Das wird man doch wohl noch mal zeigen dürfen
Es ist ja nicht so, dass man jemandem die mehr oder weniger kontrollierte Form von nationaler Regression anlässlich großer Sportereignisse nicht gönnen würde. Es gibt sonst so wenig, woran man sich halten kann, es gilt die Krise zu vergessen, nicht wahr, und ein Fußballstadiom von national Berauschten führt doch nicht automatisch zum nächsten Einmarsch, oder? Solange diese nationale Regression a) keinen Zwang oder gar Terror gegenüber anderen miteinschlösse und b) zeitlich und räumlich begrenzt bliebe, könnte man gelegentlich sogar ein klein bisschen mitmachen. Okay, nicht gerade Fähnchen-Schwingen, aber doch ein herzhaftes „Jaaaaah“, wenn die „eigene“ Mannschaft (oder Frauschaft) gewinnt. Obwohl, eigentlich möchte man ja lieber ein gutes Spiel sehen als ein schlechtes Gewinnen. Nun ja.
Offensichtlich aber hat der Umstand, dass Deutschland derzeit in Fahnen und anderen nationalen Zeichen versinkt (besonders eklig sind diese nationalen Stofftüten um die Außenspiegel), mit der nationalen Regression, die man sich auch in anderen europäischen Ländern durchaus gönnt, nicht mehr viel zu tun. Reisende, derzeit, wissen wovon ich rede. Das ist mit einem „Sie übertreiben’s mal wieder“ nicht getan.
Natürlich ist das auch einer der Anfälle von Konsum-Sucht, die uns seit einiger Zeit zyklisch erfasst. Grillwürste, Joghurt, Lakriz usw. – alles in den deutschen Farben. Und natürlich Bier. Ziemlich viel Bier. Wir haben es offensichtlich mit einem Kurzschluss zwischen sportiv grundierten (aber längst in alle anderen Lebensbereiche ausstrahlenden) Nationalismus, Volksdrogen und wohlfeilem Konsumrausch zu tun: Der Konsum wird „nationalisiert“, während umgekehrt der Nationalismus konsumfreundlich gestaltet wird. Man erkauft sich beim Discounter um die Ecke sein „Deutschtum“, bzw. die öffentliche Inszenierung derselben. Viel kostet es ja nicht. Und die Discounter haben sich auch ein feines Belohnungssystem ausgedacht: „9 Punkte, neun Prozent auf alles (außer auf Multimedia!)“ verspricht nur zum Beispiel plus online für einen Tag. Längst haben wir uns an eine Nationalisierung der Werbung gewöhnt („Wir werden auch in Zukunft deutsche Arbeitsplätze sichern!“). So erzeugt der Beinahe-„Exportweltmeister“ Deutschland ab und an kleine Schübe von Binnennachfrage. Doch dieser Konsum- und Unterhaltungsnationalismus ist auf Dauer gewiss nicht so harmlos und menschenfreundlich wie er karnevalisiert und freizeitlich daherkommt. Würden wir noch wagen unsere Gesellschaft genauer anzusehen, so würden wir einen semantischen Befall des deutschen Mainstream erblicken, vor dem einem nur grauen kann.
Es muss indes wohl seine Gründe haben, dass in Deutschland die nationale Regression im allgemeinen und die Fahnen- und Flaggen-Sucht im besonderen so hysterisch überbordend und nun ganz und gar nicht mehr un-aggressiv vonstatten geht, weit jenseits der Gesellschaften, die für solche Anfälle auch nicht gerade unbekannt sind. Und für einmal versagen wir es uns, einfach nur so zu reagieren: Na, wieder mal typisch.
Seit geraumer Zeit können wir beobachten, dass sich hierzulande eine Verbindung von Nationalismus und „Volkstümlichkeit“, kurz vor dem Umschlag ins „Völkische“, mit der Pop- und Freizeitindustrie entwickelt, die es anderswo nicht gibt. Das Nationale (gerne mit Sport) und das Volkhafte (gern mit Dummdideldei und Dschingdarassa) sind zur Massenzeichenware geworden, die ihre Anlässe, Sport-Event und Volksfest, weit überdauert. Man will sich von den Fähnchen gar nicht mehr trennen, man hätte am liebsten jeden Tag „Volksfest“. Wo kommt das her, und wo will das hin?
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Die Fahne ist das Zeichen einer heroischen Bewegung,
sie verlangt Gehorsam,
sie hat etwas „Heiliges“ und gleichzeitig Herausforderndes.
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Eine Ursache dafür ist wohl die paradoxe Reaktion des deutschen Kleinbürgertums auf die Krise. Man versucht zugleich, möglichst viel Wir-Gefühl und kollektive Wärme zu erzeugen und sich trotzdem persönlich hervorzutun, immer noch größer, besser, mehr als die anderen zu sein. In die Zeitung kommt man, wenn man, wie ein Mann aus dem pfälzischen Eppstein, nicht nur mehr als 200 „Fan-Artikel“ in den Nationalfarben an Fenstern, Balkon und im Garten anbringt, sondern auch „das ganze Haus“ in eine einzige Huldigung in Schwarzrotgold (komplett mit Adler) verwandelt, übrigens, der „stern“ vergisst nicht, es zu erwähnen, in einer „gutbürgerlichen Wohngegend“. Der Sport, die Nation und eine „gutbürgerliche“ Eigenschaft, nämlich die Nippes-Sammelwut gehen schließlich mit Aufmerksamkeitsstrategien und Event-Kultur eine leicht hysterische Verbindung ein.
Das nationale Zeichen verspricht, das Zerbrochene zusammen zu führen, das Private und das Soziale; nur in diesem Zeichen ist es nicht konträr. Und diese blitzrasche Heilung kann nur als Rausch empfunden werden, denn es handelt sich ja um eine Illusion: Nach der EM ist man von Politik und Gesellschaft genau so allein gelassen wie vorher, und man ist, umgekehrt, genau so auf seine Fähigkeit zur sozialen Rücksichtslosigkeit angewiesen. Eine solche widersprüchliche Haltung führt entweder in die Neurose oder aber in die eine oder andere Light-Version von Faschismus. Siegfried Kracauer beschrieb diesen Vorgang einst als „Pseudo-Reintegration der Massen“ durch die faschistische Inszenierung. Die Masse, die als politisches und soziales Phänomen gefälligst verschwunden sein soll, taucht als hedonistisch-politische im Event-Nationalismus wieder auf und ihre Mitglieder fühlen sich, gänzlich genasführt, so „klassenlos“ wie aufgehoben. Um richtig „wir“ zu sein allerdings muss es auch die anderen geben, die nicht zu uns gehören, die uns etwas wegnehmen wollen, denen wir es schon zeigen. Die Fahne ist das Zeichen einer heroischen Bewegung, sie verlangt Gehorsam, sie hat etwas „Heiliges“ und gleichzeitig Herausforderndes.
Um in einem Rauschen der National-Zeichen noch persönlich sichtbar zu sein, muss man indes die anderen auch noch übertrumpfen, so wie man sie andernorts durch Anzahl und Größe von Gartenzwergen übertrumpft oder durch den Versuch, eine noch lederhosigere Lederhose als die Lederhose des Nachbarn zum Volksfest zu tragen. Kracauer hat davon gesprochen, als die Hitlerei sich erhob, dass am Beginn der neuen faschistischen Massen die bürgerliche Werthierarchie zerfalle, die Bourgeoisie „ihre Selbstsicherheit verliert und ihr Lebensstil problematisch wird“. Die Leute aus den „gutbürgerlichen Wohngegenden“, ökonomisch nach oben, kulturell nach unten orientiert, benötigen Instrumente und Zeichen, die Verluste an Wert, an Selbstsicherheit und an Lebensstil auszugleichen. Sie sind empfänglich für alle Formate, in denen das Politische und das Hedonistische miteinander verbunden sind. Denn neben den Zwang zum nationalen Bekenntnis (oder anderswo zur Volkstümlichkeit) und den Zwang zum Konsumieren tritt der Zwang zum Gut-Drauf-Sein.
Eine Schlüsselrolle spielt dabei vielleicht jene Instanz, die in anderen Ländern, die so heftig von der Krise betroffen wurden, als „Auffangbecken“ benutzt wurde, die Familie. Offensichtlich besitzt sie im deutschen Mittelstand nicht jene tröstende und vor dem Schlimmsten bewahrende Funktion wie anderswo. Die Gründe dafür liegen wohl auch hier weniger in einer „Mentalität“ als vielmehr in der Organisation von gemeinsamem und kollektivem Besitz. Die deutsche Mittelschichtfamilie kann ihre prekarisierten Mitglieder nicht lange erhalten (und oft genug kann sie es nicht einmal „wollen“, so sehr sind die Hass- und Ekelphantasmen gegenüber den „Sozialschmarotzern“ schon intimisiert). Daher ist hier wohl die Sehnsucht nach immerhin temporären Ersatzfamilien besonders ausgeprägt.
Da wir nicht mehr, wie in den guten alten Zeiten des Rheinischen Kapitalismus und der jungen Demokratie, Teile eines funktionierenden ökonomisch-moralischen Systems sind, müssen wir danach trachten, Teile anderer mehr oder weniger funktionierender Sinn-Systeme zu werden, und so bietet sich an, Teil einer sportiv und semantisch „siegreichen Nation“ und Teil eines zusammenrückenden, sich selbst unentwegt feiernden „Volkes“ zu sein. Beides nun realisiert sich, ökonomisch „sinnvoll“ in Form des Events und in Form der Ware. Deutschland über alles im Regal.
Übrigens hat ja auch diese „Volks-„Warenhafte erbärmliche Konjunktur, nach der Volksmusik und dem Volkswagen werden Volkscomputer, Volksversicherungen und nun endlich, wer anderes als der Helmut Thoma kann so was erfinden, ein Volks.TV angeboten. Oft, aber nicht immer steckt die BILD-Zeitung bzw. der Axel Springer Verlag dahinter. Weil das so schön ist, hier der Werbetext der entsprechenden „Crossmarketing“-Agentur: „Seit ihrem Start im Jahr 2002 sind die „Volks-Aktionen“ ein Garant für absatzstarke Kooperationen. Im Rahmen solcher Aktionen wählt der Partner gemeinsam mit BILD.de ein Produkt (oder eine Produktgruppe) aus, welches dann exklusiv mit BILD.de als „Volks-Produkt“ beworben wird. Dabei zeichnen sich „Volks-Produkte“ durch ein gutes Preis-Leistungsverhältnis und einen besonderen USP aus. Sie sind massenmarktfähig, innovativ und aktuell. Durch die intensive inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Produkt sowie den Einsatz von prominenten Testimonials werden die Werbebotschaften glaubwürdig vermittelt.“ USP, für alle die nicht so im Crossmarketing zuhause sind, ist die „Unique selling proposition“ oder auch das „Alleinstellungsmerkmal“. Und ein „Testimonial“ ist ein Promi-Mensch, den man als medialen Verkäufer und „Identifikationsangebot“ anstellt, weil sein Image so gut zum Produkt passt.
Diesen „Volks-Produkten“ mit ihrem signifikanten Schwarz-Weiß–Rot ist mittlerweile so schwer zu entgehen wie den Nationalfähnchen im Straßenverkehr. (Da wir gerade von Fahnen und Farben reden: Es sind die Fahnen-Farben des deutschen Kaiserreichs, die in der Weimarer Republik von monarchistischen und militaristischen Gruppen verwendet wurden, und die sich heute bei Neonazis höchster Beliebtheit erfreuen. Aber nie nicht hat kein Marketing-Mensch an so was nicht gedacht!)
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Das Nationale und das Volkstümliche, in das man sich einkauft,
scheint die Lizenz zur Regression als Lebenshaltung mit zu versprechen.
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Der von seiner Prekarisierung bedrohte Mittelstand möchte sich durch den Konsum nicht nur in die Deutschheit, sondern auch in die Volks-Tümlichkeit einkaufen und absentiert in beidem alte bürgerliche Werte wie, nur zum Beispiel, Zurückhaltung, Mäßigung, Vernunft, Geschmack und Würde. Das Nationale und das Volkstümliche (von den tieferen ideologisch-mythischen Implikationen dieser Volks- Empfänglichkeit ganz zu schweigen), in das man sich einkauft, scheint die Lizenz zur Regression als Lebenshaltung mit zu versprechen. Dabei kann die hedonistisch-politische Masse sich jeweils perfekt herausreden (und machen es die Fernseh-Menschen nicht noch perfekter vor?): Das Hedonistische darf sich im Nationalen verbergen, und das Nationale im Hedonistischen. Es ist eine „heilige Sache“, und es ist doch nur ein Spiel. Jede Kritik ist daher Blasphemie (da schauen wir schon genau hin, ob die Nationalspieler mit den ausländisch klingenden Namen auch die Nationalhymne richtig mitsingen!) oder Spaßverderberei (mein Gott, gönnen uns diese Kolumnisten nicht mal mehr diese harmlose Auszeit vom Stress!).
Irgendwann kommt auch der schiere Opportunismus dazu. Die Nachbarn haben eine so schöne Deutschlandfahne – und wir? Und hinter der Frage „Sie interessieren sich wohl nicht für Fussball“ an den Fahnenlosen lauert schon die nächste: „Sie gehören wohl nicht zu uns?“. Eine Kritik am deutschen Fahnen-Overkill jedenfalls kommt hier nicht in Frage. Weil, wir verstehen ja Spaß, aber… Die Fahne steht für eine meistens militärisch begründete Inbesitznahme. Und sie steht für die Verpflichtung ihr zu folgen, wenn sie uns denn so „voranflattert“. Wimpel und Stander zeichnen die „höheren Tiere“ aus. In der Fahne besitzt man ein „Heiligtum“, das in seiner Bedeutung auf den Besitzer zurückstrahlt und das keiner beleidigen darf. Ein verborgener Krieg der Zeichen bricht aus. Glauben Sie ja nicht, dass ein jeder eine solche Fahne haben darf, auch wenn sie im Supermarkt für ein paar Cent zu haben ist.
Ein anderer Teil der deutschen Fahnensucht, derzeit, ist wohl eine direkte Spiegelung der rücksichtslosen ökonomischen Nationalisierung der Politik im Merkelismus: Die Zeichen der Deutschheit nehmen die hegemonialen Tendenzen der offiziellen Politik ebenso wie die reale oder imaginierte Kritik daran auf. Jetzt erst recht! So werden Fahnensucht und Volks-Produkt zu einer paradoxen Reaktion auf die Austerität als politisches Dogma: Zugleich ihr Ausdruck und eine Masche, ihr zu entkommen. Von den transnationalen Verbrüderungen (und Verschwesterungen) die man bei anderen Sportveranstaltungen beobachten konnte, ist nur noch wenig zu spüren. Stattdessen werden andere Fahnen mit Hohn oder Aggression bedacht. Diese Fahnen bezeichnen eben wesentlich mehr als das Fan-Sein und die moderate nationalistische Regression, es ist das Statement, das man weit von den Stadien, den Public Viewing-Spots, den heimischen Bildschirmen in die Mitte der Gesellschaft tragen will und tragen soll. Wenn anderswo die Fahnen nach dem Event eingerollt werden, in Deutschland weigern sich die Automobil- und Fensterbesitzer seit langem beharrlich, ihre Stoff gewordene „nationale Identität“ in den Schrank zu legen. Die Fußballmatches vergehen, die Fahnen bleiben. Die Testimonials wechseln, die Durchdringung des Marktes mit „Volks-Produkten“ bleibt.
Es ist weder „der rechte Rand“ noch sind es unbedingt besonders Fußball-affine Menschen, die sich dem neuen deutschen Fahnenrausch hingeben, als vielmehr die Angehörigen jener in Auflösung begriffenen Mitte, die ökonomisch und kulturell zersprengte Mehrheit, die um ihren sozialen, politischen und kulturellen Status nicht mehr weiß. Sie benötigen gleichsam ein kulturelles Außenskelett, verständigen sich in den Zeichen, die die Mischung aus Medien, Konsum und Event mit der populistischen Vermittlung von Politik und Ökonomie gemeinsam hervorbringen. Mit Merkel auf der Ehrentribüne in Danzig vollendet sich der Zusammenschluss von virtueller Masse und politischer Führung noch einmal. Das ist keine Sache, die ein paar national berauschte Dumpfbacken oder natural born Fähnchenhänger angeht; es ist eine innere Rekonstruktion dessen, was in der nächsten Politiker-Rede „Leitkultur“ genannt wird. Kein Phänomen der „Fan-Kultur“ sondern der jeden von uns betreffende öffentliche Diskurskorrektur. Nationalismus und Volkstümelei als Waren- und Eventsprache dienen zweifellos der Hegemonialisierung und der „Einschüchterung“ und werden als solche genossen. Mitmachen? Cool bleiben? Den ahnungsvollen Ärger herunterschlucken? Sich keinesfalls als Spiel- und Spaßverderber outen? Doch bitte nicht so empfindlich sein? So leben wir von Event zu Event, von Konsumwelle zu Konsumwelle, von Zeichensturm zu Zeichensturm. Und erleben nach jedem Rausch Absturz und Ernüchterung. Denn am Ende ist noch stets diese Reintegration der Masse in die Krisen- und Finanzwirtschaftsgesellschaft gescheitert. Und benötigt mehr von alledem, für’s nächste mal.
Morgen also brauchen wir wieder etwas anderes, um Hedonismus und „Identität“, Ich und Wir, neoliberale Wirklichkeit und nationale Träume unter ein Tuch zu bekommen. Den nächsten Anlass zur Fahnen-Sucht, das nächste Produkt für unsere Volksempfänglichkeit. Man gewöhnt sich daran, oder?
Georg Seeßlen, taz 28.06.2012
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