1

„Metropolis“, sagte der blinder Bettler, „ist die glänzende Stadt im Mittelpunkt. Sie ist nicht die größte, aber die schönste, sie ist nicht die reichste, aber die lebendigste, sie ist nicht die stärkste, aber die seltsamste Stadt. Metropolis ist so seltsam, dass kein Feind sie einnehmen kann. Denn Metropolis verwandelt die Menschen. Kaum sind sie drinnen, wissen sie nicht mehr, wer Freund und wer Feind ist. In Metropolis kann jeder ein Feind und jeder ein Freund sein. Und genau so ist Metropolis gebaut: Für Menschen, die tagtäglich mit vielen anderen zu tun haben, von denen sie nicht wissen, ob sie Freund oder Feind sind“.

 

2

Metropolis ist die vertikale Stadt. Die Linie von Konflikt und Kreativität liegt nicht zwischen Drinnen und Draußen, sondern zwischen Oben und Unten. Das ist, auch wenn wir gerade dabei sind, es zu vergessen, ein Fortschritt.

 

3

Dass Drinnen/Draußen wieder so viel wichtiger scheint als Oben/Unten ist eines der Symptome für den Niedergang der Metropolen. (Oder verhält es sich gerade umgekehrt?). Die neuen sehr großen Städte jedenfalls haben, trotz ihrer ehrgeizigen Turmbauten keine wirkliche vertikale Struktur. Hoch hinaus scheinen da nicht die Häuser der Stadt zu wollen, sondern jene, die sich von der Stadt entfernen wollen. Dass man hoch hinaus will, scheint vor allem der Angstlust geschuldet, den horizontalen Konflikten zu entkommen. So entstehen Marshmallow-Metropolen, Metropolen, die viel mehr aus Luft und schlechtem Geschmack als aus Substanz bestehen. Man kann sie nicht bewohnen, sondern nur besetzen.

 

4

Denn Metropolis ist nicht nur Gebautes, sondern vor allem Verbundenes.

 

5

„Metropolis“, so fuhr der blinde Bettler fort, „lebt im Bewusstsein des eigenen Untergangs. Und vor allem lebt es im Bewusstsein des Untergangs der Welt ringsumher. Metropolis zieht Menschen an und stößt andere aus. Es geht um den Unterschied, versteht ihr? Alle Wirtschaft und alle Kultur in Metropolis besteht auf dem Unterschied. Die Konflikte sind vertikal, die Unterschiede horizontal. Was kostet das Leben in Metropolis und was kostet das Leben außerhalb? Wenn das Leben außerhalb von Metropolis genau so viel kostet wie innerhalb, dann ist Metropolis am Ende. Wenn aber das Leben in Metropolis hundert mal mehr kostet als außerhalb, dann ist Metropolis auch am Ende. Wir könnten, versteht ihr, statt der Stadt auch einfach den Unterschied Metropolis nennen. Einen Unterschied, der klingt, der riecht, der sich gut anfühlt…“ 

 

6

Metropolis ist die kreolische Kultur. Das ist nicht nur eine Kultur des a) Nebeneinander und b) Ineinander von verschiedenen Kulturen in einem Raum, sondern auch ein a) Nebeneinander und b) Ineinander verschiedener Zeiten. Hier ist man der Zeit voraus und dort weit hintendran. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist hier gleichsam abhängig und in gewisser Weise süchtig nach dem Medium, der „urbanen Legende“ und der „kreolischen Musik“ – beides rauschhafte Verbindungen des sehr Alten und des sehr Neuen.

 

7

„Aber nein“, wandte der blinde Bettler ein, „Metropolis ist kein Platz. Kein Raum. Ich nenne es: Topos.“

 

8

Reisend kann man erkennen, wie die Welt, in aller hektischen Bautätigkeit, entmetropolisiert wird. Vermutlich hat das sehr viel damit zu tun, dass und wie das Finanzkapital alle anderen Formen der Produktivität gefressen hat. Dieses Kapital braucht den Platz nicht mehr, und es braucht den Topos nicht mehr. Mehr als die Metropolen liebt es die Inseln.

 

9

Platon hat die Stadt als Unruhe bezeichnet. Sie ist nicht der Ort für die Unruhe, sie ist die Unruhe selbst. Die Metropole hat eine andere Geschichte als die Gesellschaft. Dauernd versuchen sie einander zu verstehen; dabei werden sie, wenn alles gut geht, aneinander klüger. Eine Stadt, die sein soll wie die Gesellschaft, kann keine Metropole sein.  

 

10

Die Stadt besteht dreimal: Als Projekt normativer Ansprüche, als Feld empirischer Erfahrung und als Quelle von Illusion und Alptraum. Wehe uns, wenn jemand der Meinung ist, man müsse diese drei Existenzen der Stadt miteinander übereinstimmen lassen. Und noch weher, wenn er oder sie gar die Macht dazu haben (oder es sich einbilden).

 

11

Also noch einmal: Die Geschichte der Stadt ist nicht die Geschichte der Gesellschaft. Abgesehen von den Vor- und Rückgriffen. Die Metropole ist zugleich der Ort der Umbrüche in einer Gesellschaft als auch der Ort, an dem sie unentwegt verhindert werden sollen. In die Stadt gelangt der Überschuss und der Mangel der Gesellschaft, niemand geht in die Stadt, weil alles in Ordnung ist, so wie es ist. Man geht, weil man vom einen zu viel und vom anderen zu wenig hat. Sieht man einmal davon ab, dass es auch die Vertreibung gibt. Die Metropole ist der Ort, an dem man schwer zu Hause sein kann, von dem man aber auch am schwersten vertrieben werden kann.

 

12

(Natürlich gibt es diese Leute, die in der Metropole zu Hause sind. Die Woody Allens und Lou Reeds unserer New York-Träume, die im großen Apfel beinahe so daheim sind wie Heidi im Dörfli, in der Straßengefahr so wie am Jägersteig. Die Stadt ist ihnen zur „Natur“ geworden. Aber solche romantischen Missverständnisse gehören zur Vielfalt. Ein Typus zwischen dem Bürger, der hier schon immer war, der Bodensatz der Metropole, ohne den hier nichts wurzelt und nichts gedeiht, und dem Neuankömmling, der die Unruhe bringt, ohne selber notwendig unruhig zu sein. Die vertikale Struktur in der Metropole macht die Unruhe ödipal: Jede Generation in der Metropole überwindet die biografische Gefangenschaft, indem sie Gesten der Neuankömmlinge übernimmt – möglicherweise auch fiktiver Neuankömmlinge.)

 

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Weiter geht es nicht. Von der Metropole kann man höchstens zurück. Solche Heimkehr ist problematisch. Meistens kehrt man aus der Metropole zurück um zu sterben, so oder so. Vom Land aus sieht sich dies Paradies gern als Endstation aus. If you can make it there, you can make it everywhere. Und wenn man es in der Metropole nicht schafft? Dann schafft man es nirgendwo.

 

14

„Metropolis“, meinte der blinde Bettler, „erkennt jedes Talent, jede Kraft. Denn Metropolis besteht vor allem aus Bühnen. Und aus Publikum. Das Leben ist ein Wandern der Menschen von Bühne zu Bühne. Der Rausch von Metropolis, das sind nicht nur die vielen Bühnen, das ist die Verbindung dieser Bühnen. Es gibt offene, halb offene und geheime Verbindungen. Und ebenso wie zwischen den Bühnen gibt es die Verbindungen zwischen den Zuschauern und jenen, die ihre Talente erproben. Oh nein, es sind nicht alles nur gute Talente. Und viele müssen erkennen, dass ihr Talent in nichts anderem besteht, als darin, Publikum zu sein“.

 

15

Es ist ein Kernfrage jeder Revolution, aber auch ihrer kleineren Brüder, der Revolten, ob sie sich in der Stadt oder auf dem Land vollziehen. (Das gilt selbst für solche Lappalien wie eine Mode-Revolution oder eine Revolution der Sitte, aber auch für bedeutsame Veränderungen der Sprache etwa.) Für Revolutionäre jeder Art ist Metropolis insofern ein tückischer Ort, als es selbst eine gleichsam institutionalisierte Revolution ist. An den Knotenpunkten ist in Metropolis jeder ein Revolutionär.

 

16

If you can make it there, you can make it everywhere. Nur: welchen Sinn sollte es noch haben, was man in der Metropole machen kann irgendwo anders zu machen? Der Lied-Satz, wir ahnen es, enthält alle Widersprüche, alles Illusionäre, alles Selbstreferentielle der Metropole. Metropolis ist ein Ort der endlosen Selbstbespiegelung. Er entsteht, indem es mehr Leute gibt, die an ihn glauben als solche, die es nicht tun. Es gibt New York, es gibt New York, das sich New Yorker einbilden, und es gibt New York, das sich Nicht-New-Yorker einbilden.

 

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„Ich gebe es zu“, sagte der blinde Bettler, „ich habe Metropolis nie gesehen.“

 

18

Die Metropole beruhigt die Gesellschaft (durch ihre zentrale Stellung, ihre Leuchtkraft, ihre Betriebsamkeit) indem sie selber unruhig ist (und umgekehrt):  Eine langweilige Stadt (oder auch nur eine saubere, eine ordentliche, eine zufrieden) wirkt sich für den Rest der Gesellschaft als verheerend aus. Aber andererseits kann auch der endlose Zerfall nicht für sich sprechen (Metropolis als Ruinenstadt ist wiederum eine rein romantische Vorstellung), so ist auch die ewige Baustelle und sogar jene Hausmannisierung, die über eine Stadt wie ein umgekehrtes Beben kommt, notwendiger Bestandteil. Die Vernichtung alter Viertel, wie sie schmerzt! Immer scheint da die tödliche Ordnung, das Interesse des Kapitals (das, wie gesagt, nicht metropol sondern global „empfindet“) wirkliches Leben, wirkliche Kultur zu zerstören. Früher war alles besser. Wäre eine Metropole vorstellbar ohne diesen Gedanken? Die Metropole, zurück zu Allen und Reed, zu Auster und Spiegelman, will ja immer „Natur“ werden; metropol sieht man seine Stadt, einerseits, wie eine dramatische Landschaft, jedes Element des Bildes ist zugleich unwiderlegbar real und unwiderlegbar zeichenhaft. In der Metropole lebt man in einer Welt der Bedeutungen. Die Straße mag ein Dschungel sein (oder eine Steppe); man muss sie lesen. Die Stadt ist Literatur, und die Metropole ein Epos.

 

19

Zur Meta-Urbanität der Metropole gehört, dass es alles, von den Sprachen über die Bauten bis zu den Zeichen, dreimal gibt: für sich, einander gegenüber und ineinander. So gibt es in der Metropole nicht nur die Kultur, die sich aus Kultur A und Kultur B „kreolisiert“ hat, sondern nebenbei auch eine Kultur A und eine Kultur B, die sich gegeneinander wenden (schmerzhaft, böse, hier und da), ja seltsamerweise kann eine „ländliche“ Kultur A in der Metropole noch viel ländlicher oder noch viel A-hafter werden, als sie es ursprünglich war. Der talentierte Mensch in der Metropole lebt in mehreren Kulturen gleichzeitig. (Und er droht dabei immer, verrückt zu werden. Metropolis ist eine Stadt der Neurotiker. Das gesunde Land bevorzugt die Psychose.)

 

20

Du beginnst in einer Metropole zu leben, wenn du erkennst, dass sie nichts als ein Bild ist, das du dir von ihr gemacht hast. Besteht sie also ohnehin nur aus Bildern? Beziehungsweise aus lauter staunenden Leuten davor? (Und der Rest wäre normales Leben wie überall anders auch.) Nein gewiss nicht, es gibt die Orte, an denen die Bilder von Metropolis entstehen. Aber es gibt sie nicht in dem Sinn wie man sie bezeichnen kann. Eine Metropole muss unentwegt gemapt werden, weil es keine „gültige“ map gibt (außer für Touristen).

 

21

Dennoch gibt es ein Maß der Balance, das überschritten ist, wo die Stadt zugleich „die Stadt der Zukunft“ umfasst und den Slum, der der dritten Welt angehört. Metropolis zerreißt, und das metropole Empfinden dann so nomadisch, dass metropol nur noch das Gepäck ist, mit dem man in der Mega-City unterwegs ist. Die Megacity, das ist ökonomisch der Sieg der Stadt über das Land, kulturell aber ist es der Sieg des Landes über die Stadt. Die Metropole hat den Dorfplatz zwar gefressen.

 

22

Unser Problem ist: Egal wie alt sie ist, die Stadt ist immer ein Zeichen der Moderne, relativ (als Zeichen der Modernisierung und als Zeichen des zivilisatorischen Status davon) und absolut (als Glauben und Investition in die Zukunft). Nun scheinen wir uns aber im Übergang von der Moderne zu etwas zu sein, für das es naturgemäß noch keinen Namen gibt. Geht es zurück? Oder anderswohin? Die Postmoderne als Übergang gibt keine Auskunft darüber, wie weit wir dabei schon gediehen sind. Die postmoderne Stadt war nur über ihre allfällige Brechung und Ironisierung zu verstehen; all das, was wir von der Stadt verlangten, war in unernstem Übermaß vorhanden (die Stadt karnevalisierte sich und verstand sich nur noch in ihrem Karneval). Metropolis postmodern inszenierte sich, und dabei verschwanden die Bilder.

 

23

Wir sprachen von den Punkten, an denen die Bilder der Metropole erzeugt werden – auch wenn wir ihrer nur selten und meistens hinterher gewahr werden (was die Stadt ausmachte wird sichtbar immer durch das Verschwinden).

 

24

Das „globale Dorf“ macht die urbanen Kommunikationsformen ebenso wenig überflüssig wie die Stadt, weil die Welt durch Flug- und andere Verkehrsnetze enger wurde, von der Notwendigkeit des „Flanierens“ und des Zu-Fuß-Gehens überhaupt enthoben wurde. Jeder Ort in der Stadt, an dem man wieder zu Fuß geht, erscheint uns als ein Wiedererstehen verlorener Städtischkeit. Das ist unsere Form der Nostalgie. Aber ach! Wir wollten die Stadt wiederhaben und bekamen „Fußgängerzonen“. Das ist die Zone, in der die Provinz schon beinahe endgültig über die Metropole gesiegt hat.

 

25

Die Metropole muss die Probleme selber schaffen, die sie zu lösen hat und produziert eben dabei ihren kulturellen Mehrwert.

 

26

„In Metropolis“, erzählte der blinde Bettler weiter, „wird viel erzählt. Deshalb braucht man dort Leute wie mich.“

 

27

Zur Vertrautheit in der Stadt gehört das Unheimliche. Wir sind verliebt in die Unheimlichkeit alter Städte. Wo nichts Unheimliches ist, da ist auch keine Stadt. In den Backwoods dagegen lauert das Grauen. 

 

28

Die Stadt ist der Ort, an dem Unbekannte miteinander leben müssen. Die Stadt ist der Ort, an dem Unbekannte miteinander leben können. Die Zwischenform, Suburbia, verbindet die kulturelle Enge mit der Anonymität. Früher oder später muss man sich hier entscheiden. In die Stadt gehen oder aufs Land. Es sind die unermesslich wachsenden Städte, die endlose Suburbias gedeihen lassen solange es noch einen ökonomisch gesunden Mittelstand gibt. In Metropolis dagegen wohnten arm und reich nahe aneinander (wenn auch mit ein paar Pistolen dazwischen). Suburbia hat Metropolis indes zugleich stabilisiert und ruiniert. Was geschieht eigentlich, wenn die Mittelklasse in den Wirtschaftskrisen unserer Tage ganz einfach ausstirbt, und mit ihr der Suburbia-Gürtel, der die Stadt und das Land voneinander trennt (wobei jede Seite glaubt, auf der anderen Seite befinde sich nichts anderes als „Wildnis“)?

 

29

„Metropolis“, sagte der blinde Bettler, „hat die Wildnis zugleich in sich und außer sich. Wie das Paradies. Oder die Hölle. Wie man es nimmt. Hier hat man die wilden Tiere ausgesperrt, damit man Menschen haben kann, die wie wilde Tiere sind.“

 

30

In der Metropole ist das Sehen entweder ein unentwegtes Suchen oder aber ein überflüssiges Staunen.

 

31

Das Verschwinden der Stadt findet gleichsam in sich selbst statt. Das meint nicht nur, dass die Stadt der Zukunft der Ort ist, an dem die Stadt der Gegenwart verschwunden ist. Es meint auch, dass die Orte der urbanen Vergewisserung verschwinden (oder sich auf bloße Quantität reduzieren): das große Kaufhaus, die lebhafte Piazza, das nach dem Inneren der Stadt offene kulturelle Event der Theater und Kinos, die Restaurants mit unverwechselbarem Flair etc.. Durch die Kettengeschäfte und die Gleichförmigkeit des Angebots beschleunigt und bereichert sich nicht nur die Provinz, es provinzialisiert sich auch die Metropole. Sie verkleinstädtert, zerfällt in Kleinstädte (wie sie früher drohte, in „Dörfer“ zu zerfallen), sie hat außer ihrer Illusion nichts mehr zu bieten; ihre Attraktion ist längst nicht mehr Text, sondern nur noch Subtext, schlimmer aber noch: Statt gesteigerter Erregung nur noch gesteigerte Bequemlichkeit).

 

32

Je mehr die Metropole verschwindet, desto mehr träumen wir sie. (In den neuen Städten „spielen“ die Architekturen Metropole mehr denn sie es sind.)

 

33

Man hat damit begonnen, in der Metropole nach den Plätzen der Leere zu suchen, also nach den Orten, an denen etwas Ungeplantes und Unordentliches geschehen kann. Nun fehlt aber dafür nicht nur der Ort, sondern auch die Sprache. (Der Platz der Leere wird, wenn überhaupt, mit konventioneller Betätigung gefüllt – mehr als Skateboardfahren findet auf dem Platz, der sich der Unheimlichkeit öffnete, nicht statt, sieht man davon ab, dass er als Endstation für jede Art von „Trash“ dient – oder, vor allem, für Markenzeichen. Reclaiming the Streets, Flash Mobs, Appropriation Art – all dies sind eher defensive Versuche, Urbanität zu retten. Aber, das macht sie schön: Sie machen bewusst, was schon verloren ist. Oder sie greifen dem vor, was möglich ist, wenn die Metropole nicht mehr Geschichte sondern Spiel ist. Eine virtual reality zu etwas, das möglicherweise, wie die Liebe, wie die Religion, wie das Wissenwollen, dem Menschen eingeschrieben ist: Urbanität.

 

34

Die Metropole ist der Ort, an dem Urbanität eingefordert werden darf. Urbanität steht nicht immer gleich hoch im Kurs. Sie kann nur aus dem Gebauten und dem Gefüllten entstehen, und muss sich dann noch gegen die eigene Enthropie mit Frischheit versorgen. Urbanität muss nicht nur immer nachgefragt und erzeugt werden, sie muss von immer neuen Menschen mit immer neuen Phantasien immer neu erfüllt werden. Urbanität herzustellen ist ungefähr 457 mal so schwierig wie sie zu zerstören.

 

35

Es ist der Ort, wo man hin muss, hier nur kann man sich „emanzipieren“ (und dann muss man, weiß der Himmel warum, auch wieder zurück, zu den „Wurzeln“, zum Land, aber in Wahrheit in die Provinz, die Geborgenheit der Unfreiheit). Jenseits der Metropole gibt es keine Freiheit. Entweder weil sie nicht gefehlt hat, oder weil sie nicht zu haben ist.

 

36

Die Welt verstädtert, aber sie urbanisiert sich nicht. Und wo sie sich urbanisiert, scheut sie noch vor der Metropole zurück.

 

37

Der Großstädter ist denn auch ein Held von besonderer Ambivalenz. Wenn wir ihn lieben, muss er wenigstens ein „Neurotiker“ sein.

 

38

Metropolis ist ein System der mehr oder minder kontrollierten „Freigaben“.

 

39

Aber wir werden das nicht los: Die Stadt ist aus dem Handel geboren (Schon vor der Erfindung des Geldes, sagen die Ethnologen, weit vor der Erfindung des Kapitals aber immer durch Tausch). Wie sieht eine Stadt ohne Kapitalismus aus? Wie Stalins Moskau? – Interessante Gegenfrage: Wie sieht der Kapitalismus ohne Stadt aus? Aha!

 

40

Stadt und Kapitalismus entfächern sich. Weil die Gewinner verschwinden (am liebsten auf „Inseln“, mögen es reale sein oder „Steuerinseln“) verliert die Stadt zunehmend ihre vertikale Struktur. Der Reichtum wird ihr entzogen, während die Armut in sie hinein gepumpt wird. Die Kinos sind keine Paläste mehr sondern Bunker, die Kaufhäuser sind keine Tempel mehr sondern Fabriken. Auf den Boulevards gibt es nichts mehr zu sehen. So klagen wir es in die Mobiltelefone.

 

41

Und so modernisierte sich, ein Jahrhundert zuvor, Metropolis durch den Fahrstuhl: Das Paradies der Belle Etage verlagerte sich nach oben. Das Penthouse ist nun der Ort, den es zu erreichen gilt. Aber die Metapher bleibt (wie wir sie aus „Hudsucker Proxy“ kennen): Man arbeitet sich in der vertikalen Struktur eines Hochhauses nur vom Keller in die oberen Etagen hoch, um sich am Ende von oben aus dem Fenster zu stürzen. Die Geschichte des Fahrstuhls geht seinem Ende entgegen. Er ist so selbstverständlich, dass wir die Sensationen der vertikalen Bewegung weder genießen noch fürchten. Das ist das Ende des metropolen Empfindens: Dass das, was sich cool gibt, in Wahrheit langweilig ist.

 

42

Es war einst die „Mutterstadt“, was nun die „Weltstadt“ ist; die erste verhält sich zur „Kolonie“ wie die zweite zur „Peripherie“. So verlagert sich die Tendenz auf die Funktion als Finanzmetropole, Kunstmetropole oder Metropole der Schmelzstoffindustrie. Das Metropolische ist also gleichsam dezentralisiert. Das Geld, die Kultur, das Wissen und die Moden – sie suchen sich nicht mehr gegenseitig. Ach was, sie gehen sich aus dem Weg (für die notwendigen Austausch-Vorgänge von Meinungen und Geld haben wir das Internet).

 

43

Jenseits von 10 Millionen Einwohnern wird aus der Metropole nach allgemeiner Definition die Megastadt, aber der Verlust des Metropolischen beginnt offensichtlich schon viel früher. Eine Metropole darf nicht schneller wachsen als ihre Phantasie.

 

44

Im Gegensatz zu einer „Agglomeration“, die sich aus dem Austausch zwischen einer „Kernstadt“ und ihren suburbanen Ringen ergibt, ist die „Metropolregion“ eine Stadt (oder es sind sogar mehrere Städte), deren Ausstrahlung die ein gesamtes „Umland“ mit urbanem Leben und urbaner Phantasie erfüllt. Die Metropolregion vereinigt mehrere Formen der Produktivität in sich.

 

45

Die erweiterte ist also auch eine aufgelöste Metropole. Kulturelle Metropolen haben daher bessere Aussichten, sich zu erhalten und zu erneuern, wenn sie, wie Manhattan, ein Eiland darstellen, wenn sie wenigstens eine Meerlage, eine Flussgrenze oder etwas anderes „Natürliches“ haben, was sie bestimmt. Möglicherweise sind auch „sieben Hügel“ nicht schlecht. Berlin zeigte, wie man eine solche Insellage auch politisch erzeugen konnte. Mit der Mauer fiel auch die Stadt, meint ein Graffito.

 

46

„Metropolis“, sagte der blinde Bettler, „ist weder in der Natur noch gegen sie errichtet. Metropolis liegt auf ihr, wie ein Kind auf seiner Mutter.“

 

47

Dauernd versucht die verlassene Provinz die Metropole zurück zu erobern. Meistens gelingt es ihr.

 

48

Schwerer wiegt der Verlust eines metropolen Lebensgefühls. In dem wir sehr genau zu sagen wüssten, was gewonnen und was verloren gegeben werden muss. Denn wenn es auch schön klingt, „das architektonische Konzipieren von urbanem Nomadismus“ (wie es in „Texte zur Kunst“ heißt), so nutzt ein Konzipieren nichts, wo der urbane Nomadismus sich auf der einen Seite aus Elend und Langeweile, und auf der anderen Seite von Fiktion und Inszenierung gebildet sieht (mal ganz abgesehen davon, dass man am „Konzipieren“ für den „Nomadismus“ einen Widerspruch in sich finden kann).

 

49

Wir wissen nicht, ob die Metropole tot ist. Und während uns das klar wird, sind wir auch nicht mehr ganz sicher, ob es sie überhaupt je gegeben hat.

 

50

„Wenn ich sage“, sagte der blinde Bettler, „ich habe Metropolis gesehen, dann meine ich damit: Ich war nie dort. Ich warte auf jemanden, der mich an den Ort führt, von dem ich euch so viel erzählt habe.“

 

Autor: Georg Seeßlen

Text gesschrieben Mai 2009

Text: veröffentlicht in build, Das Architekten-Magazin 03/09, „Metropol“