Letzte Dinge, oder wie man im Zeitalter des Finanzkapitalismus seinen Verstand und sein Leben verliert
Teil 1
DEMENZ: Die Metapher vom Verschwinden des Geistes
Das Leben, sagt man, ist eine riesige Sauerei. All diese Angst, die Schmerzen, der Verlust, die Kränkung, das ganze für das bisschen Sex und Sauerbraten, eine kleine Kindheitserinnerung und Beethovens 9. oder Captain Beefhearts 3. Dann wird man mit ziemlicher Sicherheit auch noch sterben, und möglicherweise vorher den Verstand verlieren. Und zu alledem kommt noch der Ärger mit dem Geld. Der Kapitalismus macht das Leiden des Menschen größer, er macht es nur eine Zeit lang leichter, nicht daran zu denken. Für die Gewinner jedenfalls.
Wovon man nicht sprechen kann, sagt der Philosoph, darüber muss man schweigen. Der Praxis hält dieses Gebot indes nicht stand. Wir müssen vielmehr tagtäglich umgehen mit Komplexen, von denen uns keine verlässliche Nachricht ereilt, und über die sich nichts Verbindliches sagen lässt. Was geht vor in der Innenwelt eines Wahnsinnigen, eines Dementen, eines Menschen im Koma, eines Sterbenden? Niemand kann es wirklich wissen, denn wer dort ist, spricht nicht die Sprache der Menschen auf der anderen Seite, und das Ur-Instrument der Kommunikation, die Erinnerung, die sich zur Sprache bringt, hat ihre Wirkmacht weitgehend verloren. Wir müssen umgehen mit Menschen, von denen und mit denen wir nicht sprechen können, jedenfalls nicht in der Weise des logischen und transparenten Diskurses, und wir können weder von den Problemen noch von den Leiden dabei schweigen.
Wir können also nicht „sprechen“, aber wir müssen erzählen. Wovon man nicht sprechen kann in der vielleicht nur scheinbar klaren Sprache von Wissenschaft und Gesetz, davon muss auch im öffentlichen Diskurs erzählt werden. Daher scheint es angebrachter nicht vom Wissen etwa von der Demenz oder vom Prozess des Sterbens zu sprechen, sondern von den Erzählungen. Es gibt die wissenschaftlichen, die medizinischen, die sozialen, die biographischen, die metaphorischen, die ethischen Erzählungen. Sie alle richten sich nach einem kulturellen Konsens aus, nach dem Versuch, eine Meta-Erzählung zu bilden, die eine Mehrheit als „richtig“, „akzeptabel“, „vernünftig“, „menschlich“, „brauchbar“, „schön“ oder „angemessen“ hält (und der, wie allen Erzählungen, eine Minderheit widerspricht). Doch gerade um diese Mehrheitsfähigkeit des Diskurses zu erreichen, muss die Erzählhaftigkeit des Diskurses und seine Entstehung unter dem Gebot des gesellschaftlichen Konsenses, und das heißt am Ende auch seine Unterwerfung unter die soziale, politische und ökonomische Nützlichkeit und unter das hegemoniale Interesse, verschleiert werden. So ist ein „Ethikrat“ – oder soll es sein, es knirscht da immer wieder an manchen Ecken und Enden – eine Erzählmaschine. Eine unter vielen. Am unteren lukrativen Ende haben wir wie immer unsere Medien der Niedertracht, die mit der Angst vor der Demenz und dem Sterben (und noch mehr der Angst vor der Demenz und dem Sterben unserer Angehörigen) ihre Geschäfte machen. Und mit der Lust, andere den Verstand und das Leben verlieren zu sehen.
Demenz wie Sterben sind Metaphern eines Verschwindens des Menschen, das der herkömmlichen Trennung von Leben und Tod vehement widerspricht. Es ist ein Zustand zwischen Da-Sein und Fort-Sein, der sich offensichtlich immer weiter ausdehnt, von einem verlängerten Leben hin zu einem verlängerten Sterben. Die Ursachen für die Ausdehnung dieser „Zone des Untodes“ sind vielfacher, als es zunächst den Anschein haben mag. Natürlich hat der medizinisch-wissenschaftliche Fortschritt ein längeres Menschen-Leben ermöglicht, das haben wir statistisch und biographisch vor Augen. Eingriffe und Medikationen machen ein Weiterleben möglich wo noch vor kurzem alles zu spät gewesen wäre und man den Menschen statt dem Arzt dem Priester übergeben hätte um ihn mit Gott aber möglichst rasch ins Jenseits zu entlassen. Das Weiterleben indes bedeutet in den seltensten Fällen ein Weiterleben wie bisher. Daher wächst, parallel zum medizinischen Fortschritt, die Angst, das Bewusstsein, der Erzähldrang. In der prolongierten Zeit des Verschwindens müssen nämlich alle die Grundbegriffe, auf die wir uns mühsam geeinigt haben, die Werte und Beziehungen, mindestens modifiziert werden (und natürlich hat die Modifikation am Rand des Lebens auch ihre Auswirkungen auf die Mitte des Lebens): Person, Freiheit, Recht, Bewusstsein, sogar Mensch und Leben selbst. Demenz und Sterben sind Meta-Krankheiten, die wie „gewöhnliche“ Krankheiten immer auch als Metaphern auf die Gesellschaft zurück wirken, also als Meta-Metaphern, die aber auch zugleich ganz real das Grundwissen der Menschen von sich selbst aufheben: Die große Erzählung vom verschwindenden Menschen ist zugleich die Erzählung davon, dass die Gesellschaft nicht hilft. Der Fortschritt für den Menschen wird zur Bremse für den Fortschritt von Maschine und Kapital.
In dieser Erzählung stirbt der Glaube an Kultur, Gesellschaft und Fortschritt so sehr, wie in anderen Erzählungen zuvor der Glaube an die Götter gestorben ist. Die Erzählung vom Verschwinden des Menschen geht über in die Erzählung von der verschwindenden Gesellschaft, die mit dem verschwindenden Menschen umgeht, nicht gut, in aller Regel. Und das Leiden der Demenz geht über in das Leiden an der Gesellschaft, die angesichts des verschwindenden Menschen nicht nur ihre Gleichgültigkeit, sondern auch ihre Hilflosigkeit offenbart. Zur Meta-Metapher von Demenz und Sterben gehört, im intimen einzelnen Leben wie im großen allgemeinen, das Allein-Gelassen-Sein. Allein in einer kontrollsüchtigen Gesellschaft ist der verschwindende Mensch und der, der ihn ein Stück bei seinem Verschwinden begleitet, ob er es will, kann und muss oder nicht.
a)Die medizinische Erzählung
Als Demenz bezeichnet man im Oberbegriff Erkrankungen, die mit dem Verlust der geistigen Funktionen, Denken, Erinnern, Entscheiden, Orientieren, Kommunizieren, Sprechen, Wahrnehmen etc. einhergehen und dies so umfassend und fortschreitend, dass am Ende auch die einfachsten alltäglichen Verrichtungen unmöglich geworden sind. Die häufigsten Formen der Demenz sind die Alzheimer-Krankheit, die „Vaskuläre Demenz“, die als Folge von Durchblutungsstörungen im Gehirn (nach einem Schlaganfall etwa) entsteht, „Morbus Pick“ und andere „frontotemporale“ Formen der Demenz (neurodegenerative Erkrankungen der Stirn- Schläfenlappen), welche zuvorderst eher „Persönlichkeitsveränderungen“ als Gedächtnisverlust zur Folge haben und daher phänotypisch eher als „Geisteskrankheit“ empfunden werden (die Metapher der bösen Veränderung an Stelle der Metapher des Verschwindens). Andere, seltenere Formen (Lewy-Körperchen-Demenz, Demenz bei Parkinson etc.) der Demenz werden problematisch eben dadurch, dass Alzheimer- und Vaskuläre Demenz ein so hegemoniales Krankheitsbild bieten; etwa 60% aller Formen der Demenz werden als „Alzheimer“ diagnostiziert.
Der Name geht auf den Psychiater und Neuropathologen Alois Alzheimer zurück, der unter seinen Patienten die 50 Jahre alte Auguste Deter hatte, deren psychisches Siechtum er fünf Jahre lang bis zu ihrem Tod im Jahr 1906 beobachtete. Nach der Untersuchung des Gehirns der Verstorbenen veröffentliche er seine Untersuchungen über die histologischen Veränderungen, die zum Modell für weitere Beschreibungen von Krankheitsbildern wurden. Im „Lehrbuch der Psychiatrie“ aus dem Jahr 1910 ist bereits von einer „Alzheimer-Krankheit“ die Rede. Dass sie einst zur „Volkskrankheit“ werden könnte, dass jede kleine Vergesslichkeit im Alltag mit dem Reflex „Alzheimer“ (oder, für jüngere Spaßvögel: „Alzheimer Junior“) bedacht werden würde, wäre damals wohl kaum vorstellbar gewesen. Es schien viel eher, progressistisch gedacht, einer von vielen Vorstößen ins unbekannte Reich der Innenwelt.
Die organischen Ursachen der Alzheimer-Erkrankung sind nach wie vor nicht eindeutig geklärt, möglicherweise treffen dabei mehrere Faktoren aufeinander, von Mutationen verschiedener Gene bis zu Störungen des Botenstoffs Glutamat. Wie bei allen Krankheiten ist die Früherkennung ein wesentliches Kriterium, und wie bei allen Krankheiten ist die Organisation der Vorsorge nicht nur problematisch, weil sie einen Dauerdruck der Sorge erzeugt, sondern auch, weil kulturelle Faktoren, politische und nicht zuletzt wirtschaftliche Interessen hinein wirken. Das amerikanische National Institute on Aging hat einen Katalog der Warnzeichen für eine prä-demente Disposition zusammen gestellt. Wer solches an sich und mehr noch an anderen feststellt sollte nach Anschauung des NIA auf ärztlichen Beistand dringen:
Der Erkrankte wiederholt immer wieder die gleiche Frage.
Der Erkrankte erzählt immer wieder die gleiche kurze Geschichte.
Der Erkrankte weiß nicht mehr, wie bestimmte alltägliche Verrichtungen wie Kochen, Kartenspiel, Handhabung der TV-Fernbedienung funktionieren.
Der Erkrankte hat den sicheren Umgang mit Geld, Überweisungen, Rechnungen und Ähnlichem verloren.
Der Erkrankte findet viele Gegenstände nicht mehr oder er legt sie an ungewöhnliche Plätze (unabsichtliches Verstecken) und verdächtigt andere Personen, den vermissten Gegenstand weggenommen zu haben.
Der Erkrankte vernachlässigt anhaltend sein Äußeres, bestreitet dies aber.
Der Erkrankte antwortet auf Fragen, indem er die ihm gestellte Frage wiederholt.
Wie hilfreich ein solcher Katalog sein mag oder nicht, so verrät er doch zweifelsfrei soziale Normen. Demenz heißt also immer beides, ein klinisches Krankheitsbild und ein sozial problematisches Verhalten. Wie „schwer“ die Krankheit Demenz also ist, hängt auch mit ihrem sozialen Umfeld zusammen, mit dem Auffälligen, dem Störenden, nicht zuletzt dem „Unkontrollierten“. Symptomatisch erscheint die Aussage des deutschen Ethikrates: „In der Regel kann alles, was dem Betroffenen erlaubt, in Kontinuität mit seinen Lebensgewohnheiten zu bleiben, Leiden mindern und Pflege erleichtern“. Oliver Tolmein erhebt in der F.A.Z. sehr zu Recht Einspruch: „Schon die Gleichsetzung von ‚Pflege erleichtern’ und ‚Leiden mindern’ stimmt aber misstrauisch. Und wieso ist hier nur von ‚Leiden’ die Rede, nicht aber – hier geht es um Selbstbestimmung – beispielsweise von ‚Freiheit’? Wieso soll der demente Mensch, der in einen, verglichen mit seinem bisherigen Leben, Extremzustand geworfen wird, darauf mit großem Interesse an Kontinuität reagieren? Das Gegenteil erscheint mindestens so plausibel“. [1]
Die statistische und die soziale Erzählung der Demenz
machen aus der Krankheit eines Menschen die Krankheit eines Kollektivs.
Kurzum: Es gibt zwei möglicherweise gar einander zuwiderlaufende Projekte in Bezug auf den geistig verschwindenden Menschen, nämlich einerseits die klassische medizinische Aufgabe, die Ursachen dieser Krankheit herauszufinden und sie nach allen Möglichkeiten der ärztlichen Kunst zu behandeln, also die Leiden mindern, den Verlauf verlangsamen, wenn möglich eine Therapie entwickeln, am Ende gar eine Prophylaxe, die „Krankheit auszurotten“, und andererseits die Aufgabe, die Krankheit sozialverträglich, erzählbar, am Ende, mit unserem Lieblingswort, „marktkonform“ zu machen. Dies Doppelgesicht der Medizin im Spannungsfeld von Ökonomie und Politik belastet uns, unter anderem, mit ethischen Fragen. Das haben wir nicht so gerne.
Zur gleichen Zeit ist der Kampf gegen Alzheimer nie zu einer solchen heroischen Medizin-Erzählung geworden wie, sagen wir, „Der Kampf gegen das Wundfieber“ oder noch „Der Kampf gegen den Krebs“. Dies hängt bestimmt nicht allein mit den eher entmutigenden Nachrichten aus der Forschung zusammen. Eine Sackgasse war offenbar beispielsweise die Konzentration auf das Beta-Amyloid das sich mit neurofibrillären Bündeln im Hirn anlagerte. Wenn eine Alzheimer-Krankheit erste Symptome zeigt, ist es für eine Behandlung an dieser Stelle nämlich bereits zu spät. Seit den Jahren nach 2011 konzentrierte man sich dagegen mehr auf die beeinträchtigte Energieversorgung. Pharmakologische Forschung und Gedächtnistraining und Bewegung sollen gemeinsam wirken. Eine neue Studie am Horizont verspricht, dass „polyklomale Antikörper“ die Krankheit immerhin um etwa drei Jahre zu stoppen vermögen. Aber solche Nachrichten glimmen oft auf und verschwinden wieder. Die medizinische Erzählung ist in Wahrheit für den Mainstream unlesbar.
Dennoch wird jeder Hoffnungsschimmer dankbar zur Nachricht geformt auch im Mainstream-Segment, ob man nun recht versteht, was dahinter steckt oder nicht. Im Sommer 2012 schien eine Studie, die bei einem Kongress in Toronto von Dr. Norman Relkin vom Weill Cornell Medical College in New York vorgestellt wurde, einen Durchbruch zu verheißen. Sie präsentierte übrigens Daten von „einer erweiterten Phase II-Studie mit IVIG-Therapie (AAIC 2012; Abstract P3-381). 24 Patienten mit leichtem bis moderatem M. Alzheimer bekamen sechs Monate lang Immunglobuline oder Kochsalzlösung (Placebo). (…) Bei den vor Patienten, die drei Jahre lang 0,4 g IVIG/kg alle zwei Wochen erhalten hatte, konnte die Krankheitsprogression gestoppt werden“. [2] Die Phase III-Studien werden im Jahr 2013 folgen, und vielleicht auch eine Übertragung der frohen Botschaft in unsere Medien-Sprache. Zwischen medizinischer Forschung und Mainstream-Medien vermitteln vor allem die Medien der pharmazeutischen Industrie. Auf der Internetseite www.alzheimer-kompakt.de erfahren wir, auch wenn wir andere Informationen erhofft hätten, zuerst etwas über das Unternehmen dahinter: „Lundbeck ist ein forschendes, pharmazeutisches Unternehmen. Unser Fokus liegt auf der Entwicklung innovativer Medikamente, die zur Behandlung von Störungen des Zentralen Nervensystems (ZNS) eingesetzt werden: u.a. bei Depressionen, Schizophrenie, Morbus Alzheimer, Angststörungen und Morbus Parkinson. Lundbeck hat es sich zum Ziel gesetzt, die Lebensqualität von Menschen, die von Erkrankungen des ZNS betroffen sind, zu verbessern. Deswegen arbeiten wir intensiv daran, bewährte Behandlungskonzepte zu verbessern und neue Therapiewege aufzuzeigen. Dabei suchen wir den engen Schulterschluss mit Partnern, die sich demselben Ziel verschrieben haben“. Das versteht doch jeder. Und neben „innovativen Medikamenten“ gibt es das Angebot einer „Gedächtnissprechstunde (Memory-Klinik)“, so wird die Sache messbar. Kurzum: Es gibt zwei medizinische Erzählungen von Demenz – die manchmal bis an den Rand des Pessimismus vorsichtige der medizinischen Forschung und die bis an den Rand der Propaganda optimistische der medizinischen Ökonomie. Etwas bizarr immerhin erscheinen dabei die politischen Impulse, diese beiden gegenläufigen Erzählungen zusammen zu bringen. So verspricht die Regierung der USA programmatisch und „in enger Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern“, dass bis zum Jahr 2025 Wege gefunden würden, die Alzheimer-Erkrankung aufzuhalten bzw. erfolgreich zu therapieren. Garant dafür soll ein „National Alzheimer’s Project Act (NAPA)“ sein, den der US-Kongress verabschiedete, ganz so als handele es sich dabei um etwas wie ein Mondlande-Unternehmen. Aber was soll ein solcher Zeitplan für eine medizinische Forschung? Ein Vertrösten (nach Ansicht mancher Ärzte: um zu verschleiern, dass viel zu wenig Geld für die Forschung zur Verfügung gestellt wird)? Eine populistische Einschreibung in Marktzyklen (nach Ansicht anderer: um der Pharma-Industrie eine Innovationsdramaturgie zu geben)? Worum es zu gehen scheint, ist die Balance von privater Angst und gesellschaftlicher Hoffnung.
b) Die statistische Erzählung
Zahlen, ausgerechnet, spielen bei den Demenz-Erzählungen eine große Rolle. Die große Alzheimer-Erzählung zeichnet sich so sehr durch metaphorische Dichte wie durch statistische Dringlichkeit aus. Im Jahr 2010, so lautet sie, waren in Deutschland 1,3 Millionen Menschen allein von Alzheimer-Demenz betroffen, 2050 sind es nach dem derzeitigen Stand der Behandlungsmöglichkeiten 2,6 Millionen. Weltweit errechnete man im Jahr 2007 29 Millionen Alzheimer-Kranke, für das Jahr 2050 wären es hochgerechnet 106 Millionen. Nach dieser Berechnung der Vereinen Nationen ist dann einer von 85 Menschen Alzheimer-dement. Nehmen wir die anderen Formen der Demenz dazu, so nähern wir uns einer Gesellschaft, die zu einem Viertel aus Dementen, aus geistig – oder seelisch, wie man es nimmt – verschwundenen oder verschwindenden Menschen besteht. Das Verschwinden ist weder ein kontinuierlicher noch ein synchroner Vorgang; der Geist verschwindet anders – und offenbar schneller – als das Gefühl. Es ist schwer, sich einen Menschen vorzustellen, der mehr Gefühle hat als Verstand, sie zu „begreifen“. Wie stellen wir uns einen Menschen vor, der Angst empfindet aber nicht weiß was Angst ist?
So wie AIDS eine Strafe für eine Gesellschaft schien, die die Sexualität aus dem Bannkreis der Religion zu befreien suchte, so ist Alzheimer als die Strafe für eine Gesellschaft, in der man ungern stirbt, angesehen worden. (Jubelte nicht der Christenmensch „Ich freue mich auf meinen Tod“?) Der Mensch, der nicht freiwillig zur rechten Zeit verschwunden ist, muss zur Metapher des Verschwindens als qualvoll langsamer Prozess werden.
c) Die soziale Erzählung
Natürlich reden wir unentwegt von der „Demenz“, da sie im Diskurs der „Demographie“ und Biopolitik eine entscheidende Rolle spielt. Normale Geisteskrankheiten scheinen dagegen am ehesten auf ihren metaphorischen Gehalt reduziert, da sie überdies nicht wahrscheinlich oder statistisch zu erfassen sind. Schizophrenie und Psychose sind bekannte Unbekannte, während der Demente ein unbekannter Bekannter ist. Statt woanders zu sein (in einem Land der Schmerzen und der Freuden, die uns unbekannt sind) ist der Demente scheinbar nur einfach nicht mehr da. Im Geisteskranken ist etwas unwahrscheinliches eingetreten, der Demente dagegen repräsentiert eine Wahrscheinlichkeit. Nie in der wechselvollen Geschichte der Geisteskranken hat jemand behauptet, dass wir uns an sie gewöhnen müssten; ebendies wird nun von uns verlangt. Demenz ist eine gewöhnliche Krankheit; nahezu jede und jeder kann von einem Fall aus der näheren Umgebung erzählen, ist in der einen oder anderen Weise betroffen, und selber gefährdet ohnehin. Denn in der Gesellschaft der Kontrolle laufen Alte, die nicht mehr richtig im Kopf sind, nicht mehr einfach so mit. Demente sind vielmehr Einsätze im biopolitischen Herrschaftsspiel.
Aber der eigentliche Protagonist der Demenz-Erzählung, und das ist gewiss ein bezeichnender Wandel, ist nicht so sehr der Kranke selber (wie in der typischen Krebs-Erzählung in der populären Kultur, der Geschichte vom Menschen, der im Angesicht des Todes noch einmal zum intensiven Leben findet), als es vielmehr sein soziales Umfeld, seine Angehörigen sind. Bis zu einem gewissen Grad nämlich müssen die Menschen, die einen Demenzkranken pflegen, selber mit einem Verschwinden rechnen, mit einem sozialen, aber auch mit einem personalen Verschwinden: Sie sind einem verschwindenden Menschen ausgeliefert, in aller Regel weit mehr als sie es gegenüber dem da-seienden waren.
Die Unfähigkeit den Menschen zu lieben,
auch im Zustand seines Verschwindens.
Die statistische und die soziale Erzählung der Demenz machen aus der Krankheit eines Menschen die Krankheit eines Kollektivs. Sehen wir nicht in uns und in anderen unentwegt Vor-Schatten des kommenden Verschwindens, sehen wir nicht, wie hilflos und brutal die sozialen Institutionen reagieren, wird nicht, nach dem Kranken auch sein Angehöriger der hoffnungslosen Einsamkeit überantwortet? Nein, sagt die Trost-Erzählung, die sich immer als Rettendes in der Gefahr bildet: Den Menschen, die sich um den Verschwindenden versammeln, ihm Liebe und Fürsorge geben, ohne von ihm Dankbarkeit oder gar „Erfolg“ verlangen zu können, wächst keine Solidarität, kein Respekt und keine Entlastung aus dem näheren sozialen Umfeld zu. Liebe würde nur noch stärker, Familien nur noch hilfreicher, Freundschaften nur noch tiefer. Schön wäre es.
Doch diese kleinen Trostgeschichten sind in aller Regel etwas für das Nachmittagsprogramm im Fernsehen; in den No Nonsense-Nachrichten am Abend erfahren wir viel mehr davon, dass die Demenz-Erkrankungen neben einzelnen Menschen und sozialen Einrichtungen wie Pflegeheime und Krankenhäuser auch das Sozialsystem schlechthin „belasten“ und „überfordern“. Die Krankheit, in den wirklich wichtigen Nachrichten, ist ein „Wirtschaftsfaktor“. Die über fünf Millionen Alzheimer-Kranken des Jahres 2012 kosten die amerikanische Gesellschaft rund 183 Milliarden Dollar. Wenn man die statistische Hochrechnung auf das Jahr 2050 verfolgte, wenn also 16 Millionen Amerikaner an Alzheimer-Demenz leiden würden, dann kosteten, nach den Berechnungen der üblichen Experten diese Kranken ungefähr 1,1 Billionen Dollar. Solche Kostenrechnungen freilich sind vollkommen spekulativ, sie erhöhen indes zugleich den Angstfaktor (nach den Angehörigen wird nun auch noch eine komplette Volkswirtschaft durch die Krankheit des Verschwindens in Geiselhaft genommen) und den Ökonomisierungsdruck aller Lebensbereiche. Die selbe Geschichte lässt sich auch in einer sozialdemokratischen Version erzählen, nämlich als jene von der ungerecht eingeforderten, unbezahlten Arbeitskraft der Angehörigen: „Fast 15 Millionen Menschen widmeten demenzkranken Familienmitglieder oder Freunden im Jahr 2010 17 Milliarden Pflegestunden, für die sie nicht bezahlt wurden. Mehr als 60 Prozent dieser Menschen bezeichneten den emotionalen Stress der Pflege als hoch oder sehr hoch“.
Wie krank können eigentlich Zahlen werden?
Eine Krankheit, die scheinbar von Natur aus an den demographischen (aber wohl auch an den demoskopischen) Aspekt der Gesellschaft gebunden ist, wird in der statistisch-ökonomischen Demenz-Erzählung zum Faktor zwischen Arbeit und Kapital. Der Profit der medizinischen Industrie kann nur erhöht werden, wenn gleichzeitig „Professionalisierung“ der eingesetzten Mittel und „Privatisierung“ der eingesetzten Arbeit gewährleistet sind. Der Staat wiederum versucht, geschützt durch die öffentlichen Erzählungen, seinen Anteil am „Kampf gegen die Demenz“ ideologisch zu erhöhen und ökonomisch zu minimieren. So fördert der amerikanische Staat, parallel zu den großspurigen Zeitplänen, die Alzheimer-Forschung in diesem Jahr mit bescheidenen 500 Millionen Dollar – gegenüber sechs Milliarden für die allgemeine Krebsforschung (weitere Millionen für spezielle Krebs-Formen). Womit mag dieses Ungleichgewicht zusammenhängen? Mit einer unterschiedlichen Lobby-Arbeit, mit unterschiedlichen Profit-Aussichten oder womöglich damit, dass selbst „geheilte“ Demenz-Patienten eher selten in den Kreislauf der Ökonomie zurückkehren würden?
Dieses Missverhalten von öffentlichem Rumor und realer Anstrengung setzt sich überall fort: Eine Studie des Institutes für Public Health und Pflegeforschung (IPP) an der Universität Bremen stellte fest, dass 75,6 % der Auszubildenden in der Krankenpflege zur regelmäßigen Pflege demenzkranker Menschen in den Krankenhäusern herangezogen werden, aber nur 23,4% von ihnen den Eindruck hat, dass sie auf diese Aufgabe ausreichend vorbereitet worden sind. Vor allem mit der offenbar grundlosen Aggression aber auch im Umgang mit den Angehörigen hat man nicht gelernt, flexible und spezifische Reaktionen zu entwickeln, der Leistungs- und Zeitdruck lässt ein lernendes Pflegen aber auch nicht zu, und wie es aussieht, halten sich die Anstrengungen, die sozialen Berufe finanziell, personell und in der Ausbildung auf die wachsende Zahl der Demenz-Kranken vorzubereiten, in Grenzen. Je mehr die große Demenz-Erzählung die Gesellschaft in Angst und Schrecken versetzt, desto weniger Interesse zeigt der ökonomisierte Staat daran, reale Verbesserung anzuzielen.
d) Die biographische Erzählung
Man ist gewarnt: „Vor der Demenz kaum wahrnehmbare Persönlichkeitsmerkmale treten spontan in den Vordergrund. Die Betroffenen werden auch entgegen ihres eigentlichen Wesens aggressiv, zeigen starke Stimmungsschwankungen oder sind depressiv. Dadurch erschwert sich der Umgang mit den Demenz-Betroffenen für Angehörige und Pfleger erheblich.“ (So heißt es im „Pflege-Glossar“ von „Wohnen im Alter“.)
Kontinuität und Professionalisierung sind Reaktionen auf diese neue dreifache Angst vor dem Leben-Müssen im Alter. „Käme es zu keinen vorzeitigen Todesfällen aufgrund von anderen Erkrankungen, würden bis zum Alter von 70 Jahren etwa 2 % und bis zum Alter von 80 Jahren etwa 12 % der Menschen an einer Demenz erkranken. Bis zu einem Alter von 90 Jahren wären 50 % der Bevölkerung betroffen, bis zum Alter von 95 Jahren 70 % und wenn alle ein Alter von 100 Jahren erreichen würden, blieben vermutlich weniger als 10 % von einer Demenzerkrankung verschont.“ [4] Auch dieses Rechenexempel hat einen hohen Grad von Virtualität, und auch hier gibt es Gegenerzählungen, die sogar von einer Abnahme der Demenz-Erkrankungsrate nach einem gewissen Alter, aber auch von einer generellen Abnahme gegenüber dem Altersdurchschnitt sprechen. Wir haben uns, so scheint es, indes darauf geeinigt, in einer apokalyptischen Demenz-Erzählung zu leben.
Kontinuität und Professionalisierung sind die neuen soften Formen von „Wegsperren“ und „Dressieren“. Denn eben diese Elemente versprechen äußerlich eine Ordnung zu repräsentieren, die innerlich verloren scheint. Eben die Kontinuität der Person steht in Frage, mehr als in anderen Formen des geistigen Verschwindens: Wenn A. verrückt wird, wird er immer noch als A. verrückt (und wenn er sich für Napoleon hält, dann deswegen, weil A. auch schon als „Normaler“ von Napoleon und dem Napoleonischen geträumt hat, oder?). Wenn B. hypnotisiert wird, dann ist sie auch als Hypnotisierte immer noch B. (und wird auch in Hypnose ihrem Ehemann nicht das Messer in die Brust rammen, es sei denn, sie hätte es auch unhypnotisiert gern getan und sich nur nicht getraut). Jedenfalls entspricht dies gängigen Erzählungen. Aber was ist mit der Demenz, die ja eben nicht ein ver-rücktes sondern ein ent-rücktes Innenleben meint? Der Mensch, der kein verrücktes Abbild seiner selbst, sondern eine zerstörte Leinwand wird? Wenn wir die biographischen Erzählungen zu Alzheimer-Erkrankungen ansehen, so scheint es tatsächlich erstes Ziel der Angehörigen-Erzählung, eine solche Kontinuität der Person auch in der Demenz zu konstruieren. Und tatsächlich: Gibt es nicht bei aller Gleichförmigkeit der Grund-Symptome durchaus individuelle Reaktionen des Dementen? Da wird etwas seltsam und leer, doch es wird offensichtlich nicht auf die immer gleiche Weise seltsam und leer.
Vielleicht deswegen ist die literarische Verarbeitung von Demenzerkrankungen so naheliegend. (Die Liste der mit Demenz „getagten“ Bücher bei amazon umfasst 2730 Titel. Dabei reden wir noch gar nicht von den üblichen Trittbrettfahrern wie den „Alzheimer-Tests“ oder der Flut von „Gehirn-Jogging“-Büchern.) Bemerkenswerterweise geht es dabei selten ohne einen anklagenden Ton ab, die meisten Biographien beschreiben, direkt oder indirekt, dass sich der Demenzkranke mehr oder weniger willentlich von der Welt losgesagt habe, in ein trotziges, schuldhaftes Schweigen verfallen sei, um einer Auseinandersetzung mit seinen Nächsten, mit der angehäuften Schuld, mit leidvollen Erinnerungen, mit dem eigenen Leben aus dem Weg zu gehen. Tilmann Jens etwa warf seinem Vater vor, er habe sich vor seinem Eingeständnis der NSDAP-Mitgliedschaft in die Demenz „geflüchtet“. Jonathan Franzen in „Das Gehirn meines Vaters“ dagegen versuchte, „die individuelle Einzigartigkeit von Earl Franzen vor der Generalisierung durch einen benennbaren Befund zu schützen“, mit anderen Worten sich erzählend gegen eine Entleerung der Person zu wehren, die vielleicht gar nicht im Menschen selber stattfindet, sondern eine gesellschaftliche Zuschreibung ist.
Arno Geiger zeigt einen Mann, seinen Vater (in „Der alte König in seinem Exil“) dem er in seiner Demenz bis in die literarische Form zu folgen versucht, in einem Text, der am Ende also immer formloser wird, als eine Person, die sich nicht durch einen zufälligen inneren Defekt, sondern durch eine Reaktion auf die Welt dem Verschwinden annähert, als einen Menschen, der von der Unübersichtlichkeit des modernen Lebens überfordert ist und sich deshalb in sich selbst zurückzieht. Nur wenige Bücher, wie Martin Suters „Small World“ kennen für eine altersdemente Figur ein Happy End, sogar Heilung, aber das ist ja auch eine poetische Fiktion. Cécile Wajsbrot verfolgt die Geschichte ihrer Familie von Holocaust-Überlebenden als eine Zumutung und Überlastung der Erinnerung. Ein kleines Kollektiv, eine Familie, zersetzt sich unter der Last der Geschichte und der Geschichten. [5]
Die meisten biographischen Demenz-Erzählungen unterstellen der Erkrankung einen geheimen Sinn; sie psychologisieren, historisieren oder moralisieren. Wie könnten sie auch nicht? Wäre Demenz doch anders nicht erzählbar. Dass sie vollkommen arbiträr auftaucht, passte nicht nur in die biographischen, sondern auch in die sozialen Erzählungen nicht.
Oh ja, die Metapher-Bosheit der Krankheit scheint wieder kräftig zuzuschlagen: Mit dem Wohlstand der Zivilgesellschaft wurde der Krebs zur Volkskrankheit, in der Ära der leistungsbereiten Boom-Aufsteiger wurde der Herzinfarkt die beliebteste Todesursache, kaum schien sich das Verhältnis der Gesellschaft zu ihren Sexualitäten zu entspannen, tauchte AIDS auf, und nun, in der Ära des fit gecoachten Positiven Denkens, des großen politisch-ökonomischen Projektes der „Eigenverantwortlichkeit“ und der „jungen Alten“ ist die Wahrscheinlich groß, eben das zu verlieren: das kontrollierte, vorwärts gerichtete, leistungsorientierte, sozial vernetzte, positive Denken, das In-der-Welt-Sein als auf dem Markt sein. Alzheimer-Demenz bildet ab, was die Mitglieder dieser Gesellschaft auf keinen Fall sein sollten. Kein Wunder, das nicht nur die medizinische Forschung und das Drumherum, die üblichen Ratgeber-Bücher und Trostangebote boomen, sondern auch ein kulturkritischer Diskurs entsteht. Die Demenz ist eine vermutlich (denn niemand, der sie hat, kann darüber Auskunft geben) furchtbare Krankheit, doch beinahe genau so furchtbar ist, wie die Gesellschaft mit der Krankheit und mit den Kranken umgeht.
Von Alzheimer wird stets in Zusammenhang mit der „alternden Gesellschaft“ geredet, es ist, neben Phänomen wie Altersarmut von Rentnern oder dem Konglomerat von Gebrechen, die uns das Motto gegeben haben „Alt werden ist nichts für Feiglinge“, gleichsam eine Strafe für den „demographischen Wandel“. Denn dies ist ja offensichtlich: Der Kapitalismus kann alte Menschen, die er zwanghaft produziert, eigentlich nicht gebrauchen, und in der Krise kann er sie sich, wie man immer wieder hört, „nicht leisten“.
Aber zur gleichen Zeit wird „Leben mit Alzheimer“ zu einer großen menschlichen Erzählung, nicht ohne Sentiment, nicht ohne Heroismus, und merkwürdig trostreich hört und liest sich das, bei allem Leiden, manchmal an: Die Menschen, die mit einem dementen Familienmitglied zurecht kommen, ziehen sich radikal ins Private zurück, sie haben von ihrer Gesellschaft wenig Unterstützung zu erwarten, aber sie werden auch auf eine seltsame Art „in Ruhe gelassen“. Das Schlimmste aber was uns an Alzheimer widerfährt ist eine Neuauflage der Frage: Was ist eine Person? Wenn man es noch ein wenig fundamentaler haben will, ist es die Frage: Was ist ein Mensch?
e) Die Erzählung von Recht und Moral
Im deutschen Recht sieht die Sache so aus:
„Angehörige, Freunde oder andere Personen können nur dann im Namen der Demenzkranken handeln, wenn sie mit einer Vollmacht befugt sind oder als rechtliche Betreuer vom Gericht eingesetzt wurden
Das Betreuungsgericht benennt als rechtliche Betreuer üblicherweise die Personen aus dem familiären Umfeld, die bereits die Pflege übernommen haben
Das Amt des Betreuers ist ein Ehrenamt, das nur bei Überlastung oder Überforderung abgelehnt werden darf. Ist dies der Fall, kommt die Einsetzung eines Berufsbetreuers in Betracht
Nahe Verwandte können Beschwerde einlegen, wenn sie mit der Auswahl des Gerichtes nicht einverstanden sind.“ [6]
Die Idee von Kontinuität und Professionalisierung (Normierung) setzt sich also in der juristischen Praxis fort: Der verschwindende Mensch wird nicht aus der bürokratischen Kontrolle, wohl aber aus der sozialen Fürsorge des Staates weitgehend entlassen. Der Angehörige wird zu einem „Ehrenamt“ gegenüber einem Menschen verpflichtet, der ihm fremd wird, der sich ihm entzieht und widersetzt. Es entsteht, bei aller Liebe, ein privates Gewalt-Verhältnis zwischen dem Kranken und seinem Pfleger.
Das ethische Problem also besteht, jenseits der Verpflichtung zur Fürsorge, darin, die (verbliebene) Freiheit der schrumpfenden Person zu bestimmen – und eben über dieses Problem kam es im deutschen Ethikrat im Jahr 2012 zu einem allerdings wohl folgenlosen Streit. Drei dissidente Wissenschaftler, die den staatstragenden Konsens des Rates nicht mittragen wollten, erklärten: „Solange jemand seinen eigenen Willen hat und ihm nach seiner Einsicht mit seinen Gründen folgt, bestimmt er sich selbst“, und diese Selbstbestimmung, auch wenn sie den anderen und den Pflegenden seltsam erscheine, müsse respektiert werden. Allerdings, sei der Mensch, auch wenn er Empfindungen wie Glück und Schmerz, Lachen und Musik durchaus empfinde, „durch Aufklärung oder Ermahnung, Lob oder Tadel, durch die sonst so naheliegende Bitte, sich zusammenzunehmen, nicht mehr zu erreichen und damit in der Konsequenz allenfalls noch eingeschränkt schuldfähig“.
Am Ende geht es um die Optimierung der Pflege und die Erreichbarkeit des Menschen für individuelle und soziale Kontrolle; und offensichtlich ist es keineswegs so, dass Demenz-kranke Menschen keine „neuen Erfahrungen“ mehr machen können. Der Vorschlag sie tunlichst in der „gewohnten Umgebung“ zu belassen erscheint dagegen heuchlerisch. Alle Demenz-Erzählungen, und diese insbesondere, werden um eine Leerstelle herum auf den Diskurs der Effizienz hin getrimmt.
Aber noch ein anderes furchtbares Paradox liegt in der Demenz-Erkrankung. Die in autonome Individuen zerfallende Familie, sogar jene mit den heftigen Aversionen in den Generationskonflikten, werden zusammen gezwungen: Ein Mensch, der verschwindet, bindet den anderen an sich, der ihn ohne sein Verschwinden wohl längst verlassen hätte. Kinder kehren zu ihren Eltern zurück, die wahrhaft nicht mehr da sind; Fürsorge, Hinwendung, sogar Zärtlichkeit, diese Dinge, die wir beklagen, verloren zu haben, kehren zurück, allerdings gegenüber Menschen, die sie nicht mehr wahrnehmen können, oder wenigstens nur wenig Kunde davon tun. Oder, um es in Anklang an Michael Hanekes Film zu sagen, die Liebe kommt zum Ausdruck an dem Punkt, an dem sie nicht mehr realisiert werden kann. Die Krankheit „klumpt“ in der Gesellschaft.
Natürlich ist auch das Verschwinden der Erinnerung eine Metapher, das Verschwinden der Wirklichkeit, nämlich das Verschwinden der Sprache. Jeder demente Mensch ist ein sonderbares, negatives Sprach-Kunstwerk (in ihrem Buch „Die Köpfe der Hydra“ berichtet die französische Autorin Cécile Wajsbrot von einer Großmutter, die nur noch die Worte „vielleicht“ und „auch nicht“ ausspricht); in der Demenz bricht der Mythos der Sprache als Wesen und Grenze des Menschen zusammen, und dies scheint um so tragischer, wenn es gerade besonders sprachmächtige Menschen erwischt.
Die beiden großen heroischen Geschichten unserer post-heroischen Gesellschaft sind die von der Familie der Verlierer, die sich irgendwie durchs Leben schleppt, und die von der bürgerlichen Familie, die an einem oder mehreren dementen Mitgliedern (oder einer anderen besonders schweren Metaphern-Krankheit) zugrunde geht, denn selbst ein scheinbar sicheres kleines Vermögen ist rasch aufgebracht, wenn sich die Pflege von Angehörigen zum eigentlichen Lebensinhalt wenden muss. Die Privatisierung des Lebens durch einen auf diese Weise kranken Angehörigen führt zum zumindest zeitweisen „Ausstieg“ aus dem ökonomisch-sozialen rat race; der Demente, daher vielleicht diese Hassliebe, nimmt seine Angehörigen aus dem Rennen.
Dies, so scheint es, ist die Meta-Erzählung, nämlich dass sich in unserer Gesellschaft die Zuwendung und die Verantwortung konzentriert auf zwei Formen von Menschen im Transit, auf die Demenzkranken und auf die Sterbenden. Die kleine Geschichte ist die von einzelnen Menschen, die erst in diesem Zwischenstadium vollkommener Hilflosigkeit des anderen Wesentliches des Menschseins erkennen, die Solidarität mit einem Menschen, der immer mehr ein anderer und schließlich keiner wird. Aber zur gleichen Zeit handelt dieselbe Geschichte auch von Überforderung und Verzweiflung, davon, wie Menschen „aufgefressen“ werden von einer Pflege, in der es nicht einmal mehr so etwas wie eine emotionale Belohnung, eine „Dankbarkeit“ geben kann. Es gibt dabei auch so gut wie keinen Fortschritt mehr, die Empfindungen oder doch die Nicht-Empfindungen von Zeit und Raum breiten sich gleichsam aus; der pflegende Angehörige wird in gewisser Weise von diesem Untod angesteckt.
Das semantische Verstummen des Kranken und das soziale Verstummen des Angehörigen treffen auf eine unmenschliche Sprache der Bürokratie. Eines der Instrumente der Umverteilung zwischen den Krankenkassen ist der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA), und dabei wird durch das Bundesversicherungsamt (BVA) für das Jahr 2013 das Raster von 80 Krankheiten verändert, was die „Morbiditätslast“ betrifft. Während chronische Schmerzen aufgenommen werden, wird Demenz, inklusive Alzheimer aus dem Katalog gestrichen, dagegen Adipositas aufgenommen, übrigens auch chronische Angsterkrankungen, Asthma bronchiale und Risikogeburt.
Solche versicherungstechnischen Umstufungen mögen die Allgemeinheit kaum erreichen, können aber durchaus symptomatisch sein. Offensichtlich interessiert man sich einfach mehr für die Arbeits- und Konsumfähigkeit als für die Leiden der Menschen und ihrer Angehörigen. Das Diagnose-Manual (DSM) verändert sich auch in Bezug auf die Demenzerkrankungen, vor allem weil es nun statt der klassischen Ausschlussverfahren (Alzheimer hat man, wenn alle anderen Möglichkeiten für die Symptome der Demenz ausgeschlossen wurden) auch eine „positive“ Diagnostik durch Biomarker gibt. Im DSM 5 werden „neurodegenerative“ Erkrankungen in drei Syndrom-Kategorien eingeteilt:
„1. Delir, nach DSM 4: In der vierten Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV) ist ein Delirium über folgende Kriterien definiert:[2]
Störung des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit
Änderungen der Wahrnehmung (Gedächtnis, Orientierung, Sprache, Auffassung)
Akuter Beginn und fluktuierender Verlauf
Vorliegen eines medizinischen Krankheitsfaktors,
2. leichte neurokognitive Erkrankungen (Mild neurocognitive disorders);
3. schwere neurokognitive Erkrankungen (Major neurocognitive disorders)“.
Solche Klassifikationen mögen einen praktischen Nutzen haben oder nicht, in ihrer Außenwirkung sprechen sie nicht nur der individuellen Erzählung hohn, sondern offenbaren auch in aller Regel ein politisches und ökonomisches Interesse.
Ein Beispiel mag die Krankheits-Einstufung der Asperger-Autisten sein; die Klassifikation DSM-4 (also: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, vierte Version), die eine Beeinträchtigung des sozialen Verhaltens und „ein sich wiederholendes und stereotypes Verhalten“ beschreibt, wird ausgekoppelt. Ein extrem logisch orientiertes Verhalten bei einer emotionalen Verarmung, die sich vom gewöhnlichen Autismus dadurch unterscheidet, dass keine Sprach- und Intelligenzstörung zu verzeichnen ist. So können Asperger-Kranke ihre Defizite oft sehr lange verbergen, und die Übergänge zu einem eher neurotisch gestörten Verhalten sind fließend. Nun gibt es bereits IT-Firmen und Software-Tester, die gezielt nach Asperger-Kranken suchen, weil diese die von ihnen geforderten Leistungen besonders effizient ausfüllen. So wird die Behinderung zum Wettbewerbsvorteil, und so entsteht, vielleicht ganz anders als sich das die populäre Phantasie von der „digitalen Demenz“ vorstellt, eine Kreislauf zwischen Maschine und Mensch, der zugleicht autistische Menschen bedarf und autistische Menschen erzeugt. Eine Studie des Autismus-Forschers Simon Baron-Cohen an der Universität Cambridge hat ergeben, dass Kinder in Eindhoven, dem Zentrum der niederländischen IT-Branche, zwei bis viermal so viele Fälle von Autismus anzutreffen sind wie im Rest des Landes. [7] Bedenkt man eine Paralleluntersuchung, die zu dem nicht wirklich überraschenden Ergebnis kommt, dass Mathematik- und Physik-Studenten mehr Autisten in der Verwandtschaft aufweisen als Literaturstudenten, erkennen wir so etwas wie einen Konflikt zwischen einer (offenbar verschwindenden) Medizin, die nach dem Glück und der Menschlichkeit sucht und einer (offenbar wachsenden) Medizin, die sich nach der ökonomischen Verwertbarkeit des „behandelten“ Menschen ausrichtet. Wir sind also nicht mehr weit von dem Punkt entfernt, an dem in den entsprechenden Manualen und Versicherungsrastern Krankheiten so eingestuft werden, dass jede Art von Krankheit und Behinderung nach den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts klassifiziert wird.
Die Klassifikation der Krankheiten ist nicht zuletzt für Statistik, für die Bestimmung der Grade der Behinderungen und am Ende eben, für die Leistungen von Krankenkassen, schließlich sogar bei der forensischen Bewertung von Bedeutung. [8] Das heißt: Mit der Klassifikation von Krankheiten wird Politik gemacht. Sie ist indes vermittelbar nur über die öffentlichen Erzählungen.
Wenn schon bei fortgeschrittenem Alter überlegt werden muss, welche therapeutischen Maßnahmen sich bei organischen Krankheiten noch „lohnen“, um wie viel knapper müssen dann die Ressourcen bei psychischen Erkrankungen gehalten werden (denn „wir“, nicht wahr, wir müssen ja sparen, in den Zeiten knapper Kassen). Nur ein Prozent der Patienten in deutschen psychotherapeutischen Praxen ist älter als 75 Jahre, was sich einerseits mit Vorbehalten der Patienten selbst, ebenso aber auch mit der ärztlichen Bereitschaft erklären lässt: Das „Altersbild“ der Allgemeinärzte entspricht offenbar dem der Mehrheit, nach dem man „alte Menschen nicht mehr ändern kann“. Man projiziert also sehr viel auf die Demenz, um psychische Krankheiten abzuweisen, oder anders gesagt: Einiges an den Demenz-Erzählungen dient offenbar der negativen Konstruktion eines Altersbildes in der Gesellschaft. Zur gleichen Zeit nämlich, da die Demenz-Erzählungen apokalyptische Ausmaße annehmen, scheint es auch eine ganz gegenläufige Entwicklung zu geben: Die Demenzinzidenz ist innerhalb von zehn Jahren um etwa ein Viertel gesunken. Die durch den gestiegenen Altersanteil erhöhte absolute Zahl der Demenzerkrankungen überlagert den Umstand, dass immer mehr Menschen alt werden ohne Demenz. Nach einer niederländischen Studie lag der Demenz-Index im Jahr 1990 bei 6,6 pro Tausend 2000 dagegen bei 4,9 pro Tausend bei kognitiv gesunden Menschen über 55 Jahren. Zur gleichen Zeit war aber die Sterberate auch um 37% gesunken, allerdings auch die Schlaganfall-Quote, die das Demenzrisiko drastisch erhöht. Mag hier Studie mit Studie bekämpft werden, so wie anderswo Erzählung mit Erzählung, so scheint doch auch klar, dass wir, so wenig wir vom Wesen der Krankheit wissen, eigentlich auch nichts von ihrer realen Verbreitung wissen. Denn auch nur die scheinbar so objektiven Zahlen sind nichts anderes als Teile von Erzählungen, die bestimmten Interessen folgen. Die Dringlichkeit des Problems ergibt sich nämlich nicht primär aus einem Wandel des Krankheitsbildes, sondern aus einem Wandel der Gesellschaft.
Die Demenz (wörtlich „ohne Geist“) mit den bekannten Folgen – Störung und Verlust von Funktionen wie Gedächtnis, Logik, Orientierung, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen – trifft auf ein zugleich dynamisiertes und schematisiertes Verhalten in „ihrer“ Gesellschaft. Das alles hat Sekundärfolgen im Sozialverhalten, in den Emotionen, in der Motivation und im Kommunikativen. Die Demenzkranken, mit anderen Worten, finden sich zunächst in der Welt nicht mehr zurecht, und dann verwirren sie auch ihre Mitmenschen, die zugleich unter einem erhöhten sozialen Druck stehen; ihr Leiden, von Schlafstörung bis Depression oder auch Halluzination ist mithin nicht „passiv“, im schlimmsten Fall wird das Verhalten auch aggressiv, aber allein schon, dass sie ihr Gegenüber nicht mehr erkennen, macht Demenzkranke zu einer Kränkung ihrer nahen Umwelt. Die ökonomisch aber eben auch biographisch und kulturell prekarisierte Person kann mit der verschwindenden Person des dementen Menschen nicht mehr jenseits einer der bekannten und ständig medial aktualisierten Erzählungen umgehen; man sieht das Problem, man sieht den Menschen nicht mehr. Andrerseits bleibt doch auch bei diesem eine emotionale Beziehung zur Welt und zu den (auch ihm verschwindenden) Menschen erhalten; die Demenz führt zu allem möglichen, indes nicht zu einer Gleichgültigkeit. Im Gegensatz zum Sterbenden in der Apparatemedizin wird der Demente auch noch im ignorantesten Blick niemals zu einem „Ding“.
In einem Aufruf der „Aktion Demenz e.V.“ heißt es unter anderem: „Menschen mit Demenz sind Bürger! Bislang haben wir Menschen mit Demenz vor allem als Kranke behandelt und versorgt. Das ist nicht genug. Ihnen als Bürgerinnen und Bürgern zu begegnen, fällt uns aber oftmals schwer“. Und noch mehr „Menschen mit Demenz haben Rechte!“. Niemand aber „hat“ Rechte, ohne jemanden, der sie akzeptiert, der sie durchsetzt, der ihnen soziales Gehör verschafft. Ein Demenzkranker also hat so viel Rechte, wie seine Angehörigen oder seine Pfleger ihm zugestehen, ihm zu verwirklichen helfen, ihm verteidigen. Die Rechte eines Demenzkranken sind demnach dringlich gebunden an den sozialen Status seiner Umgebung. Gehört zu solchen Rechten nicht eine menschenwürdige Behandlung eben in jenem Zustand zwischen Kontinuität und Professionalisierung? Für Patienten mit kognitiven Störungen wird die Behandlung nicht selten zur Folter, eben weil das Pflegepersonal in den Krankenhäusern auf sie nicht vorbereitet ist, und Verwirrung und Angst erhöht. Hier gibt es eine schmutzige Wahrheit hinter den vielen Erzählungen und schönen Worten. Nach einer Studie der Universität Witten gehörten zu den Defiziten: lange Wartezeiten, keine spezielle Betreuung, die Patienten werden mit Verrichtungen allein gelassen, denen sie nicht mehr gewachsen sind, die Angehörigen werden nicht mit einbezogen, oft sogar werden sie fortgeschickt, bei demütigenden und entwürdigenden Verrichtungen wird auf emotionale Signale des Protestes kein Augenmerk gelegt usw. Wer keine starken Begleiter hat, ist als Demenzkranker einem medizinischen und sozialen Apparat ausgeliefert, der schon „normale“ Menschen an den Rand der Belastbarkeit zu bringen pflegt. Die Verteidigung der Rechte demenzkranker Menschen ist auf diese Weise zu einer Frage der ökonomischen und sozialen Macht seines persönlichen Umfeldes geworden.
Im Juli 2012 setzte das Pflegeneuausrichtungsgesetz neue Leistungen für „Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz“ fest, so dass eine Milliarde Euro Mehrkosten durch eine Anhebung der Pflegeversicherung um 0,1 Prozent auf 2,05 (Kinderlose zahlen etwas mehr) hereingeholt werden musste. (Der SPD-Politiker stellt schon einmal fest, dass man im Falle eines Wahlsieges die Pflegeversicherung auf 2,5% erhöhen wird.) Der Gesundheitspolitiker Daniel Bahr (FDP) feierte sich: „Zum ersten Mal erhalten Menschen mit Demenz, die bisher nicht berücksichtigt wurden, Leistungen der Pflegeversicherung“, dabei wurde freilich die Förderung privater
Pflegetagegeldversicherungen durch den Staat von der Opposition kritisiert, die einmal mehr wiederum nur die eher wohlhabenden und nicht die bedürftigen erreichte. Was unterblieb war übrigens eine Definition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Stattdessen war offensichtlich die staatlich geförderte Zusatzvorsorge („Pflege-Bahr“) dazu angetan, die „Gerechtigkeitsfrage“ zu verschärfen zwischen jenen, die sich eine solche Zusatzversicherung leisten können und dafür staatlich belohnt werden, und jenen die es nicht können. Es ist also nur die nächste Etappe auf dem Weg zur Privatisierung der Pflegekosten geschafft: wir werden möglicherweise erleben, wie sich mehrere der Demenz-Erzählungen teilen werden, in die Ober-, Mittel- und Unterschichts-Demenz-Erzählungen. Und vielleicht teilt sich auch die Krankheit selbst, die ja immer zugleich eine personale und eine soziale ist.
Man spricht nicht umsonst von „Körperklassen“ – wenige werden gut versorgt, andere überhaupt nicht – und von „Versorgungszeit“, die eine Mehrklassen-Versorgung begleiten, es gibt gewiss auch die Geistesklasse, der gegenüber die Apparate nicht weniger unterschiedlich reagieren; Würde, oder eben das Bürgerrecht des Demenzkranken, muss auch hier erkauft oder erzwungen werden. Dazu die „Demenz-Wohngemeinschaften“, in denen mehr Selbstbeteiligung verlangt wird als in den gewöhnlichen Heimen: Selbst das Verschwinden des Menschen in sich selbst geschieht auf eine Klassenweise. Deutschland nimmt bei der staatlichen Betreuung einen schlechten Platz ein; die Pflege ist teuer, weil sie arbeitsintensiv ist, und der Druck auf die Arbeitskosten am höchsten. Zur gleichen Zeit stehen die Familienmitglieder, die früher Pflegearbeiten kostenlos übernommen haben, tendenziell einfach nicht mehr beliebig zur Verfügung. Der demenzkranke und ansonsten unnütze Mensch passt nicht ins Bild der Leistungs- und Spaßgesellschaft. Die alternde Gesellschaft müsste umdenken oder den Begriff der Menschenwürde fallen lassen, den sie weder für die Ankommenden, die Flüchtlinge und Migranten, zur Verfügung stellen will noch für die „Versager“ in den eigenen Reihen. Vielleicht beginnen wir zu begreifen, wie die Demenz-Erzählungen zusammen gehören, die sozialen, die biographischen, die medizinischen, die juristischen, die ethischen und die statistischen.
Demenz wird Erzählung nicht zuletzt durch öffentliche Dramen wie etwa die Demenz-Erkrankung des Fußball-Managers Rudi Assauer. Die Bild-Zeitung, titelte „Auf einmal alles vorbei… und kein Mensch kann dir helfen“. Allein in dieser Überschrift wird die Niedertracht dieser Erzählung kaum verhohlen; das Verschwinden soll beschleunigt werden. Die „Aktion Demenz e.V.“ setzte gegen diese Erzählung eine Erklärung, dass bei den Erkrankten keineswegs „keine Lebensfreude und keine Liebe“ mehr zu spüren sei, wie dies dort behauptet würde. Man fordert unter anderem „demenzfreundliche Kommunen“. Mit anderen Worten: So wie sich an der Krankheit Demenz Kapital und Arbeit begegnen, begegnen sich im Wettstreit der Erzählungen auch Mitmenschlichkeit und Niedertracht. Die Unfähigkeit den Menschen zu lieben, auch im Zustand seines Verschwindens.
Georg Seeßlen, konkret
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[1] Oliver Tolmein: Die Tragödie der Demenz. In F.A.Z. vom 27. April 2012
[2] Ärzte-Zeitung vom 24. Juli. Offenbach 2012
[3] Claudia Pieper: Alzheimer-Forschung in den USA: große Pläne, wenig Geld. In: Ärzte-Zeitung vom 24/25. Februar 2012
[4] Deutsche Alzheimer Gesellschaft. Selbsthilfe Demenz. (http://www.deutsche-alzheimer.de/fileadmin/alz/pdf/factsheets)
[5] Tilmann Jens: Demenz. Abschied von meinem Vater. München 2009
Tilmann Jens: Vatermord. Wider einen Generalverdacht. München 2010
Jonathan Franzen: Das Gehirn meines Vaters. In: „Anleitung zum Einsamsein“. Hamburg 2002
Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. München 2011
Martin Suter: Small World. Zürich 1999
Cécile Wajsbrot: Die Köpfe der Hydra. Berlin 2012
[6] Wegweiser Demenz. © Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2012
[7] Siehe Kerstin Bund; Maschinen sind leichter als Menschen. In: DIE ZEIT Nr. [1]7. H[1][1]mburg 2012
[8] Ieng Thirith, einstige Sozialministerin der „Khmer rouge“, erhielt von einem Expertengremium Hilfe, das vor dem Internationalen Gerichtshof in Pnom Penh befand, sie sei durch eine „beginnende Demenz“ nicht mehr verhandlungs- und schuldfähig. Solches, zweifellos, wird sich häufen – und eine neue Erzählung generieren.
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