oder Wie eine Erzählgemeinschaft für einen moralischen Krieg erzeugt wird.

Prolog 1:Der Mythos der verlorenen Wahrheit

„Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“ – dieser Satz wird in den letzten Wochen mit so beharrlicher Gewichtigkeit wiederholt, und zwar innerhalb eben jener Medien, die nach unseren Vorstellungen für die Wahrheit zuständig wären, daß man sie als neues Glaubensbekenntnis, als Axiom der Berichterstattung vom Krieg akzeptieren müßte, wenn einem nicht gerade durch diese penetrante Wiederholung klar würde:
Der Satz kann nur der impertinenteste Teil der großen Lüge sein. Diese Medien behaupten damit nämlich, indirekt und bildhaft, wie sie es gerne tun, ein paar Dinge über sich selbst:

1. Vor dem Krieg wurde – von uns, den Vertretern der Medien, den Journalisten, Kritikern, Kommentatoren des Geschehens – die Wahrheit gesagt, und wenn der Krieg vorbei ist, werden wir auch wieder Zugang zur Wahrheit haben.

2. Wenn wir nicht die Wahrheit sagen, so ist das nicht unsere Schuld. Wir, die Wortbenutzer und Bildermacher, wir sind nicht etwa Partei irgendeiner Schuld in diesem Krieg, wir sind immer Opfer.

3. Wir sind uns unserer Grenzen bewußt und daher bereit, zu schweigen, wo nichts zu sagen ist, keine Bilder zu bringen, wenn es nichts abzubilden gibt, eher das Widersprüchliche zu akzeptieren als aus den fragmentarischen Informationen ein wohlfeiles Urteil zu formen. Wir sind uns, um es in einem Wort zu sagen, unserer Verantwortung bewusst, in der Welt der Fälschungen und Manipulationen.

4. Wir sind nicht schuld, wenn sich später herausstellen sollte, dass wir während dieses Krieges mit falschen Bildern und falschen Erzählungen gelebt haben. Wir haben immer davor gewarnt, aus unseren fragmentarischen und zweifelhaften Bildern zu schnell eine moralische Erzählung zu formen.

Nach allem, was diese Medien uns in den letzten Wochen geboten haben, sind das vier faustdicke Lügen, die sich hinter einer scheinbar simplen Aussage verbergen. Und noch eine Lüge beinhaltet dieser scheinkritische Satz: Der Krieg, impliziert er, sei ein wiederkehrendes Ereignis, eine Art Naturkatastrophe, die immer wieder dieselben Phänomene zeige. So ist es halt im Kriege. Nein: Auch was die Produktion seiner Bilder anbelangt, ist jeder Krieg eine eigene Geschichte. Und nicht nur die Politik, nicht nur das Militär, nicht nur jeder einzelne, sondern vor allem auch die Medien, in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit und freimarktwirtschaftlichen Vielfalt, werden auf immer neue Weise schuldig.

Die heroische Selbstinszenierung der deutschen Medien besteht im Selbstportrait als angestrengter Streiter gegen Propaganda und Fälschung von allen Seiten, eine auf Hochtouren laufende Filteranlage, eine Suchmaschine nach der „Wahrheit“ im unendlich suggestiven Netz der Dinge. Jeder Journalist ein Partisan der verlorenen Wahrheit, ein Einsamer im Dschungel der Wahrnehmungen und Gefühle, einer oder eine, der oder die uns verteidigt gegen die Mächte der Manipulation.

Wenn dem so wäre, warum kommt dann doch eine so gleichförmige Ikonographie, eine Meta-Erzählung dieses Krieges heraus, deren Details sich an allen Ecken und Enden so verblüffend ähneln, warum schleichen sich die immergleichen Erklärungsmuster, die Modellsätze, die Tautologien, die Dogmen ein, die von sich nichts wissen? Warum wird dann in den deutschen Medien aus dem Chaos einander widersprechender Bilder und Nachrichten eine Erzählung von so furchterregender innerer Selbstgewißheit?

Prolog 2:Das Vage und das Offensichtliche

Eine Episode aus der Serie „Baywatch“: Die tüchtige Rettungsschwimmerin und ihre Helfer erreichen einen am Strand liegenden Mann, der offensichtlich nach Atem ringt. „Ich kriege keine Luft!“ keucht er. Die tüchtige Rettungsschwimmerin stellt sofort eine medizinisch hieb- und stichfeste Diagnose: „Der Mann hat Atemprobleme.“

Die nächsten Einstellungen zeigen uns zweierlei: 1. Die Frau hat einen ziemlich knappen Badeanzug als Arbeitskleidung gewählt. 2. Es kommen ein paar medizinische Gerätschaften und Techniken zum Einsatz, die wichtig und wirkungsvoll sind, uns im Detail aber nicht zu kümmern haben. Schließlich lässt die Dramatik der Situation nun keine Zeit mehr für Erklärungen. Als die erste Hilfe offensichtlich nicht ganz ohne Erfolg abgeschlossen ist, kehrt der Film zur tautologischen Erzählweise zurück. Zwei Sanitäter heben den Kranken vorsichtig auf eine Bahre, während die Heldin sagt, man müsse den Kranken vorsichtig auf eine Bahre heben. Und dann hat sie auch noch Zeit, zu verlangen: „Macht die Tür zu!“, während die Männer die Tür ihres Sanitätswagens schließen.

Diese Erzählweise hat auf eine besondere Weise „Glaubwürdigkeit“ erzeugt. Statt einer gleichmäßigen Informationstiefe oder einer Suche nach Information mit Retardierungen und Durchbrüchen, wechselt sie zwischen zwei Strategien rhythmisch ab, nämlich der einer geballten Ladung Offensichtlichkeit – ein vergleichsweise einfacher Sachverhalt wird bedeutungsschwer doppelt und dreifach erklärt – und einer dramatischen Vagheit – komplexe Verrichtungen und Beziehungen verschwinden hinter nicht erklärbaren Handlungen und nicht erklärbaren Begriffen, während uns die emotionale Anspannung der Beteiligten in Bann hält.

Diese duale Erzählweise vom Terror des Offensichtlichen und der dramatischen Vagheit kennen wir aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen, etwa aus jenen Bedienungsanleitungen komplizierter elektronischer Geräte, in denen seitenlang sehr präzise davon gesprochen wird, wie man einen Stecker in eine Steckdose steckt, um dann in einen vagen Jargon zu verfallen, sobald es um die eigentlichen Funktionen und vor allem die Probleme des Gerätes geht. Und am Ende, wenn es um die Anwendung fusselfreier Tücher zur Reinigung geht, wird wieder jedes Detail hochnotpeinlich notiert. Es gibt in dieser Erzählweise also vernünftige Präzision und lyrischen Impressionismus, nur beides eben genau an der falschen Stelle.

Jede Fernsehshow ist von dieser Erzählweise mehr oder weniger infiziert: die Überdeterminierung im Bereich des Trivialen und Offensichtlichen (im Fernsehen kann nicht einmal applaudiert werden, ohne dass jemand sagt, daß nun applaudiert werde) und das Verschwimmen der Informationen im Vagen, eben dort, wo man über den Raum der gegenwärtigen Inszenierung vor der Kamera hinausgehen müsste, sowohl, was die Zeit, als auch, was den Ort anbelangt. (Man betrachte nur, wie der „Showmaster“ mit einem Menschen anderer Sprache umgeht: Er macht stante pede eine Orgie der Vagheit aus dem Gespräch.) Der Innenraum vollständiger Gewissheit steht dem Außenraum vollständiger Ungewißheit gegenüber.

Ich glaube nicht, dass man noch fragen muss, was das mit unseren Bildern vom Krieg im Kosovo zu tun hat. Nicht nur jede Sendeeinheit, jede Einstellungsfolge funktioniert nach diesem Erzählprinzip von Überdeutlichkeit und Vagheit. Eine Flüchtlingsgruppe, die an eine Grenzstation gelangt, wird als Flüchtlingsgruppe, die an eine Grenzstation gelangt, und eine Feuerwehrgruppe, die den Brand an einem getroffenen Hochhaus in Belgrad zu löschen versucht, als Feuerwehrgruppe, die den Brand an einem getroffenen Hochhaus in Belgrad zu löschen versucht, bezeichnet. Und wir können sicher sein, dass auf die Konstruktion des Über-Offensichtlichen stets die Konstruktion der Vagheit folgt, die zur Nachricht allein durch die Dramatik des Augenblicks wird (etwa in den Erzählungen der Geflüchteten, in der Erschöpfung der Feuerwehrleute).

Wie aber verhalten sich das Offensichtliche und das Vage in dieser Erzählweise? Nicht anders als in einer „Baywatch“-Folge oder einer Gameshow: Die „Wahrheit“ – und nichts anderes kann in der tautologischen Über-Information stecken, in der doch alles mehrfach nachprüfbar ist – wird von der Projektion des Blicks auf das Bild der Inszenierung verschoben. Die Wirklichkeit selbst ist Feindesland, terrain vague. Anders gesagt: Wir werden es in dieser Erzählweise kaum bemerken, wenn eine logische oder moralische Schlussfolgerung vom Bereich des Offensichtlichen in den des Vagen verschoben wird. Aus dem Vordergrund des Offensichtlichen führt der geheimnisvolle Weg in den Bereich des Vagen, in dem „die Serben“ Unsagbares und Bildloses tun, das nur mit etwas anderem Unsagbaren und Bildlosen verglichen werden kann.

1. Kapitel:Der Krieg als Erzählung

So ganz allmählich scheinen sich unsere Medien, wenn mich nicht alles täuscht, von der moralischen Erzählung zum Krieg, die sie selbst zum großen Teil mitgeschaffen haben, wieder zu distanzieren. Zum einen durch die Schübe von Selbstreflexion, die auch jene bürgerlichen Blätter – zumindest im Feuilleton – erschüttern, die vordem den Kriegserklärungen nur allzu gern folgten, zum anderen dadurch, dass man, wie die Bild-Zeitung, wieder zum gewohnten Stoff zurückkehrt: „Telefon-Sex gebührenfrei“, „TV-Star verstößt seinen Sohn“, „Papagei brachte einer Stummen Sprechen bei“.

Die moralische Erzählung dieses Krieges, seine melodramatische Rekonstruktion, ist freilich auch schon so tief in unsere populäre Mythologie abgesunken, dass sie „natürlicher“ Teil der allgemeinen Wahrnehmung geworden ist. Sie muß kaum noch vertieft, verteidigt oder ergänzt werden. Wie aber ist diese Erzählung zustande gekommen?

Unsere Medien sollten uns, so die Abmachung unserer Gesellschaft und unserer Kultur, über die Geschehnisse der Welt, über mehr oder weniger alles, was der Fall ist, „informieren“. Sie können das nun gut oder schlecht tun, ehrlich oder verlogen, sie mögen es gegen allerlei innere und äußere Widerstände tun, es mag Beeinflussung, Fälschung, Blendung, Interesse, Manipulation und sogar Korruption geben. Und alle drei beteiligten Parteien: die Erzeuger der Bilder, die Übermittler der Bilder und die Empfänger der Bilder, tragen einen Anteil Verantwortung dafür, wie nahe die Bilder an einer wenngleich zugegebenermaßen immer problematischeren „objektiven Wirklichkeit“ in den Prozessen ihrer Bearbeitung, Wanderung und Vernetzung bleiben. Aber mehr noch als nach der Wahrheit suchen wir nach dem Sinn, nach der Ordnung in den Bildern. Eine Nachricht wird erst verstanden, wenn sie eine Erzählung geworden ist.

Dieser Krieg versteht sich in unserer Politik und in unseren Medien als Melodram. Es ist eine Erzählung, die keine Transzendenz kennt, weder den göttlichen Auftrag noch den historischen Plan, weder Eroberung noch Verteidigung. Niemand träumt in diesem Krieg davon, dass dieser Krieg – einzig verbliebene humanistische Legitimation – der letzte zu sein hat, wenigstens in einer Region. Er ist wie die, die ihn führen lassen: nicht rational, aber „authentisch“. Seine Moral beweist sich gerade darin, dass er wider die Vernunft geführt wird. Er ist vielleicht in seinem Meta-Text sogar selbst ein Krieg der Moral gegen die Vernunft.

Tugend und Terror offenbaren sich in der melodramatischen Erzählweise allein durch sich selbst. Sie bedürfen nicht der Analyse, sie verweigern Ambivalenz. Die melodramatische Erzählweise zeichnet sich gerade dadurch aus, daß alles nach dem Offensichtlichen drängt; sie verweigert sich dem Subtext und dem Hintergrund. Das macht das Melodramatische dem Propagandistischen so offen. Die Erscheinung ist der Inhalt, der zum Ausdruck drängt und zum Ausdruck gedrängt wird. Das Bezeichnete verschwindet unter der Bezeichnung; was wahrgenommen wird, wird es als moralisches Symbol. So wird selbst, das kennen wir, das Territorium moralisiert. Ein Krieg gegen die Bosheit der Natur, ein Krieg gegen Bilder. Es ist, als schreckten wir davor zurück, sein Gelände und sein Wesen allzu genau anzusehen, und als sehnten wir uns, authentizitätshungrig, zugleich danach.

Wir werden über alles Maß hinaus blind gegenüber dem Leiden der serbischen Bevölkerung, übrigens ein eklatanter Unterschied zwischen der deutschen Berichterstattung und der in benachbarten Ländern, weil es das melodramatische Erzählen stören würde. Ein Blickwechsel, das Sehen des anderen, die Ahnung des Widerspruchs, würde diese Erzählung zum Einsturz bringen, die ein großes Versprechen birgt: dazuzugehören. Nicht mehr außen zu sein, kein einzelner, nicht mehr heimatlos. Diese Wir-Sehnsucht, so scheint es, verbindet die hohlköpfigsten Menschen mit denen, denen wir vordem noch den einen oder anderen klaren Gedanken zugetraut haben.

Wenn man aber einmal in dieser Erzählung ist, kann man ihren Text nur wahrhaft erbarmungslos zu Ende führen. (Und Clinton darf, ohne dass die moralische Erzählung zusammenbricht, in einem Satz von der „humanitären Aktion“ und davon sprechen, das Bombardement werde „erbarmungslos“ fortgesetzt.) Das Melodrama ist eine Beziehungsfalle: Wird man auf der einen Seite aus Mitleid zum Kriegsbefürworter, so wird man auf der anderen Seite vom Kriegsgegner zum Unmenschen. Nicht einmal diese Perfidie der psychologischen Kriegführung, die zugleich ewigwährender Wahlkampf ist, konnte uns diese Neue Mitte ersparen.

Unser Bedürfnis angesichts eines Krieges ist keineswegs, ihn in all seinen schrecklichen Aspekten, in seinem Grauen und seiner Absurdität, zu verstehen, sondern in der einen oder anderen Weise mit seiner Existenz zu leben. Der Krieg muß Erzählung werden. Was ich benötige, sind also

¥ Identifikations- und Distanzierungsmodelle: die Schurken, die Opfer, die Helden

¥ eine Dramaturgie, die auf die eine oder andere Weise einen Sinn produziert

¥ eine Stimmung des Krieges, in der ich mich nach einer gewissen Zeit, „einfühlen“ kann, eine Kontinuität der Bilder, die mir sagt, der Krieg von heute sei immer noch der Krieg von gestern und nicht etwa ein anderer Krieg im Krieg, und überhaupt sei ein „Ganzes“ nicht zu erzielen

¥ eine Mythologie, die das „Opfer“ erklärt und die Widersprüche aufhebt (wir sind in einer Erzählung, in der Goliath der Gute wird, Ödipus seine Blendung nicht erkennt, Kain den Abel zu Recht schlägt).

So geht es also darum, aus dem Krieg eine Erzählung und aus denen, die sie aufnehmen, eine Erzählgemeinschaft zu machen. Eine Erzählung ist ebenso etwas anderes als eine Ideologie, wie ein Mythos etwas anderes ist als eine Lüge. Aber sie ist auch das Gegenteil einer aufklärerischen Geste gegen beides, gegen die Ideologie und gegen die Lüge.

Man kann wohl behaupten, dass wir weder in einer Wolke der Propaganda noch in einem Schock der Wahrheit leben, sondern in einer neuen Form des Erzählens vom Krieg, die sich gleichwohl mit dem Fortschreiten selbst verengt, immer weniger Widerspruch duldet, die Rollen immer hysterischer beschreibt, je mehr sich gerade in ihrer Dramaturgie Zweifel ergeben könnten.

2. Kapitel:Offenes und geschlossenen Erzählen

Es gibt in dieser Erzählung Kernstücke und Ausschmückungen, sie wird ja in den unterschiedlichsten Varianten vertrieben, für alle Bildungsstände und alle Konsumentengruppen, das eine Mal als philosophischer Essay, das andere Mal als soap opera verpackt. Aber es gibt dabei einige Essentials, die in den Rang einer endgültigen Wahrheit erhoben sind. Wer diese bezweifelt, begibt sich in der Tat in Gefahr, aus dem Kreis der Erzählgemeinschaft, der normalen und gesunden Menschen, schließlich derjenigen, für die Menschenrechte bei uns Gültigkeit haben, ausgeschlossen zu werden. Wer an ihnen zweifelt, ist ein Unmensch. Sie lauten in etwa:

1. Die Kriegführung der Nato ist bestimmt durch das menschliche Entsetzen über begangene Gräuel, irgend andere, verborgene, zweite, doppelte Interessen darunter gibt es nicht. Es ist nicht auszuschließen, dass dieser Krieg in sich ausgesprochen sinnlos ist, ja dass er wider alle menschliche und politische Vernunft geführt wird. Die Form des Krieges widerspricht dem Ziel; die Erzählung hysterisiert sich, weil sie sich selbst auffrisst. Die Kritik des Krieges führt zum Ausschluss aus der Erzählgemeinschaft. Was auf keinen Fall gesagt werden darf, ist dies: dass dieser Krieg selber unmoralisch ist.

2. Milosevic ist an allem schuld. Er ist all das Böse der Macht schlechthin, die Skrupellosigkeit, die Manipulation, die Benutzung der Massen, der aktuelle neue Hitler.

3. Der „großserbische Traum“, die Politik der ethnischen Säuberungen, ist eine Perversion dessen, was wir uns allenfalls in kleinen Dosierungen leisten: Nationalismus, Rassismus, Gewalt.

Wenn sich herausstellen sollte – und wir müssen verblendet sein, wenn wir nicht fähig sind, Anzeichen dafür zu erkennen -, dass die drei Axiome der Kriegserzählung der historischen Reflexion nicht standhalten werden, dann bricht viel mehr zusammen als nur die Legitimation eines offenkundig „falschen“ Krieges.

Was zusammenbrechen wird, das sind die politischen Biographien einer Generation (und, unter anderen, Joseph Fischer wird ja nicht müde, zur Legitimation die „Angehörigkeit einer Generation“ anzuführen), das ist das Selbstverständnis einer neuen politischen Klasse, jenes neuen Kleinbürgertums, das die moralischen Ideale einer früheren Phase mit den Freuden und Verblendungen der freien Marktwirtschaft ebenso zu versöhnen angetreten ist wie Lust und Bürde der Macht.

Und was zusammenbrechen wird, ist das gesellschaftliche Projekt einer Moralisierung des Kapitalismus, einer Moralisierung des Nationalen, eines Pakts zwischen politischer Korrektheit und Neoliberalismus in gemäßigter Form.

Was hingegen bleiben wird, ist die Neukonstruktion des Krieges, bei der die Moral die Funktion des Offensichtlichen erhält und das Politische in das Reich des Vagen verschoben ist. Der moralische Krieg kann nicht beendet werden, nur weil er sich als unvernünftig erweist; das Moralische ist im Melodramatischen, der kürzesten Verbindung von Tugend und Terror, an die Stelle des Religiösen getreten. Es ist der Dschihad der Melodramatiker gegen das Projekt der Aufklärung. Nicht in die Steinzeit vielleicht, wohl aber in ein neues Mittelalter bombt uns die Nato zurück. Und für diesen Prozess gibt es, gar nicht so vage, wirkliche Interessen.

3. Kapitel:Vereint bomben, getrennt erzählen

Ein anderes Problem: Der Krieg im Kosovo ist zwar einer, der die europäischen Staaten und den US-amerikanischen militärisch und politisch aneinanderbindet – und beständig wird in dieser Kriegserzählung davon geredet, daß dieser „Zusammenhalt“ ein eigentliches Ziel sei und auf gar keinen Fall gefährdet werden dürfe. Aber andererseits gibt es kaum eine einheitliche Erzählung zu diesem Krieg; jede der beteiligten Gesellschaften lebt in ihrer eigenen, und manche, wie die italienische zum Beispiel, weigern sich überhaupt, der politischen Erzählung zu folgen. Es ist vermutlich nicht ganz einfach, anderen Erzählzusammenhängen zu vermitteln, dass für unsere Erzählung von zentraler Bedeutung ist, daß es gerade die Vertreter einstiger Opposition gegen das Militärische an sich waren, daß es eine besondere Art politischer und persönlicher Biographien ist, die sich in diesem Krieg erfüllen.

Ebenso befremdlich mag von anderswoher gesehen der Umstand erscheinen, dass Clinton den Krieg so sehr auf seine eigene Funktion bezogen hat, daß er sich in der ersten Person Einzahl als eigentliches Subjekt der Handlung konstruiert und die Europäer zu mehr oder weniger kauzigen side kicks macht. Schwer verständlich wiederum vielleicht vom südlicheren Europa aus der vollständige Konsens der englischen Erzähler und ihres populistischen Führers. Undsoweiter.

Es wird sich zeigen, ob die Aufsplitterung der Erzählungen dem historischen Projekt – neue gesellschaftliche Herrschaftszusammenhänge führen neue Kriege für eine neue Weltordnung – zugute kommt oder ihm schadet. Die neue Kriegserzählung ist jedenfalls „postmodern“ insofern, als sie beides zugleich liefert: melodramatische Eindeutigkeit und mehrdeutige Vernetzung.

Der Krieg der Bilder ist auch ein Krieg der Pop-Diskurse, mit bizarren Inversionen. Bombardiert da die Nato nicht eine Art Woodstock in Permanenz, eine Gesellschaft, die ihre Lebenskraft offenkundig nicht in formierten Propaganda-Aufmärschen, sondern in sehr zivilen, informellen Erscheinungen äußert? Das Militärische des Gegners wird einfach nicht sichtbar. Dass sich die Zivilbevölkerung als Opfer anbietet, mit den ikonischen Target-Schildern (kannten wir die nicht von unserer letzten Jugendrevolte: Schieß doch, Bulle!), kann nur die allergrößte Perfidie sein, die Zivilbevölkerung als „Schutzschild“ zu benutzen, ist die perfideste Weise des Gegners, die Moral des Krieges zu zerstören. Das allergrößte Verbrechen von Milosevic und den Seinen ist es, dass er alles daran zu setzen scheint, uns schuldig zu machen.

Dieses Woodstock in Permanenz wird von den Größen der deutschen Pop-Kultur mit einem verstärkten Einsatz für die Flüchtlinge, aber auch für den Bombenkrieg beantwortet. Sie bezahlen dafür mit dem vollkommenen Verlust des Außenseiterstatus und führen eine Armada in das Mainstreaming, das gleichwohl nie die Hitze eines Konzerts in Belgrad mehr erreichen kann.

Jeder Zweifel verschwindet hinter einem anderen Axiom: Was wir betreiben, ist ein schwieriges, demokratisches Unterfangen der Information, was die anderen betreiben, ist Propaganda. Das Bild des Feindes ist immer ein gefälschtes Bild, ein Bild, das etwas anderes will, als es auszudrücken scheint. Was verloren geht, ist der Adel der Ohnmacht; Mainstream und Dissidenz stürzen ineinander, die Karten der Kultur werden in diesem Krieg neu gemischt.

Daher unterstützen die Bilderproduzenten dieser Seite so eindeutig den Krieg der Bilderproduzenten auf der anderen Seite. „Daß Milosevic das gedruckte genauso wie das gesendete Wort systematisch in sein System der Haßerzeugung gezwungen hat, ist das eigentlich Verwerfliche, nicht der Versuch, es dem Gewaltherrscher zu entziehen“, behauptet der Kommentator der Süddeutschen Zeitung. Er spricht dabei von der Bombardierung des serbischen Fernsehens, bei der es Tote gab. Auf allen Ebenen wiederholt sich das immergleiche Spiel: Nicht unser Krieg ist barbarisch, nur Milosevic ist barbarisch. Wie aber könnten wir das eigene „System der Haßerzeugung“ noch kritisieren?

4. Kapitel:Die Logik der Kriegserzählung

Jede Kriegserzählung reproduziert die immergleichen Elemente in verschiedenen Abstufungen von Hysterisierung und Impertinenz:

1. Der moralische Auftrag. An die Stelle der nationalen Sendung ist das moralische Interesse getreten, von dem Scharping im Bundestag behauptet: „Jedes problematische Tun ist besser als jedes Nichtstun.“ Wenn ich die moralphilosophische Entwicklung recht im Kopf habe, waren wir nach ziemlich mühevollen Arbeiten, die nur zum geringeren Teil in isolierten Studierstuben geleistet wurden, zum genau gegenteiligen Ergebnis gekommen. Und wenn man, wie wir es ja recht gerne tun, den Krieg und die Gemengelage von Feind und Opfer im Bild der „Krankheit“ fassen will (weshalb es ja auch „chirurgische Eingriffe“ geben kann), so muss wohl unterwegs vergessen worden sein, was Paracelsus über die ärztliche Kunst sagte, dass sie nämlich in erster Linie darin bestehe, zu unterlassen, was dem Patienten schade.

Mit Scharpings Worten und mit weiten Teilen der Kriegserzählung ringsumher ist ein neues Dogma für den moralischen Krieg aufgestellt: Im klassischen Krieg ging man davon aus, daß es besser sei zu handeln, bevor es der andere tut. Nun ist klar, daß man das Tun über die Vernunft setzt. Diese Verknüpfung von Moralismus und Tatendrang ist zugleich so verführerisch und so überraschend, dass sie die Möglichkeiten der vorausschauenden Kulturkritik überforderte. Im Namen der Moral wurde eine Strategie adaptiert, die man ein paar Jahre zuvor noch als geistigen Primitivismus aus den USA verachtete: Erst schießen, dann denken. (Und wenn es so offenkundig legitim ist, die Kritik aus der moralischen Erzählung dieses Krieges heraus zu psychiatrisieren, so darf uns wenigstens erlaubt sein, eine Analogie dieses Verhaltens zu etwas aufzuzeigen, was die Verhaltensforschung eine „Übersprungshandlung“ nennt: ein lang unterdrückter Impuls muß irgendwann heraus und kann sich nicht mehr um Vernunft und Ziel kümmern.)

2. Die grenzenlose Rohheit des Feindes. Scharping berichtet, er habe von Flüchtlingen gehört, dass „die Serben mit abgeschlagenen Köpfen Fußball“ spielten; „einer schwangeren Frau sei der Fötus herausgeschnitten, gegrillt und wieder in den Leib gelegt worden! Die Täter trügen meist schwarze Masken“ (Bild-Zeitung). Erinnern wir uns an die sadistischen Babymörder im Golfkrieg. Es gibt nur ein einziges, was die Barbarei der Taten im Krieg noch übertrifft: die Phantasie der Barbarei.

Mittlerweile arbeiten bereits PR-Agenturen wie Ruder Finn an der planmäßigen Verbreitung von Schreckensbildern des Feindes und praktikablen Begriffen dazu, die zum Beispiel gezielt Vorstellungen von „Konzentrationslagern“ verbreiten. Wenn wir diesen Krieg einmal „aufarbeiten“ werden, werden wir, unabhängig davon, wie falsch oder richtig die moralische Erzählung dazu ist, darüber erschrecken, hoffe ich wenigstens, wieviel davon nach den Gesetzen medialer Marktwirtschaft produziert und konsumiert wurde.

Nomenklaturen werden planmäßig ausgestreut, Milosevic zum Beispiel ist wieder „der Schlächter“, Gregor Gysi natürlich ein „Altkommunist“. Nur Fischer selber ist da noch einfallsreicher, indem er ihn einen „Weißwäscher für eine neue Politik des Faschismus“ nennt. Es ist geplante Strategie, die Verbrechen von Milosevic mit denen des Faschismus gleichzusetzen; Scharping spricht immer wieder von „KZ“, „Selektion“, „SS“.

Was sich zuvor eher informell auf dem Meinungsmarkt etabliert hat, nämlich dass der jeweilige Gegner als Person einfach immer der neue Hitler ist, Saddam sowieso und noch von einem „Intellektuellen“ wie Hans Magnus Enzensberger so getauft, Schirinowski indes gleich durch die Bild-Zeitung zum „Russen-Hitler“ gekürt, die Täter von Littleton als „Hitlers mörderische Kinder“, das scheint nun eingesetzt wie in einer Werbekampagne. Wenn überhaupt, bricht diese Werbekampagne für den moralischen Krieg unter ihrem eigenen Professionalismus zusammen (weshalb Joseph Fischer, man achte darauf, sich gegenüber den Pflichtübungen Scharpings stets eigene Küren erlaubt, und Schröder in alledem nichts als Ruhe und Standfestigkeit zu spielen hat).

3. Die Sentimentalisierung der Protagonisten. Joseph Fischer (51) und Journalistenschülerin Nicola Leske (29) heiraten an aus Sicherheitsgründen geheimgehaltenem Ort (Fotografen sind aber trotzdem da): „JA … auch wenn das Herz schwer ist.“ (Bild-Zeitung) Wir sind an der Front, um Decken und Plüschtiere zu verteilen, und zu Hause geht das Leben weiter, auch wenn uns vor lauter schweren Herzen ganz warm ist. Der Politiker erhält in der schweren Bürde, die er trägt, einen Ausweis der in der postmodernen Mediokratie selten gewordenen Authentizität. Beinahe zu Tränen gerührt registriert die Kritikerin der Süddeutschen Zeitung die „Aufrichtigkeit, menschliche Erregung“ etc. der Teilnehmer von „Christiansen“. Wetten, daß wir einen ähnlichen Auftritt auf der anderen Seite als „propagandistische Schmierenkomödie“ bezeichnet hätten?

Der Krieg ist da, die Wahrheit ist weg, und die Politiker sind mit einemmal plötzlich menschlich aufrichtig. Was da stattfindet, ist eine blutige Karnevalisierung der Wahrnehmung unter dem Motto des Authentischen und Ganzheitlichen.

Tatsächlich funktioniert etwas, das die Medientheoretiker in den letzten Jahrzehnten postuliert haben, wenngleich auf ganz andere als die erwartete Weise: Wir werden den Bildern nicht mehr trauen können. Um so wichtiger wird es sein, dass wir den Menschen trauen, die sie produzieren. Unsere Medien verhalten sich in diesem Krieg, als hätten sie diese Lektion vor allem für sich einzusetzen gelernt: Das Misstrauen gegen die Bilder wird vorausgesetzt, nicht ihre, sondern die Authentizität der Übermittler ist die eigentliche Botschaft. Ja, die ganze Moral dieses Krieges steht und fällt innerhalb des Medienbildes mit dieser Authentizität.

Daher wird gerade dies dem Staatsmann hoch angerechnet, wofür er vordem vermutlich aus dem Amt gejagt worden wäre, nämlich Ratlosigkeit gegenüber dem, was er selbst angerichtet hat. Je authentischer Schröder, Fischer, Scharping um ihre Fassung ringen, ihre „Betroffenheit“ inszenieren, um so weniger wird die Frage nach Sinn und Ziel dieses Krieges gestellt.

„Auch wer ihre Überzeugung nicht teilt, wird die Echtheit ihrer Politik kaum bestreiten“, schreibt Rainer Bonhorst in der Augsburger Allgemeinen. Die Echtheit von Politik als Kriegsergebnis? Schröder, Scharping, Fischer sind erfolgreich authentisch, weil sie sich verhalten wie Menschen aus der „Lindenstraße“, denen wir immer mehr glauben, je mehr Fehler sie machen, die aber gerade darin beweisen, daß sie nicht böse und nicht korrupt sind.

4. Sieg auf dem Schlachtfeld – Zahnbürsten für die Bevölkerung. In Stanley Kubricks Film „Full Metal Jacket“ erklärt der Chefredakteur von Stars & Stripes, es gebe nur zwei Arten von kriegstauglichen Nachrichten: GI, die unter der Bevölkerung Zahnbürsten verteilen („Das dient dazu, daß wir die Herzen der Leser gewinnen“), und glänzende Siege des Militärs und getötete Feinde („Das dient dazu, daß wir den Krieg gewinnen“). Ganz nebenbei unterläuft der Film im übrigen damit den Mythos vom Ende des Vietnam-Krieges (was angeblich kommen musste, weil die Medien ein so „wahrheitsgemäßes“ Bild des Krieges in der Heimat vermittelten); wenn es damals die Phantasie gab, die Medien könnten einen Krieg beenden helfen, so dürfen wir spätestens nun davon ausgehen, dass sie ihn auch auslösen können: Alle Beteiligten, die es nötig haben, rechtfertigen ihren Krieg mit den Bildern in den Medien, denen man „nicht tatenlos zusehen“ könne.

Das zynische Gebot der Kriegspropaganda, also der Täuschung der Menschen, die humane Sentimentalität und die heroische Barbarei stets gleichzeitig zu bedienen, ist nun zur Struktur des Krieges selber geworden. Nur dass sich nun das Humanitäre nicht mehr im Gewalttätigen einschreiben lassen will, sondern dass das Gewalttätige ins Humanitäre eingeschrieben wird.

5. Das Mädchen muss gerettet werden! Beinahe zwei Wochen lang verfolgte uns das Bild eines weinenden Mädchens, das zuerst von der Bild-Zeitung adoptiert wurde und dann durch alle möglichen Medien wanderte, bis es zum Ikon geworden war, das die Schrecken des Krieges und unser eigenes Mitleid so perfekt zusammenfasste, dass niemand der Versuchung widerstehen konnte, es gleich in den Rang einer Werbeaussage zu erheben, beginnend mit Appellen zum Spenden. Schon trösten wir es mit den Segnungen unseres Freien Marktes auch für Kinderwaren. Der Mythos des geretteten Mädchens gehört zu den Kriegserzählungen; es soll gerettet werden, damit die Verurteilung der Geschichte nicht so total werde wie im Tod des Mädchens im Melodram. Theodor W. Adorno hat von der Reaktion auf das Wissen vom Tod Anne Franks erzählt: „DIESES Mädchen hätte man nicht umbringen dürfen“, sagen die Menschen, und verschwunden ist die Ungeheuerlichkeit des Tötens selbst.

6. Die Sexualisierung der Kriegsdiskurse. In einem Zentrum der Kriegserzählung steht die Vergewaltigung, und ein bizarrer Nebenschauplatz der Diskurse wird vom Vatikan eröffnet, der nicht einmal die Abtreibung bei den vergewaltigten Frauen erlauben will, was Skandal macht und sogar die Androhung von Kirchenaustritten durch die SPD-Abgeordnete Regina Schmidt-Zadel. Wieder haben wir einen Paradigmen-Wechsel in der moralischen Erzählung vom Krieg; jede Gewalttat löst sofort beides gleichzeitig aus: einen Schlag möglichst symbolischer Gegengewalt und eine humanitäre Gegenbewegung. Da im Projekt des moralischen Krieges durch das neue Kleinbürgertum der Krieg selber nicht mehr als „organisierte Männergewalt“ dargestellt werden kann – jede Grußadresse gilt mittlerweile ganz betont schon „unseren“ Soldatinnen und Soldaten -, muss die verlorene sexuelle Mythologie der klassischen Kriegserzählungen auf Umwegen rekonstruiert werden.Der Krieg wird nicht nur moralisch, er wird in mehrerer Hinsicht auch weiblich. In der klassischen Kriegsphantasie gab es den gepanzerten und feuerspeienden Mann, bereit, sein Blut zu verspritzen und, noch mehr, das anderer Menschen, und die weißgekleidete Krankenschwester, die ihre Fürsorglichkeit beinahe gleich verteilte auf die Verwundeten und Sterbenden beider Seiten, die nach der Mutter zu schreien pflegen, wenn ihre Führer sie verlassen haben.Ganz wie im richtigen, im alltäglichen Leben, hat es keine radikale Revolte der Krankenschwestern gegen die Blutverspritzer gegeben, sondern nur eine neue Form der Amalgamie: Die Panzermänner sind auch Krankenschwestern, und die Krankenschwestern werden auch Blutspritzer. Vielleicht funktioniert dieser Krieg auch noch als Postfeminisierungsmaschine. Wie der ganze Krieg so scheint auch jede Einzelaktion jedes einzelnen Soldaten und jeder einzelnen Soldatin hypermoralisiert.So richtig heldenhaft und bis an die Zähne bewaffnet und stolz auf ihren Panzern dürfen Soldaten in diesem Krieg nur sein, wenn sie „Hilfsgüter bewachen“. Zukünftige Psychohistoriker werden wieder einmal zu klären haben, was in diesen Menschen als Potential erzeugt wurde. Denn ohne Folgen kann auch für die „Sieger“ der invertierte Krieg für die einzelne Seele nicht bleiben.

7. Die Hysterie der Ausgrenzung. Es stimmt offensichtlich nicht, daß Intellektuelle, wie Martin Walser meint, nur eine Meinung haben könnten, wie jeder andere auch. Wenn es die falsche ist, werden sie zu mehr als zu Verrätern: Handke und Gysi müssen zu jenen Stacheln im Fleisch werden, die beinahe schlimmer als der Feind selber sind. „Gregor Gysi hat seine Maske verloren“ titelt die Bild-Zeitung, und eine Leserbriefschreiberin bringt es auf den Punkt: „Herr Gysi müsste durch den Kosovo gejagt werden und um sein Leben fürchten müssen. Nein, Herr Gysi, Sie gehören nicht zu uns.“

Auch Walser selbst, der sich für diesmal, will mir scheinen, höchst vorsichtig geäußert hat, bekommt diese Stimmung sofort zu spüren: „Das Reflexionsvermögen ist nicht den Medien, sondern dem Dichter abhanden gekommen“, meint der Kommentar in der Süddeutschen Zeitung. Und noch die Frankfurter Rundschau beteiligt sich an der Psychiatrisierung des Störers Handke, wenn sie ihn als einen bezeichnet, der aus seinem „Kommunionsanzug manisch herauswachsen wollte“ und nun „etwas Wahnhaftes“ an sich habe, zumindest etwas „Verstörtes, Schwermütiges“.

Die Psychiatrisierung des Dissidenten hat in diesem Zusammenhang offenkundig einen sehr speziellen Aspekt: der „postmoderne“ Krieg, so ein Subtext der Kriegserzählung, habe aus den ewigen Kindern von 68 erst Erwachsene gemacht, und wer diese Bewegung nicht mitmacht, kann nur ein wahnhaftes Kind sein, das sich dem Reich der Notwendigkeiten verweigert, wie der Kurzschluss von „Kommunionsanzug“ und „Manie“ zu belegen hat.

Man akzeptiert in diesem Stadium der moralischen Erzählung keinen noch so geringen Abstrich mehr; Milosevic, der Vertreiber, ist nicht nur ein Verbrecher, er ist der allein Schuldige (er muß so allein sein, damit wir uns nicht etwa als Rassisten ertappen, obwohl wir unentwegt von den Serben sprechen) – jeder kritische Rückblick muss nun untersagt werden (die Politiker ringen schon genug mit ihrer Bürde, sie tragen den Zweifel daran schon mit sich herum) und mehr noch: Nicht die Nato führt Krieg gegen ihn, sondern er führt Krieg gegen sein Volk. In besagtem Kommentar der Süddeutschen bekommen die Rollen ihre Namen: „der Vertreiber“ und „die Beschützer“, „die Mörder“ und „die Helfer“. Erinnern wir uns: Kriegsgegner in den Zeiten des modernen, nationalen Krieges wurden umgebracht. Ein moralischer Krieg kann seine Gegner nicht so einfach umbringen. Er muss sie moralisch vernichten.

Das kann man tun, indem man ihn selbst der Unmoral zeiht: Gysi, der Erfüllungsgehilfe des „Hitlers des Monats“, Milosevic. Daß man die Dinge, auch in schlechten Zeiten, einfach anders sehen könne, auf die Grundlagen von Recht, Demokratie und Aufklärung, kommt nun niemand mehr. Es gibt, anders als in einer Erzählung der Vernunft, in einer moralischen Erzählung nicht einmal ein Recht auf Irrtum, schon gar kein Recht auf Widerspruch.

Der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung antwortet auf die Frage, wie er zu Handkes Entschluß stehe: „Ich bin ja kein Psychiater“. Wir hören dies übrigens alles in der Woche, in der erschreckende Berichte von der eliminatorischen Psychiatrie in Russland die Runde machen und im Fernsehen gleich nach der Kosovo-Sondersendung zu sehen sind.

Es sind nicht nur in diesem Zusammenhang eben doch verhüllte Morddrohungen gegenüber dem, der die Erzählgemeinschaft verlassen hat. Sofort wird dies auch gesellschaftlich umgesetzt; Scharping wird auf dem Parteitag der SPD in München mit pazifistischen Sprechchören empfangen, und was geschieht? Die Polizei greift ein, und wieder ist Scharping erschrocken über die Gewalt und läßt ihr doch seinen Lauf. Schon wieder moralisiert er vor sich hin, und wir bekommen eine Ahnung davon, was passiert, wenn der kriegführende Staat die moralische Erzählung ebenso bedingungslos auch auf sich selbst anwendet. Der kriegführende Staat militarisiert sich seit jeher auch noch innen, er muß zwangsläufig zu einer bestimmten Form des Polizeistaates werden.

Auch daran scheinen wir uns zu gewöhnen, weil es wiederum in seiner postmodernen Form geschieht: die verbale und materielle Gewalt gegen die Dissidenten ist nämlich nur die Kehrseite eines ebenso heftigen Populismus, die Drohung das andere eines permanenten Versuches, sich die Gunst der Mitte zu erkaufen.

Zumindest die deutsche Kriegserzählung hat ein weiteres Paradox zum Inhalt: Gerade die Führung eines nicht-nationalen und daher opferlosen Krieges (so wie der Krieg eine „humanitäre Aktion“ ist, ist das Opfer „ein tragischer Irrtum“) nach außen führt zum nationalen Konsens im Inneren; Generationen, Klassen, ja sogar die Geschlechter „vergessen“ ihre Widersprüche, indem sie, anders als im modernen und nationalen Krieg, der neuen Mitte nicht ihr Leben, sondern nur ihre Überzeugungen opfern.

Die Konstruktion dieses „Wir“, zu dem die einen gehören und die anderen nicht, erklärt vielleicht am besten, warum trotz der Erfahrung einer hoffnungslosen Absurdität und einer Abwesenheit des positiven Kriegsziels eine gewisse Behaglichkeit, ja Wärme sich um die Kriegsbilder ausbreitet, die Spendenaktionen so viel Zustimmung erfahren, sich die Prominenz so sehr danach reißt, in Zusammenhang mit diesem Krieg zu stehen – und nicht etwas „außerhalb“ zu bleiben – und in den Talkshows mittlerweile ein Pflicht-Teilnehmer eingeladen wird, der über die Desaster des Krieges zu sprechen hat, bevor die anderen nach dem Betroffenheitsnicken wieder ihre neuesten Serien, Filme, Bücher und CD verkaufen dürfen.

8. Die religiöse Lösung. Was geschah mit dem Piloten, der mit seiner Maschine über Serbien abgestürzt ist? Er weiß es selber nicht genau, sagt er im Interview: „Gott nahm meine Hände und zog für mich“ – nämlich die Reißleine des Fallschirms. Und was gab ihm die Zuversicht? Eine US-Flagge unter dem Overall: „Sie symbolisierte für mich alle Menschen, von denen ich wußte, daß sie für mich beten.“ Jeder aufrechte Kabarettist hätte dies aus seinem Programm gestrichen, weil er nicht in Verdacht geraten wollte, die allerfurchtbarsten Klischees über unsere transatlantischen Verbündeten zu bedienen. Nichts da: Ebenso wurde es im Interview gesagt und gerührt verbreitet. Und nach ihrer Freilassung versprachen die drei amerikanischen Soldaten, für ihre Bewacher zu beten.

Und in jeder Kriegserzählung gibt es die gleichen Techniken der Verblendung: Gibt es Aspekte im Bild des Feindes, die zu seiner Produktion nicht passen, so werden sie zum Beweis für die besondere Perfidie bei der Verstellung und bei der Propaganda des Feindes. Scharping, der genau weiß, dass der Nato-Einsatz nicht mit dem Völkerrecht zu decken ist, beschreibt den serbischen Grenzübertritt nach Albanien als „Bruch des Völkerrechtes“. Diese rhetorische Veranstaltung ist gewiß gerade darauf abgezielt, zu verbergen, daß es um ein anderes Kriegsziel geht, nämlich um die Ersetzung des Völkerrechtes durch das Menschenrecht, das nun seinerseits durch das definiert wird, was Schröder „zivilisatorisches Modell Europas“ nennt.

Mit anderen Worten: Es wird über kurz oder lang keine „inneren Angelegenheiten“ geben, und so recht das Führungstrio damit haben mag, dass Deutschland keine „direkten nationalen Interessen“ im Kosovo hat (weder wollen wir ihr Land noch ihre Rohstoffe), so sehr heißt das nur: Die Interessen, die in den Kriegen der Zukunft verwirklicht werden, sind einerseits nicht mehr „national“ und andererseits „indirekt national“. Es geht darum, eben nicht als historischen Prozess das Völkerrecht durch das Menschenrecht zu ersetzen, wofür es durchaus Argumente geben mag und was einen Diskurs darüber verlangte, wer denn nun über dieses Menschenrecht zu bestimmen hätte, sondern im Gegenteil die Unterschiede zwischen beidem zu vernebeln, einen Prozess zu leiten, der keine Begleitung hat.

Was sich in dieser Kriegserzählung bildet, ist nicht weniger als eine neue politische Philosophie, die sich freilich nicht mehr in Ideen, sondern in Bildern formuliert. Die Medien machen nun nicht mehr einfach Propaganda, sie sind die neue Form des politischen Denkens.

Dies ist im übrigen nichts anderes als die außenpolitische Wendung dessen, was in der Politik im Inneren ständig vorbereitet war: die Ersetzung des Rechtsstaatlichen und Diskursiven durch den moralischen Rigorismus; wo Rechtsstaatlichkeit als „Täterschutz“ diskriminiert wurde, von den politisch Korrekten ausgerechnet nach dem Staat für die Einhaltung der moralischen Standards ˆ la PorNo gerufen wurde, ist nun auch dieser Krieg sozusagen bewusst anti-diskursiv erzählt, weil man nicht zusehen kann, nicht: weil man eine Vorstellung hat. So wie das Medium die Wirklichkeit frisst, so frisst das Mittel den Zweck. Und was der Terror der Offensichtlichkeit verbietet, ist das Erzählen in die Vergangenheit und in die Zukunft hinein.

Die Konstruktion des neuen „gerechten Krieges“ lässt nur eine Erzählung in der Gegenwart zu. Das Melodramatische verlangt nach einer Moral ohne Bewusstsein. Eine Gesellschaft aber, die nicht mehr in Ideen, sondern nur noch in Bildern denkt, kommt gleichsam automatisch immer zu spät; sie verurteilt sich dazu, an die Stelle von Projekten bedingte Reflexe zu setzen.

Epilog

Was bedeuten die Paradigmenwechsel in der Kriegserzählung? Waren die ursprünglichen Kriege – so wir sie uns vorstellen können – ausschließlich materiell und topographisch bestimmt, so der klassische Krieg in seiner Erzählung religiös. Es ging darum, neben dem Fürsten auch dem eigenen Gott zu größerem Reich zu verhelfen. Der moderne Krieg dagegen wurde national erklärt, und in seinem Zentrum liegt das Selbstopfer fürs „liebe Vaterland“.

Das Nationale ist kein Kriegsgrund für den postmodernen Krieg mehr, im Gegenteil, er wird offenkundig gegen den „verrückten Nationalisten“ geführt. Er zerfällt in einen höchst kommerziellen Bereich (im Raum des Vagen) und in einen moralischen Bereich (im Raum der tautologischen Offensichtlichkeit). Beides ist nun das Schrecklichste: das Territoriale und das „Selbstopfer“. In der Idee, ausschließlich militärische Ziele zu bombardieren und zivile Opfer als Versehen zu bedauern, ist nicht zuletzt die Angst vor dem Selbstopfer verborgen, das um alles in der Welt vermieden werden muss.

Das neue Kleinbürgertum, der wichtigste Protagonist in dieser Kriegserzählung hierzulande, versucht nichts anderes als die Verknüpfung einer missionarischen Moral mit einer gelegentlich durchaus manischen Selbstfürsorge; das oberste Gebot ist die eigene Gesundheit. Wie also führen Menschen Krieg, die einerseits von der Welt verlangen, sich als moralisch eindeutiges Melodrama zu offenbaren, und die andererseits vor allem von der Angst um sich selbst bestimmt sind?

Im Kosovo werden ganz und gar unterschiedliche Kriege zur gleichen Zeit geführt, die sich gegenseitig nicht verstehen, die sich manchmal nicht einmal berühren. Es ist der erste wahrhaft postmoderne Krieg, und seine Erzählung schafft nicht mehr Geschichte, schon gar nicht Bewusstsein von Geschichte, sondern hebt im Gegenteil das Geschichtliche als Dimension selber auf. Er wird in den unterschiedlichsten Zeiten gleichzeitig „geführt“, und will, hierzulande, nur als bildhafte, melodramatische Gegenwärtigkeit verstanden werden.

Menschen leiden und sterben in Erzählungen, die nicht die ihren sind, und in Bildern, die ihnen schon vorher enteignet waren.

Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in jungle world Nr. 20, 05/1999