Irgendeiner, der einen Namen hat, sagt irgendetwas Dringliches
Jetzt haben sie gerade wieder eine Mediensau durchs Dorf getrieben. Und ein jeder hat sich aufregen dürfen, je nach Standpunkt und Belieben. Morgen kommt die nächste. Wir freuen uns schon.
Die Dramaturgie dabei ist denkbar einfach. Irgendeiner, der einen Namen hat, sagt irgendetwas Dringliches, was auf irgendeine Weise unerhört ist zu einem der dafür geeigneten Themen. Die einen kokettieren mit Hitler, die anderen mit dem Antisemitismus, es kommt aber auch irgendwas mit Sex, mit Drogen (Haschisch freigeben! Humane Suchtbehandlung!) oder mit „unserer“ Demokratie, also mit Islam und Ausländern, immer wieder gut an. Sofort ist die Sau los und rast durch den Ort. Und sofort müssen irgendwelche anderen, die nicht völlig unwichtig sein wollen, etwas dagegenhalten.
Dann tauchen Leute auf, die tun so, als wollten sie die rennende Sau aufhalten. Wild fuchteln sie mit den Händen: „Haltet das Schwein!“ Aber das macht die Sau natürlich erst richtig wild. Die kann jetzt niemand mehr aufhalten, nicht einmal der, der sie losgelassen hat. Auch wenn er sagt, so wild hätte er’s gar nicht gemeint. Nix da. Die Sau ist los, und das Dorf hat einen Spaß und einen Ärger oder beides zugleich.
Jetzt kommen wieder die, die heimlich oder offen für die Sau sind und die sie wiederum antreiben. Die Sauaufhalter sagen: Das darf nicht gesagt werden, so jedenfalls nicht. Ihnen schallt der Schlachtruf aller Sautreiber entgegen: Das wird man doch noch sagen dürfen! Schnell kommt es zu Prügeleien zwischen den Sautreibern und den Sauaufhaltern.
Sitten beim Sautrieb
Und jetzt kommt das Publikum. Erst jene, die fachkundig das Sautreiben kommentieren, weil sie sich so richtig auf die Straße jetzt nicht mehr trauen. So eine wilde Sau nebst ihren Treibern und Jägern ist ja nicht ungefährlich, da kommt man schon mal unter die Hufe.
Zum Beispiel bemerken sie, dass man doch schon lange mal über Regeln oder wenigstens Sitten beim Saudurchsdorftreiben reden wollte. Aber man kommt ja zu nichts. Weil, wenn eine Sau durchs Mediendorf getrieben worden ist, muss ja auch schon wieder die nächste her.
Bei der letzten Mediensau war’s irgendwie lustiger, findet ihr nicht? Ja, früher war alles besser. Dafür kommen jetzt aber auch immer mehr Leute, wenn wir unsere Mediensäue durchs Dorf jagen. Sogar von außerhalb!
Das eben ist das Tolle an einer echten Saujagd durchs deutsche Mediendorf. Die ganze Welt schaut zu, regt sich auf, hier und da lässt man sogar eigene Säue los. Da sehr ihr mal, wie wichtig wir sind in der Welt. Wenn wir sie nicht durchs Mediendorf treiben würden, dann wüsste der Rest der Welt ja vielleicht gar nicht, was für fette, aggressive Schweine in Deutschland gezüchtet werden.
Debattenkultur! Leitkultur!
Und dann werfen auch die von der dritten und vierten Reihe mit Leserbriefen und Höreranrufen um sich. Man wird doch noch mal grölen dürfen! Man wird doch noch mal dumpfen dürfen! Sonst wäre es wie ein Schweinsbraten ohne Bier.
Spätestens jetzt fühlen sich die Verantwortlichen für die Saujagd auch wieder ein bisserl unbehaglich. Es kann halt immer vorkommen, dass die Leute vergessen, dass das Saudurchsdorftreiben nur ein Sport ist. Ein versautes politisches Volksfest sozusagen. Zum Dampfablassen. Wenn es zu bunt wird, dann schreit der eine oder andere Saumedientreiber: „Debattenkultur! Debattenkultur!“ Daraufhin lacht es, das deutsche Mediendorf.
Irgendein Komiker hatte nämlich mal die Idee, dass man das Saudurchsdorftreiben auch „Debatte“ nennen könnte. Ist ja klar, eine Leitkultur treibt keine Säue durchs Dorf, sondern debattiert. Ganz kultiviert, verstehen Sie schon. Und wo eine Debatte und eine Leitkultur zusammenkommen, da soll es halt eine „Debattenkultur“ geben. Das ist zum Beispiel, wenn man eine Sau durchs Dorf treibt, aber ohne Schlachtermesser. Mit Schweinescheiße zu werfen, ist auch verboten. Ha, sagen da die Profis: Das ist ja wie Stierkampf ohne Degen, wie ein Joint, ohne zu inhalieren, wie Deutschland ohne Nazis!
Das Dorf weiß gar nicht, dass es eines ist, wenn keine Sau durch es getrieben wird. Hier erst fühlt sich die Leitkultur. Und sie fühlt sich gut.
Mediensauloslasser privat
Aber woran erkennt man eine Mediensau, die reif ist, durchs Dorf getrieben zu werden? Erst einmal muss sie das richtige Kampfgewicht bekommen. Das heißt, die Einwohner des deutschen Mediendorfes müssen sie gut füttern. Da haben wir professionelle Fütterer. Ab und zu wird sie ein bisschen gereizt, damit sie auch die richtige Angriffslust kriegt. Dann kommt der Fachmann fürs Schweineloslassen.
Die deutsche Mediensau reagiert auf ganz bestimmte Töne. „Kopftuchmädchen!“ Da läuft sie, die deutsche Mediensau. „Die Faulen anderen, für die wir zahlen müssen.“ Oink, oink, ab geht die Post! „Die wollen uns die Autos nehmen.“ Los geht’s. „Wenn es bei uns einen Unrechtsstaat gegeben hat, dann war’s die DDR!“ „Da läuft noch ein Kommunist herum!“ „Lasst die Sau los!“ „Und die Juden!“ „Israel!“ „Man wird doch noch mal sagen dürfen!“ Jede neue Mediensau ist wie die vorherige. Nur fetter und böser.
Der Mediensauloslasser ist eine besondere Person. Er vereint seriöse mit frivolen Zügen. Der Saurauslasser ist oft ein gekränkter Narziss; er oder sie lässt eine Sau raus, weil man ihn selber nicht genug beachtet hat.
Der Sport des Mediensaudurchsdorftreiben wird von Staat und Gesellschaft unter einer einzigen strikten Auflage gern geduldet, ja gefordert. Man soll es „Debatte“ nennen, oder Meinungsfreiheit oder sonst was Christlich-Abendländisches. Und es soll vom lästigen Denken abhalten. Am Ende einer Mediensaujagd sollen die Dorfbewohner von einer gewissen wohligen Erschöpfung erfasst werden. Jetzt sind sie ganz umgänglich. Das Schwein ist gefressen, die nächste Sau wird losgelassen. Sie ist wie die letzte. Nur böser und fetter.
Georg Seeßlen, taz 18.04.2012
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