Fantasy als Krisenhelfer: Die jüngsten Kinofolgen von „Der Herr der Ringe“ und „Harry Potter“ verordnen der Ich-Gesellschaft eine neue Ersatzreligion
Der Zauberlehrling Harry Potter hat seinen Besen noch nicht in die Ecke gestellt, da sind Frodo, der Ringträger, und die Seinen schon wieder unterwegs durch Mittelerde. Auch Skeptiker schwärmen jetzt, und Kritiker gönnen ihrem analytischen Blick eine Auszeit. Gegen das Märchen, die Fantasiepforte zwischen der Kindheit und dem Erwachsensein, kann man nicht argumentieren, schon gar nicht, wenn der mediale Außentraum dazu aufbietet, was Technik, Star-Glanz und Handwerk gegenüber ihrem Material aufbieten können. Die Metabotschaft der digital verschärften Supermärchen des Kinos bedeutet uns den Frieden zwischen Kindertraum, Technologie und Ökonomie. So etwas brauchen wir, die Kinder und die unerlösten Kinder in uns, weil unsere Kultur unter dem Druck des Rationalen, des Ökonomischen, des Materiellen, des Technischen, kurzum: unter den Desastern der Postaufklärung so heftig zu verarmen droht, dass uns nur die Gegenwelt der Fiktionen zur Flucht bleibt. Oder?
Harry Potter und die Kammer des Schreckens und der nun in die Kinos drängende Der Herr der Ringe – Die zwei Türme sind jedenfalls die Ereignisse des Kinowinters. Wer nicht im Kino war, versteht die Welt nicht mehr. Zumindest jene Welt, in der die Codes vom Inhalt von Überraschungseiern, T-Shirt-Aufdrucken und Titelbildern am Zeitschriftenstand gebildet werden. Die künstlichen Epen wuchern nicht nur in die gegenwärtige Breite unserer Medien- und Kulturgeschichte, sie haben längst ihre eigene Geschichte, ihre Geschichtsschreibung sowieso (sie findet auf dem mehr oder weniger freien Markt nutzloser Objekte und nutzloser Texte statt).
Zum Stand der Dinge: Die jeweils zweiten Teile der ökonomisch, technisch und wohl auch semiotisch bedeutendsten Filmserien zu Beginn des neuen Jahrtausends sind, mit ihrer Initiation und ihren literarischen Vorlagen verglichen, „düsterer“ geworden. So wollen es wohl die Zeiten, so will es das Gesetz der Serie, und vielleicht wollen es auch die Kinderaugen, mit denen wir uns Fantasy-Filme anzusehen glauben. Sie wollen mehr und tiefer sehen, sich Stufe um Stufe der Grimmigkeit der Welt annähern. Fantasy, vor etwa zehn Jahren schon einmal totgesagt, scheint wieder das Genre der Stunde und auch ökonomisch offensichtlich die letzte Rettung des Kinos und seiner polymedialen Vermarktungsnetze.
Die gegenwärtige Welle von Fantasy und Mystery als bloßen Eskapismus zu denunzieren, als literarisches oder audiovisuelles Suchtmittel für Menschen, denen die Wirklichkeit zu viel oder zu wenig ist oder die sich um das Lebensprojekt „Abschied von der Kindheit“ (noch so ein postaufklärerisches Desaster!) herumdrücken wollen, greift zu kurz. „Es ist der Wahn der Aufklärung“, schreibt Theodor W. Adorno, „von den Menschen die Furcht zu nehmen, indem sie in den Bannkreis der Tatsachen eingeschlossen werden. Über das, was draußen und anders ist, ergeht ein universales Tabu. Vorm Anderen hat Aufklärung mythische Angst.“ Diese paradoxe Umkehrung der Beziehung von Mythos und Rationalität ist offensichtlich die Materie der fantastischen Unterhaltungsgenres, die uns in der letzten Zeit in Form von Filmen wie Signs und Ghost, von Büchern, TV-Fantasy-Märchen, Mystery-Serien und diversen Game-Derivaten um die Ohren gehauen werden. Ohne die Angst der Aufklärung vor dem Anderen aufzuheben, überschreiten sie doch beständig die Grenze zu einem Drinnen und zu einem Draußen, das die Aufklärung buchstäblich ausgeschlossen hat. Verführerisch und bedrohlich in einem scheint für diese populären Erzählungen all das zu sein, was sich an den Rändern der Aufklärung abspielt, vielleicht auch in jenen Bereichen, die sich ihr immer noch und weiter entziehen wie die „großen Themen“ von Sexualität, Geburt, Tod oder Selbsterkenntnis. Ebenso interessieren sie sich für all das, was sich bewusst im Voraufklärerischen, gar im Antiaufklärerischen angesiedelt hat, wie das Märchen als letzte kindgerechte, gar pädagogisch legitimierte Form des mythischen Denkens oder das literarische Spiel mit geschlossenen Systemen, die von nichts auf der Welt etwas wissen wollen außer von sich selbst.
Aber was ist das Drinnen und was das Draußen? Es gilt als ausgemacht: Lesend und sehend begeben wir uns ins Fantastische, um für eine Zeit dem Wahn der Aufklärung, dem Gefängnis der Tatsachen zu entkommen. Danach müssen wir zurückkehren in Alltag und Geschichte. So steckte schon im Umgang mit Fantasy der Sieg der Rationalität, und nur die verzweifelte Erhöhung der Dosis kann uns als Ausweg erscheinen. Mehr Harry Potter und mehr Der Herr der Ringe, mehr Lektüre, Spiel und Traum. Immer mehr computergenerierte Landschaftspanoramen und Schlachtenexzesse (Der Herr der Ringe), Zaubertricks und gepixelte Drachenschuppen (Harry Potter) müssen eingesetzt werden, um zwei, drei antitechnologische Traumstunden zu ermöglichen. So eben träumt sich’s im Spätkapitalismus, und so leicht lassen wir uns Tolkiens Mittelerde als Utopie verkaufen. Verkauft uns mit dem Andern der Aufklärung der Markt für dumm, wie gewohnt? Wahrscheinlich sind die Verhältnisse wieder einmal komplizierter, auf der Leinwand und unter ihr.
Die allgemeine Bewohnbarkeit der neueren Epen freilich erfordert einen hohen Preis. Aus den Gegen- und Fluchtwelten sind längst Parallel- und Modellwelten geworden. Harry Potter verwandelt ein fast schon aufdringlich Dickenssches Kinderschicksal in die Lebensstrategie des jungen Karrieristen. Er setzt den Familienmangel seines Lebens in eine militante Verteidigung bestehender Ordnungen um. Nichts ist ihm geblieben von der eigensinnigen Lebenslust eines Tom Sawyer, kaum etwas von der ewigen Kindheit des Peter Pan. Wenn man seine Biografie verlängert, kann sie nur in der Mitte der jeweiligen Gesellschaft seiner Fans enden. Hierzulande würde es jedenfalls kaum wundern, wenn Harry Potter als FDP-Vorsitzender von Westfalen-Lippe wieder auftauchen würde. Auf jeden Fall werden künftige FDP-Vorsitzende Menschen sein, die mit der Figur Harry Potter aufgewachsen sind, und die Erinnerung daran wird ihnen keine Sekunde den Spaß an ihrer Politik verderben (die graue Angela-Merkel-haftigkeit von Harrys Gefährtin Hermine ist sogar den Fans schon unangenehm aufgefallen). Zauber hin, Intrige her: Harry Potter ist die lebende Nutzanweisung, wie man noch die Erfahrung des Anderen in die Konstruktion der Normalität überführt.
In der Welt von Der Herr der Ringe hingegen werden Kriege geführt, in denen die Guten und die Bösen auf eine Weise voneinander geschieden sind, als hätten sie George Bush junior und kalifornische Visagisten gemeinsam erfunden. Nicht nur die Unvermeidlichkeit des Krieges mag uns hier bitter aufstoßen, sondern vor allem eine Erzählung der fundamentalen Entmischungen. In seinen schönsten Beispielen erzählt das Fantasy-Genre davon, dass es unzählige Formen des Lebens, unzählige Formen der Intelligenz und der Empfindung und unzählige Formen von Kultur gibt. An den magischen Orten des Genres vermischen und befruchten sich alle diese Formen zu einer kosmischen oder vorzeitlichen Kreolität. Das ist, nebenbei gesagt, auch die ganz eigene Erotik der Fantasy. Die neue Fantasy dagegen macht die Kreolisierung der Fantasien rückgängig, sie hetzt die Rassen, Kulturen, Religionen und sogar die Geschlechter wieder aufeinander. Von der Reise ins Andere kommt man mit sauberen, das heißt schmutzigen Feindbildern wieder auf den Boden der Wirklichkeit, die eben außer der Organisation einer selbstgewissen Ich AG aus einem globalen Verteilungskrieg besteht. Dieses Kino hat uns nur scheinbar von solch deprimierender Realität fortgeführt, in Wahrheit indes geleitet es uns mitten hinein.
Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in Die Zeit 52/2002
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