Warum die Übergriffe des Frankfurter Polizeichefs in der öffentlichen Erzählung plötzlich akzeptabel wurden.
Es ist schon schwer genug, den Kosmos zu verstehen, chinesische Philosophen des 16. Jahrhunderts oder die letzten Verwerfungen der Chaos-Theorien. Gänzlich unmöglich aber ist es, zu verstehen, was die jeweils eigene Gesellschaft im Inneren zusammenhält. Denn hier treten neben die Fragen: Was kann ich wissen? Was darf ich wissen? Und: Was will ich wissen? noch die Fragen: Was kann ich wissen dürfen wollen?
und: Was darf ich keinesfalls von meiner eigenen Gesellschaft wissen, um nicht automatisch nicht mehr zu ihren Mitgliedern zu gehören. Selbst der mutigste Dissident glaubt zumindest an die Chance einer Wiedergeburt seiner Gesellschaft, an einen Keim des Besseren allemal. Mit anderen Worten: Er oder sie bewahren sich einen Rest der gütigen Blindheit. Gegenüber nichts und niemandem also ist man so blind wie gegenüber der eigenen Gesellschaft. Das ist die Voraussetzung von Diktaturen, Kriegen, Roland Koch und dem, was wir die »Unfähigkeit zu trauern« nennen.
Die Organisation des wechselseitigen Unwissens ist die Bedingung für die Synchronisation von Herrschaft und Alltag. Demokratie ist vielleicht das menschenfreundlichste, was bislang in dieser Hinsicht erfunden worden ist (auch wenn wir schon lange nicht mehr an ihrer Verbesserung arbeiten, sondern allenfalls an der Verlangsamung ihres Abbaus); als Organisationsform des Unwissens funktioniert sie immer noch und besser denn je, vielleicht weil sie das Perfekte mit dem Prekären auf so scheinhaft dynamische Weise verbindet. Zwischen Macht und Alltag wird nicht mehr in Form von Texten, sondern in Form von Bildern, von »stories« verhandelt. Selbst von unserer eigenen Geschichte erfahren wir nur noch, was eine Geschichte geworden ist. Bilder und Erzählungen ersetzen Begriff und Text, weshalb Stimmungen bedeutender werden als Gesetze. Freilich kann man es auch übertreiben.
Dann, zum Beispiel, sind die Transmissionsmittel zwischen Herrschaft und Alltag, die Fiktions- und Bildermaschinen, die Sinnstifter und Gefühlssimulatoren, Fernsehen oder Religion, dazu gezwungen, nur noch Blödsinn zu verbreiten (Dieter Bohlen ist das Sinnbild vollkommener Inhaltsleere der Kommunikation zwischen Macht und Alltag), oder aber, in den Feuilletons zum Beispiel, die eigene Ratlosigkeit zum Thema zu machen, vielleicht in dem Augenblick, in dem die Überbringer der Botschaften bemerken, dass das, was sie unverschämterweise für eine Meinung halten, in Wahrheit nichts anderes als die Erfüllung eines Auftrags ist. Nein, Quatsch: Sie merken, dass man es merkt.
Allenfalls über den Grad an Heuchelei mag man sich in unserer Gesellschaft noch gelegentlich wundern. Und über den Grad an Komplizenschaft, mit dem die Medien Informationen als Diskurse verkleiden, die in Wahrheit zu nichts anderem als zu »pädagogischen« Metaphern, zu bildhaften Erziehungsmaßnahmen des Volkes, oder wie man die, nun ja, Masse der Objekte von nicht so klaren Herrschaftsinteressen jetzt eben nennen möchte. Fernsehzuschauer, Bild-Leser, ein paar Vornehmere darunter Leser von bürgerlichen Zeitungen, die die Reste politischer Kritik ins Feuilleton verbannen. Das gemeinsame Projekt ist sehr einfach: Ein jeweils aktuelles Geschehen wird auf einen Vorrat von bereits vorhandenen und bewährten, »sinnvollen« Bildern projiziert. Der Tod eines Soldaten in den Armen eines Kameraden hat die Form einer Pietá. Ein Terroranschlag wiederholt das Bild eines Katastrophenfilms (der wiederum das Bild einer biblischen Plage wiederholt). Eine öffentliche Debatte über die Verhörmethoden der Polizei interferiert mit Bildergeschichten aus Fernsehkrimis. Pierre Bordieu nennt so etwas »Ideogramme«.
Der Rechtsstaat ist einerseits eine gute Idee, von der die Mehrheit der Menschen in unserer Gesellschaft allerdings keine allzu strenge Praxis verlangt, und andererseits ist der Rechtsstaat ein trefflicher Vorwand für das Wirken von Bürokratie. Der Rechtsstaat sichert zunächst einmal einen zivilisatorischen und humanen Minimalkonsens. Also ist zum Beispiel die Folter zur Erzwingung von Aussagen – theoretisch oder sagen wir: als Text und Idee – verboten. Weil das offensichtlich nicht selbstverständlich ist, brauchen wir einen Rechtsstaat. Aber natürlich wissen wir im gleichen Moment: Wenn der Verzicht auf Folter nicht selbstverständlich ist, wird auch der Rechtsstaat die Folter nicht verhindern. Das Recht dazu wird anders als in einer Diktatur weder durch den absoluten Anspruch der Macht noch durch eine abstrakte Herrschaftsidee geschaffen, sondern durch die Story. Daher kann es uns nicht verwundern, dass die aktuelle Debatte um die Folter in der Form eines Kriminaldramas und ausgesprochen bilderfreundlich vonstatten geht.
Wenn sich da als Seitenstück so etwas wie eine moralische Fragestellung entwickelt, kann man gerade einmal über das Maß an sich selbst erfüllender Sprachregelung, ja über Sprach- und Code-Erfindung stolpern (ohne sich aus der Falle befreien zu können, die die Story erzeugt). Man könnte vielleicht meinen: Die Mediendebatte um einen Ausnahmefall (den wir im Einzelnen gern juristischer Klärung überlassen und der ausdrücklich in den dazu produzierten Bilderstorys ausgeblendet wird), sei Ausdruck einer strukturellen Krise von Rechtsstaat und Zivilisation. Ebenso gut könnte man wohl auch sagen: Das mediale Rauschen selber ist Teil der Niederlage von Rechtsstaat und Zivilisation. Ein Grummeln, das auf die Konsensproduktion von Bildern und Worten hinausläuft. Krieg heißt jetzt zumindest in jedem zweiten Satz »Waffengang«. Das Synonym für Neoliberalismus lautet: »in Zeiten knapper Kassen«. Und wir suchen gerade nach einem neuen Wort für Folter. Geschichte und Bilder haben wir schon. Das ist, was die guten Polizisten im Fernsehen zumindest androhen, wenn es darum geht, unschuldige Menschen vor wahren Schurken zu bewahren.
Weil es die Folter im Fernsehkrimi nur als emotionalen Ausbruch des guten Polizisten à la Schimanski oder als melodramatische Zuspitzung gibt, wissen wir erstens: Die Folter durch den guten Polizisten ist eine Ausnahme. (Auch wenn wir mehr oder weniger jeden Tag im Fernsehen eine solche Ausnahme sehen. Die Ausnahme wird deswegen eben nicht zur Regel, sondern zur blinden Selbstverständlichkeit.) Zweitens: Der gute Polizist foltert nur in Situationen, die wir nur zu gut verstehen. Da würden wir auch, ja vielleicht sogar ein bisschen mehr. Drittens: Der gute Polizist hat einen guten Freund, der allerdings ein bisschen langweiliger und manchmal auch doof und bürokratisch ist. Auf den kann er sich insofern verlassen, als er im letzten Moment den guten Polizisten daran hindert, einen Schurken zu Tode zu foltern oder, schlimmer, seine Dienstmarke zu gefährden.
Das Ideogramm der guten Folter ist frei flottierend in den allgemeinen Bilder- und Sinnmaschinen. Es sucht den Augenblick der Praxis, so wie die Ideogramme des Krieges nach ihrer praktischen Verwirklichung suchen. Der Diskurs, den wir nun anhand eines unleugbar »tatsächlichen« Falles öffentlich führen, ist nichts anderes als die politische Aktualisierung des alltäglichen Mediendiskurses vom guten Folterpolizisten. Im Feuilleton dürfen wir, anders als am Boulevard, die Rolle des guten Freundes des guten Folterpolizisten spielen: Wir verstehen das ja so gut, dass ein Polizist, um ein Menschenleben zu retten, bereit ist, die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit zu überschreiten. Aber trotzdem müssen wir auf unseren Freund und Helfer ein bisschen aufpassen. Er hat sich hinreißen lassen. Wir müssen Verständnis und Tadel in eine dezente gemeinsame Form bringen. Die Metapher zugleich verstehen und nicht verstehen: Der Frankfurter Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner hat durch seine Entscheidung, dem geständigen Magnus G. körperliche Schmerzen androhen und nötigenfalls zufügen zu lassen, den Widerspruch zwischen dem Moralischen und dem Juristischen so treffsicher aufgerissen, dass wir wissen sollen: Das eine ist nicht Ausdruck des anderen. Es zu synchronisieren, muss das eine oder das andere geändert werden, oder es müssen Strategien entwickelt werden, mit der Ungleichung von Moral und Justiz umzugehen. Bei näherem Hinsehen freilich stimmt weder das eine noch das andere. Die Entscheidung zur Folter ist nicht im einen Diskurs richtig und im anderen falsch (also Keim der Tragödie), sondern in beiden falsch oder richtig (also melodramatisch). Durch seine Entscheidung zur Offenheit und zur Dokumentation hat Wolfgang Daschner seine Haltung in beiden Diskursen weniger seinem eigenen Apparat als vielmehr der Öffentlichkeit zur Entscheidung überantwortet.
Seine Kollegen fallen Daschner ins Wort. Die Konstruktion der Ausnahme ist eine Lüge; oder nein: die Ausnahme dieses Falles liegt in der Konstruktion seiner Veröffentlichung. Tatsächlich ist ja in unserer Diskussion viel mehr vom »Tabu« als vom »Recht« die Rede. Tabus zu brechen, ist nämlich irgendwie fortschrittlich (wenn auch gelegentlich etwas übermäßig heftig). Im Neoliberalismus darf nichts tabu sein, das ist sein innerer Kern, jedenfalls nichts, was Rechte von Menschen und was Gesellschaftsverträge und Gesetzestexte anbelangt, die den Alltag vor der Macht schützen sollten. Der Tabubruch, erst im Fernsehen dann in der Politik, ist zur neuen Sprache zwischen Macht und Alltag geworden. Die Verfallszeit des Ideogramms wird absurd; es ist schon Programm, bevor es seine dramatische Wirkung entfaltet hat. Das einzige große gesellschaftliche Projekt der westlichen Industriestaaten, die Umverteilung des Reichtums von unten nach oben, kommt ohne das Instrument der Folter gar nicht aus. Denn dieses Projekt produziert den zumindest scheinbar vollkommen irrationalen Feind im Inneren wie im Äußeren: den internationalen Terroristen und den durchgeknallten Verlierer, Amokläufer und Soziopathen im Inneren, dem weder innerhalb des Gesetzes begegnet werden kann, noch in einer Welt der zivilisierten Emotionen.
An jemandem wie dem Terroristen und dem Soziopathen (der die Gier der Gesellschaft nur heftig konzentriert und an die Stelle einer »Seele« setzt, die schließlich so wenig zu retten ist wie das Recht, wenn es um den Anteil am Reichtum geht) müssen die herkömmlichen Mittel des Rechtsstaates versagen. Daher werden die Ausnahmen für die inhaftierten Terroristen in Kuba auf den inneren Feind ausgedehnt. Neben der unzivilisatorischen Diffundierung der Gewalt (wenn der Feind sich nicht greifen lässt, müssen wir ihn neu konstruieren, wenn wir den Terroristen nicht schlagen können, dann zerstören wir etwas, was mit ihm topographisch und kulturell zusammenhängt) ist die Folter das einzige Mittel der neoliberalen Gesellschaft, auf die verbliebenen Bedrohungen zu reagieren. Nicht im Sinne eines offen terroristischen Regimes, in dem man die Folter gar »legitimiert«, sondern als eine vollständige gesellschaftliche Auflösung der Folter im Alltäglichen. Gefoltert werden darf in der richtigen Story und im richtigen Bild.
Es gibt neben den Ideogrammen der Folter die ideogrammatische Folter: Ihre Bildergeschichte erklärt sich gleichsam selbst. Deshalb ist die dramatische Diskussion des Ausnahmefalles, demgegenüber wahrlich schwer zu argumentieren ist, so logisch konsequent, wie in der moralischen Falle einer Abwägung der menschlichen Ziele, Leben zu retten und Rechte zu wahren, die Gewissheit schnell aufgeweicht ist. Erstens erkennen wir rasch, dass die Auflösung des Tabus schon längst auch theoretisch in Gang gesetzt ist (Politiker und Rechtsgelehrte haben seit mehr als zehn Jahren immer wieder die Konstruktionen der Ausnahmen vom Folterverbot diskutiert, nur hatten wir da nicht die richtigen Bilder, um sie in den medialen Alltag der Ideogramme zu heben), und zweitens melden sich ein paar mutige Polizisten zu Wort, die uns darüber informieren, dass Folter längst zur Praxis gehört. Warum tun sie das? Jeder »Tatort« gibt uns eine Antwort. Das Ideogramm ist weder Lüge noch Wahrheit. Es konstruiert neben Regel und Ausnahme ein Drittes. Das heißt: Die Ausnahme an diesem Ausnahmefall ist nicht der Fall, sondern seine Öffentlichkeit. Manchmal nämlich verhält es sich in der Beziehung zwischen Macht und Alltag so, dass nicht etwa auf eine Frage mit der Suche nach Antworten reagiert wird, sondern so, dass fertige Antworten nur noch auf eine richtige Formulierung der Frage warten. Diese Geschichte von der moralischen Dramatik in einem Fall ist vermutlich eine solche gefundene Frage für die vorgegebene Antwort, dass eine Gesellschaft, die so beschaffen ist wie die unsere, auf das Instrument der Folter weder verzichten kann noch will. Was benötigt wird, ist nur eine Form der öffentlichen Zustimmung. Die Debatte ist ein Test.
Der Fall ist sehr einfach. Um die letzte Chance zu nutzen, das Leben eines Menschen zu retten, hat ein ranghöherer Polizist angeordnet, das Gesetz zu übertreten, das in Deutschland weder manifeste Gewalt, die mit der Zufügung von Schmerzen zu genau diesem Zwecke einfasst, noch die Drohung damit zulässt. Entscheidend an der Sache ist wohl nicht, was da passiert ist, sondern dass es in den Dienstweg eingegangen ist, dass es in gewisser Weise Text geworden ist. Kein allgemeines Wegschauen und Einverstandensein (und irgendjemand, der die dreckige Arbeit dann auch im Dienst der guten Sache macht), keine Praxis, sondern ein geradezu grotesk akkurates Vorgehen, purer Anti-Schimanski: nicht emotionaler Overflow, sondern vorausschauende und verantwortungsbewusste Entscheidung, die gerade nicht verborgen bleiben will. Das Ideogramm der Folter wird verdeutscht.
Die Debatte um die individuelle Folter im »Revier« wird überdies absurder vor dem Hintergrund polizeilicher Praxis auf der Straße. Wo ist die Debatte, wenn es um die Verstöße gegen den Rechtsstaat bei den Einsätzen gegen die »Globalisierungsgegner« geht? Es wird keine Geschichte daraus. Das ist natürlich tückischer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Offensichtlich will es uns in Europa weniger als in den USA gelingen, die Straße und das Revier als gegenseitige Verlängerung zu sehen, durchlässig auch für das Ideogramm der guten Folter. In der Abstraktion des behördlichen Raumes und in der Textlichkeit eines einzelnen Falles, so scheint es, ist »Polizei« ein anderer Text und ein anderes Bild als in den Überfällen, Einkesselungen, Beschlagnahmungen, körperlichen und seelischen Verletzungen, die dem als politischen statt individuellen Gegner erkannten Menschen angetan wird, in einem System ständiger, geduldeter Verletzungen des Rechtsstaates. Man muss nur die jüngsten Vorgehensweisen der Polizei gegen Attac in München anschauen, um die Folterdebatte als Maskierung zu erkennen. Der Feind hat zwei Gesichter: Den Menschen, den der Polizist auf der Straße zusammenschlagen darf, den er einer situativen Folter unterziehen darf, darf er nicht weiter prügeln und weiter foltern, wenn er ihn in Gewahrsam genommen hat. Nicht nur die Praxis und der Text, nicht nur das Kollektiv und das Individuum, nicht nur das Recht und das Menschliche stehen da in einem Widerspruch, sondern auch die Innen- und die Außenwelt des nur teilweise aufgeklärten Gewaltmonopols. Nehmen wir das, was nun in unseren Medien verhandelt wird, also als Inszenierung. Das Ideogramm der verhandelbaren Folter (Folter, die weder gut noch böse ist, sondern in den Nebeln einer Ambiguität der moralischen Story verschwindet) gehört zu den Projekten der Auflösung der Text-Demokratien des alten Europa.
Der Widerspruch zwischen Menschenrechten und Völkerrecht hat zu einer neuen Form der Kriegsführung und zu neuen Bildern des Krieges geführt. Der Krieg wird weder im einen noch im anderen Kontext geführt (weder als Befreiungskrieg noch als Bündniskrieg), sondern gerade in der Spannung zwischen beidem. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Folter. Sie wird neu erfunden, weder als Legitimes noch als Vergehen. Sondern als Story. Im Feuilleton führen wir einen Abwehrkampf. Das ist vielleicht durchaus ehrenwert. In den meisten Fällen jedenfalls. Ändern tut es nichts.
Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in jungle world Nr. 11, 03/2003
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