„Alle reden vom Wetter. Wir nicht“, so stand es, in den Jahren nach 1968, unter einem berühmten Plakat des SDS, unter den Köpfen von Marx, Engels und Lenin. Der Slogan wie die visuelle Gestaltung bezog sich auf eine Werbekampagne der deutschen Bundesbahn. Das entsprechende Reklamebild zeigte die zugkräftigen Lokomotiven des damals eher beamtenbehäbigen Unternehmens, die Schnee, Regen und Wind trotzen und uns mehr oder weniger verlässlich und trocken ans Ziel brachten. Seitdem hat sich vieles geändert. Mit Marx und Engels in unseren Köpfen und mit der deutschen Bundesbahn. Und mit dem Wetter und dem Reden über das Wetter.
Vom Wetter reden war einst überlebensnotwendig. Man musste sich gegenseitig warnen, sich gegenseitig Schutz gewähren, musste die Jagd organisieren und die Felder bestellen nach der Wetterlage. Wetter ist eines der Grundsysteme für Begriff und Wahrnehmung in jeder Kultur. Kalt und warm, Wind und Stille, Donner und Blitz, Regen und Schnee, die Wolke, die nichts Gutes verheißt. Lust und Gefahr. Man spricht nicht nur über das Wetter, das Wetter lehrt auch sprechen.
Und es generiert die Sprachen der Liebe (der Sturm der Leidenschaft), der Ökonomie (Flaute am Schmelzmittelmarkt) und der Politik (Tauwetterperiode). Vom Überlebensnotwendigen wird das Sprechen über das Wetter zur alltäglichen Sprachübung. Eine konventionelle Freundlichkeit zwischen Nachbarn (Da haben wir wieder ein Sauwetter, gell, Frau Meier), ein einigermaßen konfliktfreies Kommunizieren um nichts besonderes und doch unzweifelhaft wirkliches. Menschen, die nicht einmal über das Wetter miteinander sprechen können, sind arm dran. Und noch ärmer sind jene dran, die glauben, Menschen, die über das Wetter sprechen, verachten zu müssen.
Die deutsche Bundesbahn und der SDS, damals, nahmen diesen Gestus ironisch auf. Die einen behaupteten, über das Wetter nicht mehr sprechen zu müssen, weil man sich durch Verlässlichkeit und Technologie über dieses alltägliche Schicksal hinweg setzen könne, die anderen behaupteten, über das Wetter nicht mehr sprechen zu wollen, weil man wichtigeres zu tun habe (nämlich Subjekt der eigenen Geschichte werden).
Doch in der Folgezeit kehrte das Wetter als Thema zurück, fatalerweise nicht mehr als nette kleine Konvention zur ebenso unbedeutenden wie erwärmenden Begegnung im Alltag, sondern als allfällige Bedrohung. Das Wetter ist nicht mehr Schicksal, dem man fatalistisch begegnen kann wie dem Regen in England oder der Hitze in Sizilien, nicht mehr schöne Aktion der Natur, der eine ebenso schöne Reaktion des Menschen folgt (Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur unpassende Kleidung), das Wetter ist Medium der Katastrophe. Diese Katastrophe, die Nachricht hat mittlerweile auch den Mainstream erreicht, ist kein direkter Ausdruck von Zorn und Güte der Götter mehr, aber auch kein Ausdruck chaotischer Natur: Was Katastrophe am Wetter ist (also beinahe alles), das haben die Menschen gemacht, und sie machen es, obwohl sie es besser wissen, immer weiter. Das Ungeheure ist geschehen: Wir sprechen nicht mehr nur über das Wetter. Das Wetter spricht auch über uns. Das Wetter ist eine narzisstische Kränkung geworden.
Dagegen gibt es eine soziale Bewegung, man möchte aufhören, die Natur so zu belasten, dass ihr nichts anderes übrig bleibt als mit katastrophalem Wetter zurück zu schlagen. Der Mainstream aber reagiert anders, nämlich mit einer manischen Rationalisierung. Das Wetter muss dringlich berechenbar, vorhersagbar werden, muss in Tabellen und Zahlen, in anschauliche Zeichen und Wetterkarten übertragen werden und von freundlichen Menschen möglichst genau und zugleich möglichst gutgelaunt erklärt werden. Die Antwort auf das „böse“ gewordene Wetter liegt im Bau immer neuer Wetterstationen, im Kult-Status von „Wettermännern“ und „Wetterfeen“ im Fernsehen. Und sie liegt in der Hysterisierung des Sprechens über das Wetter. Tückischerweise verliert das Wetter als Gesprächsstoff dabei seine konventionelle Freundlichkeit. Aus einem Gespräch darüber, wie geeignet das Wetter für einen Besuch am Weiher sei, wird rasch ein Disput über den „Klimawandel“. Für die einen kann auch der schönste Sommer nur Teil der Katastrophe sein, für die anderen ist ein kühler Nachmittag der Beweis dafür, dass das Gerede von der Erderwärmung Blödsinn ist. Es gibt Menschen, die auf das Wort „Klimawandel“ so entrüstet reagieren wie auf Erinnerungen an die Nazizeit. Dass „wir“ schuld am Wetter sein sollen, das ist schon eine Frechheit! Das Wetter war schon immer so und ändert sich von ganz alleine, weil es nämlich die Natur ist.
Während also das Wetter immer unbarmherziger über uns spricht, verlieren wir die Fähigkeit, über das Wetter zu sprechen. An die Stelle von Wahrnehmung und Reflektion tritt ein anderes Sinn-Paar: Die manische Vor-Schau (kein Sonntagsausflug ohne einen vorherigen Blick in wetter.de) und die Katastrophenphantasie. Ein Sommer wie dieser, der noch dazu von der ratlosen Langeweile eines „Wahlkampfes“, äh, „überschattet“ wird, der keinerlei Bedeutung mehr zu generieren vermag, beschleunigt diesen Vorgang ganz fulminant. Es ist, als würden wir im Wetter die Bedeutung suchen, die wir in der Geschichte nicht mehr finden. Im Wetter hat sich die Apokalypse bereits vollzogen, das Wetter übernimmt eine Geschichte, in der Menschen, wenn überhaupt, nur noch als gerechtes Opfer vorkommen. Das Wetter und seine Zeichen sind zu einer Universalreligion geworden, in der sich alle Sünden und alle Bitten um Gnade und Erlösung, alle Beichte und alle Opferrituale, alle Gebete und alle Gesänge verstecken lassen. Zur Folge hat das auch: Das Wetter, obschon Gegenstand pausenloser Rationalisierungen und Theologisierungen, entzieht sich der Aufklärung.
Wir können das Wetter nicht mehr nehmen wie es ist. Auch die Flucht ist vergiftet. Wenn wir vor einem verregneten Sommer in den Süden fliehen, tragen wir so oder so zur Verschärfung der Klimakatastrophe bei. Die Hitze bringt dagegen vor allem an den Tag, dass hierzulande Arbeitnehmer erst einmal nachweisen müssen, dass sie unter ihr leiden, bevor ein Arbeitgeber sich dazu verpflichtet fühlen muss, wenigstens für kalte Getränke zu sorgen. Das Wetter wird in seiner unausweichlichen Gemeinheit durch diese soziale Realität verschärft. Das Wetter ist wie die Wirtschaftskrise: Es belohnt die Schuldigen und bestraft die Opfer. Außerdem sorgt die wachsende soziale Ungerechtigkeit dafür, dass das Wetter für die Gewinner und die Verlierer der jeweiligen Krisen etwas anderes bedeutet. Früher, es war einmal, haben der König und der Bauer wenigstens über das Wetter miteinander reden können. Schon deswegen muss das Wetter so manisch medialisiert werden, denn müsste nicht, wie die Dinge stehen, ein Gespräch über das Wetter zu einem Gespräch über Herrschaft werden? Das Gerechteste daran freilich ist, dass Klimakatastrophen auch die reichen Reisenden erwischen können (darin ähneln sie dem Terrorismus), und dass eine unziemlich gnädige Sonne auch den Baggersee in ein temporäres Paradies verwandelt. Ab und an, scheint’s, hat das Wetter wenigstens einen grimmigen Sinn für Humor.
Das Wetter, das in die globale Katastrophenphantasie und die privat-mediale Berechnung zerfallen ist, ist aus der Mitte des Diskurses verbannt. Es ist entnachbarschaftlicht, entregionalisiert, entwirklicht. Es bildet so wenig mehr Sprache wie es sich in Sprache abbilden lässt. Das Wetter? Reden wir nicht davon! Das ist der letzte freundliche Satz, der vom einstigen sozialen Grundrauschen des Redens über das Wetter geblieben ist.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in Freitag, 03.09.2009
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