und Tom Sawyer, vielleicht einmal in Begleitung von Nigger Jim, besteigen statt des Mississippi-Floßes ein Weltraumschiff, begegnen toten Vätern und verführerischen Wesen, reisen durchs Indianerland der Aliens, und aus all ihrer Faszination und Begeisterung schält sich ein tiefer Zorn. Und der fremde Planet verwandelt sich in Moby Dick: Das Antlitz des roten Planeten ist eine Maske des weißen Wals. Eine Maske des Teufels. Also ein Gottesbeweis.
Die sowjetischen Kosmonauten konnten (jedenfalls in den Legenden) behaupten, sie hätten dort oben weder Engel noch einen alten Mann mit wallendem Bart gesehen. Die amerikanischen Astronauten wissen, dass sie im Weltraum früher oder später den Teufel finden. Die Weltraumfahrt ist eine fundamental christliche Mission, aber da oben lauern auch mächtige Verführungen.
Darum hat diese aus der Perspektive des alten Europa so absurde Entwicklung der Nach-Kennedy-Zeit ihre metaphorische Richtigkeit: Die US-Politik erlebte immer beides zugleich, eine Re-Evangelisierung und Fundamentalisierung und einen Schub an Weltraumsehnsucht. Zeiten der Bigotterie waren immer zugleich Zeiten der Hochrüstung und der Science Fiction. Ronald Reagan und Bush sr. versprachen große, martialische Weltraumprojekte. Es störte niemanden, dass aus diesen Projekten nicht mehr wurde als eben Pulp Fiction. Zur Zeit der Carter- und der Clinton-Administration schien dagegen klar, dass man die Raumfahrt nach Maßen der ökonomischen und menschlichen Vernunft ausführte. Die Weltraumfahrt und ihre Fantasie hat ihre Aufklärung noch nicht erlebt.
Anders gesagt: An keinem Ort der Welt sind Wissenschaft und Religion so sehr miteinander verbunden wie im Weltraum. Dabei hat das religiöse Element die Mission immer schon ein Stück weit entwirklicht. Ronald Reagans und George Bushs Visionen blieben weitgehend im Virtuellen. Die Verschwörungsfantasien wuchern: War die Mondlandung vielleicht nur ein gigantischer Medienschwindel? Hollywood hat auch das schon geträumt. In „Unternehmen Capricorn“ aus dem Jahr 1978 entpuppt sich der erste Flug zum Mars als größtes Projekt der Bilderfälschung. Science Fiction beginnt immer mit dem Aufbruch zu den Sternen und endet mit Invasionsängsten und „Matrix“-Irrealität.
Der Mars hat übrigens in dieser Mythologie immer eine besondere Rolle gespielt. Es ist der „angry red planet“ der Science Fiction. Rot und böse, tückisch und wahr. Das Urbild eines „Wüstenplaneten“, auf dem, anders als beim Wiedergeburtsplaneten Jupiter, immer mit dem schlimmsten gerechnet werden muss – Gehirnvampire, lebende Steine und alte, böse Wissenschaftskulturen inklusive. Vielleicht wollen wir zum Mars, weil uns das Böse in der Welt so ungreifbar geworden ist. Die ödipale Provokation des Kosmos, die sich hinter der technologischen Aufbruchsstimmung verbirgt.
Am Ende ist die Reise zum Mars vielleicht sogar auch mythologisch der reine Blödsinn. Denn ohne neue Erkenntnisse und ohne neue Methoden lassen sich nicht einmal schiefgelaufene Erzählungen reparieren, geschweige denn „Menschheitsträume“. Was also wird aus dem Projekt eines Zurück-zur-Zukunft-als-wäre-nichts- geschehen? Ein paar Filme vermutlich, die die moving frontier im Kosmos suchen und nicht finden werden. Oder doch irgendwo, wo jemand wie Bush nie hindenken würde.
Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in Der Tagesspiegel, 26.01.2004
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