Schrecklich faszinierend: Magnotta auf Facebook

I

 KONSTRUKTION EINES MONSTERS

Einerseits könnte man sehr praktisch und vergleichsweise hilflos davon ausgehen, dass unter einer immer noch steigenden Anzahl von Menschen zwangsläufig ab und an einer auftaucht, der die furchtbarsten, gewalttätigsten und ekligsten Dinge tut, die man sich nur vorstellen kann. Für die statistische Erklärung des Phänomens ist es mehr oder weniger gleichgültig, ob dieser gefährliche Defekt genetisch, medizinisch oder sozial bedingt ist. Für die Behandlung, so oder so, indes ist es eine Schlüsselfrage. Es entscheidet nicht nur darüber, ob wir vom Kranken, vom Kriminellen oder gar vom Bösen sprechen. Das Mörder-Monster ist gleichsam der GAU in den Adaptionsmaschinen von Individuum und Gesellschaft. Und wie es mit dem GAU so ist: Man kann ihn nicht berechnen, und muss dennoch beständig mit ihm rechnen. Schließlich sind wir übereingekommen, dass die Psyche, das Begehren und die Impulse reichlich komplizierte, wenn nicht komplexe Systeme sind, zu denen das Auftreten von destruktiven und autodestruktiven Elementen nicht weniger als die Entropie gehört.

Auf der anderen Seite kommen wir nicht umhin, das sporadische Auftauchen solcher Menschenmonster als Symptom sozialer und kultureller Erkrankungen oder als Metapher kommenden Unheils anzusehen. Gegenüber der ersten hat diese Annahme einen entscheidenden Vorteil: Mörderischer Wahnsinn wäre dann nicht mehr „blinder Zufall“ oder trivialer Systemfehler,  sondern stände, wenn auch auf eine sehr negative Weise, in der Ordnung der Erzählungen und der Diskurse. Er machte auf spiegelverkehrte Weise „Sinn“ und wird entsprechend von Sinnproduzenten – wie auch andere „Naturkatastrophen“ – als Rohmaterial eingesetzt.

Vermutlich verhält es sich indes gerade umgekehrt: Wir betrachten einen Mörder im allgemeinen, einen „Sexualmörder“ im besonderen so lange im Lichte unserer Mainstream-Diskurse, bis seine Taten Erklärung und „Sinn“ abgeben. Auch der Massenmörder Anders Breivik musste vor Gericht und außerhalb „erklärt“ werden. Und es musste die Frage beantwortet werden, ob es sich um einen Verbrecher oder einen Wahnsinnigen handele. Denn offensichtlich fällt es uns schwer, uns den Faschismus als ein System vorzustellen, in dem es diese Unterscheidung so wenig gibt wie die zwischen der Wahrheit und der Lüge. Und nun also Luka Rocco Magnotta. Ein Monster-Mörder wie ihn sich die einschlägige Presse nicht besser erfinden könnte. Vielleicht ist es gerade das, was uns ein wenig skeptisch machen sollte.

Um zur Metapher zu werden muss ein solches Mörder-Monster wohl mindestens ein  Drittel dieser Bedingungen erfüllen:

1. Seine Taten müssen an Drastik und Schrecken, wenigstens was die Gegenwart anbelangt, unvergleichlich sein. Das ist entweder durch die Ausführung der Tat selber oder durch die Quantität der Taten vollbracht. Am Ende haben sie noch stets mit den großen „letzten“ Tabus zu tun, dem Töten aus Lust, der Nekrophilie und dem Kannibalismus.

2. Das Opfer, die Tat und der Täter selbst müssen einen symbolischen oft kontrasthaften Wert aufweisen. Der Kindergeburtstagsclown oder die Krankenschwester als Serienmörder. Der brave Familienvater als pädophiler Gewalttäter. Der Killer mit dem Engelsgesicht. Ein Pornodarsteller als Sexual- und Ritualmörder passt natürlich in diese Reihe.

3. Täter und Tat müssen an ein vorformuliertes Bild aus der populären Kultur andocken. Luka Rocco Magnotta bekam sogleich den Titel „Canadian Psycho“ in Anlehnung an das Buch (und den Film) „American Psycho“. Immer wieder, wie beim „Yorkshire Ripper“ werden Assoziationen zum ersten Serienmörder der Moderne erweckt. Die Kehrseite dieser möglicherweise durchaus wohltuenden Einordnung des Unverstehbaren ans wenigstens Bekannte ist, dass diese Kultur sich vor sich selber graut. Ist dieser Mörder etwa nichts anderes als die Realisation eines kollektiven Traums? Reflexhaft taucht dann zur Bannung die Frage nach der Mitschuld dieser Kultur, der Mitschuld „der Medien“ auf.

4. Die Tat hat einen sozialen und politischen Bedeutungsgehalt; Täter und Opfer gehören nicht der gleichen Kultur, der gleichen Klasse oder der gleichen Rasse an. Monstren wie Jack the Ripper morden nicht nur gegen-geschlechtlich, sondern auch „nach unten“. Die Tat ist eine grausame Karikatur von Macht und Ausbeutung, die in der Gesellschaft gängige Praxis sind. Das Monster wird zum blutigen Abbildung von Macht- und Ausbeutungsverhältnissen.

5. In scheinbar paradoxem Widerspruch zu dieser Karikatur-Funktion (das Monster, das ja nicht umsonst so heißt, macht sichtbar, was an Gewalt und Ungerechtigkeit, Schutzlosigkeit und Gleichgültigkeit in der Gesellschaft lauert) ist solcher Unhold immer auch als eine Strafe für etwas zu denken, wie Charles Manson als (selbst produziertes) Ungeheuer der leichtlebigen, drogengetriebenen und promiskuitiven Hippie-Kultur. Magnotta wird offensichtlich unterschwellig von einem Teil der Sensationspresse als Strafe für die Unordnung in den Geschlechterrollen aufgebaut; seine Flucht führte ihn nach Paris, wo er von Zeugen gesehen worden sei,  „möglicherweise in Frauen-Kleidern“. So wenig Details uns die Presse auch vorenthalten möchte, zumindest hierzulande fehlt das Wort „schwul“, denn das Monster soll noch hinter diese Mainstream-Ordnung reichen. Und er scheint, viel allgemeiner, als Strafe für unsere Internet-Geilheit: Der Mörder, der, wie wir lange wissen, im Chat-Room und auf Facebook lauert.

6. Alle klassischen Sinn-Systeme versagen gegenüber der Tat, weshalb in aller Regel auch ein Gerichtsurteil nie „gerecht“ sein kann, da „das Böse selber“ weder ein „zurechnungsfähiges“ Gewissen hat noch im Sinne des Strafrechts „reformierbar“ wäre. Wäre die Tat die eines Wahnsinnigen, der nicht bestraft (wohl aber „weggeschlossen“) werden kann, dann hätte er die Krankheit auch in die Gesellschaft getragen; wäre er dagegen ein „Krimineller“, dann müssten wir damit rechnen, dass mehr Menschen ähnliche Taten auszuführen träumen, allerdings von der Angst vor Strafe davor zurückschrecken. Doch die Taten der Mördermonster unterscheiden sich vollständig von, sagen wir, einem Eifersuchtsmord, den, wie Kommissar Maigret wusste, im Grunde jeder und jede begehen könnte. Das Außerhalb solcher Taten indes ist fundamental; es ist ein „anderes“, das über uns spricht, nicht aber mit uns.

7. Das Monster, das scheint seine geheime Bestimmung, nötigt nicht nur deshalb die Gesellschaft, in der es auftaucht, Gewalt, Mord und Unrecht zu entwickeln. Sadistische Mörder produzieren sadistische Straf- und Rachephantasien, und es ist nicht ausgemacht, ob nicht auch da nur etwas Schlafendes geweckt wird. So wird sich diese Gesellschaft, die vom Monster bedroht wird, doppelt fremd. Sie stellt schließlich die Frage nach der Herrschaft: Warum konnten uns die Fürsten vor dem Monster nicht bewahren? Wo war die Polizei, als man sie brauchte? Warum war das Opfer in seiner Kultur nicht besser geschützt? Und was wird aus uns, wenn wir uns selber schützen wollen? Dieses Monster zeigt, wie dünn die Haut der Gesellschaft und der Kultur ist (so bekommt es gelegentlich, wenn auch eher unverbindliche, Sympathie von Künstlern und Poeten der Anarchie.

8. Während es die staatliche Ordnung in Frage stellt, einigt das Monster indes die Gesellschaft. In unserer Angst, in unserem Hass, in unserem Mitleid mit den Opfern sind wir für den Augenblick einig, so wenig wir uns gewöhnlich auch nur in einem Stadtviertel oder in einem Diskurs zu treffen vermögen. Der terroristische Staat, wie zum Beispiel der der Nazis, unterdrückt die Nachricht vom Monstermörder, wenn er ihn selbst schon nicht verhindern kann, eine Spaßgesellschaft verwandelt noch das Grauen in kurzer Zeit in Unterhaltung. Spätestens als Bild-Schlagzeile fühlen sich Monster in der Mainstream-Gesellschaft gut an.

9. Es gibt irgendeine mehr oder weniger verborgene „religiöse“ oder vor-religiös magische Komponente in der Tat, so dass diese nicht allein als Strafe, Mahnung, Prophetie oder „Zeichen“ gedeutet werden kann, sondern selbst metaphysisch erscheint. Ein Ritus des Opfers an unbekannte, grausame Götter oder für die verrückt gewordenen Götter des Konsenses. Das gilt nicht nur für Monster-Mörder, die sich selbst bereits religiös motivieren; auch in der Abstraktion bleibt das Ritual des Grauens transzendent.

10. Das Mörder-Monster aktualisiert in uns die Ängste, die Sozialisation, Rationalisierung, Markt und Alltag nie gänzlich beseitigen konnten: Die Welt ist ein furchtbarer Ort. Von allem Göttern verlassen. Ohne Aussicht auf Heilung und Besserung. Wir sind in Wirklichkeit in der Hölle, wir vergessen das nur immer wieder.

11. Die Mordtaten, so furchtbar und widerwärtig sie sein mögen, gehorchen nicht zuletzt ästhetischen Bedingungen, sie sind vertrackte „Kunstwerke“, haben Muster, Dramaturgien, Kompositionen etc.

12. Das Mörder-Monster hat eine besondere Beziehung zur Öffentlichkeit im allgemeinen, zu seinen „Jägern“ im besonderen. Es betrachtet die Taten unter anderem als Botschaften an die Öffentlichkeit und versucht, seine „Selbstdarstellung“ in der Tat mit der Notwendigkeit der Camouflage zu verbinden. Es offenbart und maskiert sich zugleich; er (oder sie) ist von vorneherein „theatralisch“.

Magnotta also, wenn er das ist, als das er angeklagt wird, scheint für das Subjekt einer Mordtat als Metapher wie geschaffen. Wieviel von dem Narrativ des lüsternen und geltungssüchtigen Mörders der Wirklichkeit entspricht und wie viel davon „angehängt“ wurde, wird sich möglicherweise zeigen (allerdings wird es zu diesem Zeitpunkt kaum jemanden mehr interessieren).

Das Monster: Als „Pornodarsteller“ gehört er zweifellos in den Bereich der „Sünden“ der Spaßgesellschaft, nicht obwohl, sondern gerade weil Pornographie mittlerweile eher „trivial“ und mainstreamfähig ist; man bezeichnet ihn freilich in vielen Presseberichten gar als „gescheiterten Pornodarsteller“. Wie scheitert man als Pornodarsteller? Entweder indem man es nicht bringt, oder indem man es zu nichts bringt. So läsen wir bereits die Charakterisierung des „gescheiterten Pornodarsteller“ als zugleich mehrdeutige und diskursive Erklärung. Entweder die kommerzielle Darstellung von Sexualität ist „schuld“ oder aber das dabei erlebte Versagen. Zynisch genug titelte der Toronto Star: „Endlich bekommt er sein Publikum“. Wir ahnen: In dieser Titelei steckt in der Tat das Wesentliche der Beziehung zwischen diesem Monster-Mörder und der Öffentlichkeit.

Magnotta erscheint als Muster des narzisstischen, oberflächlichen Medienmenschen. Von ihm wird berichtet, er habe sich auf Facebook vorgestellt: „Viele Leute bestätigen mir, dass ich umwerfend gut aussehe“. In einem Video im Netz habe er davon gesprochen, dass er sich einer kosmetischen Operation unterzogen habe, um seinem Idol James Dean ähnlicher zu sehen. Menschen, die so ticken, begegnen uns ja ständig im Fernsehen (populärer, weil vielleicht auf den ersten Blick harmloser, sind freilich meistens die weiblichen Ausgaben). Menschen, die nur noch aus ihrer Hülle und allenfalls der Sorge um sie zu bestehen scheinen und (offensichtlich nicht zu Unrecht) davon überzeugt sind, dass andere Menschen an ihrer fundamentalen Selbstveräußerung Anteil nehmen. Seelenlose. Magnotta erscheint so als das Gespenst des medial und körperlich entleerten Menschen, der, wenn er nicht in der Finanzwirtschaft unterwegs ist wie der „American Psycho“ oder der schöne Mörder in „Cosmopolis“, und keinen Job in der Werbung und in den Medien bekommt, gar nichts anderes denn „Pornodarsteller“ sein kann. Wenn er dabei also „scheitert“, scheitert er radikal an den Verheißungen der narzisstischen Medien-Vermarktung. Strafe für unklare Queerness, Strafe für multiplizierte Oberflächlichkeit.

Das Opfer: Es kann schutzloser kaum sein. Ein chinesischer Student. Nicht irgendwer, sondern der Freund des Täters, vier Jahre älter als er. Der Mensch in der Fremde, noch unfertig und voller Hoffnungen. Wenngleich mit 32 ein wenig alt für einen Studenten, oder? Zugleich aber auch Angehöriger einer Kultur, von der sich viele Mainstream-Menschen bedroht fühlen, was mal in rassistischen und mal in kulturellen Phantasmen zusammengeführt wird: Die Tüchtigkeit, die Zweckrationalität, der geschlossene Code. Ein Gescheiterter, möglicherweise, auch er. Wusste seine Familie von seiner sexuellen Orientierung? Merkwürdigerweise betont die Polizei zugleich, dass man alles erdenkliche für die Angehörigen tun werde, und dass man so gut wie nichts über das Opfer wisse. Je schärfer umrissen die Rolle des Täters scheint, um so vager wird die des Opfers.

Die Tat: Schrecklich genug. Ein Mord. Eine Schändung. Die Zerstückelung. Der Kannibalismus (wenn auch „polizeilich noch nicht bestätigt“). Die Entsorgung des Torsos auf dem Müll bzw. in einem Koffer. Die postalische Versendung der Extremitäten des Leichnams (und das ausgerechnet an Schulen und an politische Parteizentralen in Ottawa). Der abgeschnittene Kopf, der bislang nicht wieder aufgetaucht ist. Die Flucht, womöglich in Frauenkleidern, unter falschen Namen, aber doch zugleich so auffällig, als würde die Festnahme provoziert sein…

 

II

REKONSTRUKTION EINES BILDES

Das Muster des Mörder-Monsters ist also nahezu perfekt erfüllt. Aber nun erscheint eine Aktualisierung des Grauens, zugleich Steigerung und Aufhebung des Monstermordes. Erneut eine symbolische Übernahme der Mainstream-Kultur. Das Verbrechen musste gefilmt werden, und das Gefilmte musste den Weg ins Internet finden. Endlich das von so vielen erwartete sich aber nie wirklich zeigende Snuff Movie: 11 Minuten, die zeigen, wie einer mit einem Eispickel erschlagen und seine Leiche zerstückelt wird. Aber nicht genug damit. Das Urbild von „Jack the Ripper“, der seine Taten schilderte und Briefe an seine Verfolger sandte, wird insofern erweitert, als diese Briefe die Form von Leichenteilen annehmen, die der Täter an Parteien und Schulen in Kanada, offensichtlich Objekte seines gekränktes Hasses oder die Gründe seines Scheiterns, verschickt haben soll.

Nun scheint aber auch wiederum dieses Video eher bizarr. Der Täter macht sich mit Messer und Gabel am Opfer zu schaffen, der Argwohn wächst (nicht nur bei einer rasch sich bildenden Internet-Gemeinde um den – mittlerweile teilweise auch wiederum „bearbeiteten“ Film): Zumindest dieser Teil des Films könnte wohl ein Fake sein. Und was, wenn auch das andere nur ein hochstaplerisches Spiel war, wenn gar nicht ein Mord, sondern nur das Bild eines Mordes gemeint war? Von einem, der in seiner Besessenheit von der Erscheinung den Unterschied gar nicht mehr erkennen kann?

Dass die Festnahme in Berlin-Neukölln schließlich nur in einem Internetcafé stattfinden konnte, setzt dieser Medialisierungserzählung nur noch ein Ausrufezeichen hinzu. Und natürlich konnte es nur beim Egosurfen gewesen sein: „Der Verdächtige soll sich vor seiner Festnahme an einem Computer Berichte zu seinem Fall durchgelesen haben“. Wieder in die „alte“ Erzählung vom Monster-Mörder passen indes die Worte, die er den Polizeibeamten gegenüber angeblich geäußert habe: „You’ve got me“. Das verweist auf die Konstruktion des Mythos, dass der Serienmörder, der Spuren legt, Briefe schreibt oder „Muster erzeugt“ in Wahrheit geschnappt werden will, und es ist zugleich eine erneute Reminiszenz an den alten Jack the Ripper („ich werde sie aufschlitzen und nicht aufhören, bis man mich schnappt“).

Die beteiligten Regierungen und ihre Behörden machen sich den Triumph des Fahndungserfolgs rasch zueigen. Die Auslieferung erfolgte so reibungslos und schnell wie man es sonst nicht gewohnt ist, als wäre plötzlich, angesichts des Monster-Mörders alle Bürokratie und Animosität verschwunden, die sich, erinnern wir uns noch, im „Fall Schreiber“ aufbauten, und auch bei der Ankunft in Kanada wurde das Mörder-Monster schnell vom Beweis- zum Schaustück: „Bei der Landung auf dem Mirabel-Flughafen bei Montréal wurde die Maschine von einem starken Polizeiaufgebot erwartet. In einem Konvoi aus mehreren zivilen Polizeifahrzeugen und Streifenwagen mit Blaulicht wurde der mutmaßliche Mörder schließlich weggebracht“ (focus online). Der performative Charakter wird schnell in die politische Rhetorik überführt: „Die Kanadier sollen wissen, dass Menschen, die das Recht übertreten, die volle Härte des Gesetzes erfahren werden“, so ließ Justizminister Rob Nicholson vernehmen. Das Monster als Metapher ist für den Staat, die Gesellschaft und die Medien viel zu wertvoll, als dass man sich der Aufgabe widmen könnte, die tickenden Zeitbomben zu erkennen.

Immer dringlicher wird die Frage, ob das Mörder-Monster das mediale Rasterbild erzeugt, oder umgekehrt das mediale Raster das Monster.

 

III

DEKONSTRUKTION EINES SECOND LIFE

Nicht einmal der italienische Name ist besonders originell, geschweige denn „echt“: Wir sprechen in Wahrheit von Eric Newman, der 1982 als Sohn zweier Highschool- Teenager geboren wurde; seine Mutter taufte ihn nach dem amerikanischen Schauspieler Eric Roberts; in sich verschlossen und schnell gewalttätig war er selbst in der Schule der traditionelle Außenseiter. Es scheint, als habe sich dieser Eric Newman das Internet gewählt, um sich „neu zu erfinden“, einem Größenwahn folgend, der keine Ahnung mehr von dem hat, wie sich Größe ausdrücken könnte.

Nun, im Nachhinein, melden sich einige Freunde und Verwandte, die schon immer sicher waren, dass dieser Mensch „mentally ill“ und eine tickende Zeitbombe war. Erstmal ging es um „Kleinkriminalität“ und um Tierquälerei.

Magnotta alias Newman war vor allem ein Hochstapler, und auch das war er nicht besonders gut (und schon gar nicht „groß“), sieht man die Liste seiner Vorstrafen an, da er offensichtlich glaubte, man könne die Menschen im wirklichen Leben genau so einfach blenden wie im Internet. Seit 2006, nachdem er offiziell seinen Namen hatte ändern lassen, führte Magnotta ein second life im Internet, indem er die Persona eines schwulen Pornostars annahm (dahinter steckten immerhin einige wenige Szenen in Hardcore-Filmen). Eine weitere Stufe der Simulation von Sex, Glamour und Happiness, die Simulation einer Simulation, während der reale Mr. Magnotta in einer kleinen Wohnung in einem trostlosen Hochhaus wohnte und sich wohl von gelegentlichen Escort-Jobs ernährte, und offensichtlich keine zufriedene Kunden hinterließ. (Sex mit ihm sei, so erinnert sich einer von ihnen, wir leben in einer von wahrhaft Mitteilungssüchtigen bewohnten Welt, wie Sex mit einem toten Fisch.)

In seiner kurzen Zeit in London, wo es erneut zu Anklagen wegen Tierquälerei kam, entstand die Persona des Cat-Killers. Da begann das Spiel des Mörders, der sich in seinen Taten mitteilt, und sich diebisch darüber freut, dass man ihm nichts nachweisen kann. Nachdem ihn ein Reporter der Sun besucht hatte, demgegenüber er die Vorwürfe zwar leugnete, aber ein so großes Interesse an jeder Art von Aufmerksamkeit zeigte,  die man ihm gegenüber brachte, dass zumindest dieser Journalist mehr von seiner Schuld überzeugt schien als vorher, erhielt die Zeitung eine E-Mail, voller (wahrscheinlich absichtlicher) Fehler in Grammatik und Rechtschreibung (wie eine verstellte Handschrift einst), und in der angekündigt wurde, dass der Katzenmörder bald auf Menschenjagd gehen würde und seinen Spaß daran hätte, dass niemand seinen Namen kenne und Beweise für sein Tun fände, so sehr die Polizei es auch versuchte. Wieder schimmert hier das Jack the Ripper-Modell durch. Aber noch schien die Bühne für den entscheidenden Akt nicht die richtige. Magnotta kehrte dann doch nach Kanada, nach Montreal zurück. Dort begann die Beziehung zu seinem späteren Opfer, Lin Jun.

Die Gesellschaft, natürlich, bekommt die Monster, die sie verdient (und gebrauchen kann), und wenn sie sie sich selber zurechtmachen muss. Magnotta wollte vor allem Aufmerksamkeit, er spielte den Monster-Mörder für die Internet-Gemeinde (in dieser Welt spielt es eigentlich gar keine so große Rolle mehr, ob es um einen wirklichen oder einen gefälschten Mord geht), und die Internet-Gemeinde spielt sogleich zurück, nachdem die Geschichte vom Mord und vom Videoclip dazu die Runde gemacht hatte; es entstehen zahlreiche Magnotta-Mixes, zum Teil zusammengeschnitten mit Aufnahmen vom Haus der Tat, unterlegt mit Suzanne Vegas „My Name is Luka“ oder, nicht viel anders als wir es von den NSU-Videos kennen, mit Cartoon-Material versehen. So wie Magnotta durch ein gefälschtes Leben und einen vielleicht echten Mord Aufmerksamkeit erzielen wollten, setzen sich nun unzählige Magnotta-Trolls auf seine Fährte. Er hat das Publikum, das er wollte, wie die Toronto Star meinte, doch zugleich erzeugte er wohl auch eine Menge von Magnotta-Klonen, und der Mordfilm erhielt unendliche Samplings, Remixes, Remakes und Meta-Filme. Möglicherweise gibt es das Publikum, das er sich erträumte gar nicht mehr.

Wie Anders Breivik so hat schließlich auch Luka Rocco Magnotta sein Ziel erreicht – und verfehlt; er ist vermutlich weder ein Lustmörder noch ein Kannibale, sondern – sollten wir sagen: schlimmer (!) – ein Mensch, der für Aufmerksamkeit alles zu tun bereit ist. Seine Erfahrung war, dass man mit Videos, in denen Katzen getötet werden, nicht genug Aufmerksamkeit bekommt, und auch dass er im Internet sich selber bereits als somnambulen Serienkiller darstellte, reichte nicht (denn wie viele solcher Psychopathen tummeln sich dort, und wie viele sind wie er „wandelnde Zeitbomben“?).

Seine Tat setzte er dann folgerichtig aus Medien-Zitaten zusammen. Die Tatwaffe, der Eispickel, stammt aus „Basic Instinct“. Das „gepflegte“ des kannibalischen Mahls aus den „Hannibal Lecter“-Büchern und -Filmen, das Versenden der Körperteile wurde in David Finchers „Se7en“ vorgenommen. Und um das Maß voll zu machen spielte er zu seinem Video die Musik aus „American Psycho“. Die Flucht in Frauenkleidern stammt aus Brian de Palmas „Dressed to Kill“, die Leiche im Koffer ist ein beliebter Krimi-Topos (etwa in einer C.S.I.-Folge), und am Ende ist gar der ganze Vorgang einer gesampleten Monster-Mordtat eine Film-Idee, unter anderem aus „Die schönen Morde des Eric Binford“. Aber es geht auch gleich so weiter: Auch die Gegenseite spielt das Medienspiel. Die Sonderbewachung des Verdächtigen wird offenbar wiederum nach dem Vorbild von „Das Schweigen der Lämmer“ inszeniert; statt im Gerichtssaal zu erscheinen, wird er „aus Sicherheitsgründen“ nur per Videoleitung zugeschaltet, wie in den Terroristenfilmen wird er in Handschellen hinter einer schusssicheren Trennwand befragt, die im Fernsehen auftretenden Polizisten inszenieren sich à la „Zodiac“ und so weiter. Die kanadische Justiz scheint fest entschlossen, das „Psycho“-Drama um den letzten Akt zu bereichern. Während das Internet-Publikum nichts anderes tut, als über den Monster-Mörder herzufallen, kannibalistisch und nekrophil, und sich um die Stücke der Beute zerreißt, ist es ausgerechnet das Old School-Publikum, dass staunend zu ihm hält: eine Bild-Zeitung lässt sich doch von schnöder Wirklichkeit eine Porno- und Prostituierten-Monstermörder-Saga nicht kaputtmachen!

Von dieser Spitze kann man in unserem Netz einen wahren Eisberg an sadistischen, psychopathischen, mörderischen Selbstinszenierungen betrachten. Daher sind zumindest die Vorwürfe, die man im Nachhinein der Polizei machte, nämlich die warnenden Hinweise im Netz und den sozialen Netzwerken nicht genügend beachtet zu haben, vergleichsweise naiv. Wie sollte man aus den hunderten von Trolls, die im Internet ihre Mordphantasien ausbreiten jene herausfinden, bei denen es womöglich ernst wird? Aber zur gleichen Zeit kann man sehr wohl beklagen, dass es nicht das kleinste soziale und kulturelle Projekt gibt, auf diese anschwellende Krankheit, nämlich Böses tun, es dokumentieren und versenden, um keinen anderen Lohn als Aufmerksamkeit willen, zu reagieren. Wie viele tausende von Trolls sind in diesen Kanälen unterwegs? Wie viele setzen bewegte Bilder ins Netz von ihren Schandtaten und niederträchtigen Handlungen? Die einen begnügen sich damit, halbwegs normale Kommunikationsformen zu zerstören, die anderen belassen es bei wüsten Beschimpfungen und üblen Nachreden, und wieder andere faken sich mehr oder weniger durchschaubar als Psychos und Mörder. Der Psycho ist im Internet ein verbreitetes, akzeptiertes oder wenigstens ignoriertes Rollenbild. Und nicht wenige setzen wirkliche Scheußlichkeiten zwischen die Wege von Information und Austausch.

Aber der Krieg um die Aufmerksamkeit wird schärfer und härter. Luka Rocco Magnotti war der erste in die Wirklichkeit hinein explodierende Troll. Wie Anders Breivik, der ebenfalls ohne das Internet nicht denkbar wäre, hat er Vorläufer und Nachahmer, eine „Kultur“, in der sich seine Psychose entfalten kann. Die „Ich-bin-ein-Psycho“-Subkultur ist im Internet genau so virulent wie die „Wir sind Gangster-„ und die Neonazi-Terror-Subkultur. Das Internet ist daran nicht schuld. Die Gesellschaft der Gleichgültigen schon.

Georg Seeßlen (Jungle World #28/2012)