Die perforierte Transzendenz
Das Kino träumt von Orten und Zeichen zwischen Leben und Tod
I
Wann ist ein Mensch tot? Das ist eine verteufelte Frage, zumal sie fast immer dann gestellt wird, wenn es zu spät ist, mit der Antwort noch etwas anfangen zu können. Es gibt darunter sehr umfassende und vage: Ein Mensch ist dann tot, wenn er vergessen wurde. Und es gibt sehr konkretistische: Ein Mensch ist dann tot, wenn sein Herz aufhört zu schlagen, oder, in neuerer Zeit: Wenn sein Gehirn keine Tätigkeit mehr zeigt. Mittlerweile wissen wir, dass alle diese Antworten „irgendwie“ richtig sind, und zwar deswegen, weil sie „irgendwie“ auch falsch sind. Das Wahrheit ist: Wir wissen nicht genau, wo und wie das Leben aufhört, und nicht nur Edgar Allan Poe oder die mit dem eigenen Sterben experimentierenden „Flatliners“ erfüllt das mit so viel Faszination wie Grauen.
Die Alten, die noch an die Götter und an die Gerechtigkeit glaubten, ja die taten sich leicht. Sie hatten Vorschriften für das Sterben, Rituale des Übergangs, Zeichen des Vollzugs, Installationen der Reinigung mit Wasser, Feuer, Erde und Luft. Die Hinterbliebenen wussten ebenso wie die Sterbenden, wie man sich zu verhalten hat. Deshalb glauben wir sogar, in früheren, besseren Zeiten konnte ein Mensch wissen, „wann seine Zeit gekommen war“ und die entsprechenden Maßnahmen ergreifen, er konnte, mit anderen Worten, Subjekt seines eigenen Sterbens sein. Wir stellen uns dazu gerne einen alten, faltigen Indianer vor, der sich in aller Bedachtsamkeit einen Baum für das Sterben aussucht. (Und noch der barocke Mitteleuropäer konnte mit Johann Sebastian Bach aus vollem Herzen singen: „Ich freue mich auf meinen Tod“.) Einem solchen natürlichen Tod stand der heroische Tod gegenüber, das Opfer, die Apotheose in der Schlacht, der Tod im Kindbett, aber auch der Tod als Strafe, als Sühne, als Zeichen. Auch gut. Wenn der Tod nicht natürlich ist, wie bei unserem alten Häuptling, dann ist er bedeutend, wie beim jungen Krieger.
Man sollte indes nicht unzeitig, nicht sinnlos, nicht durch Verrat und Dummheit, nicht unnatürlich und bedeutungslos sterben. Dann nämlich tendiert man dazu, als Gespenst zurück zu kehren. Die Schuld dazu kann beim Gestorbenen selber liegen (er hinterließ ein falsches Vermächtnis, er nahm ein Geheimnis mit, was den anderen das Leben schwer macht), sie kann bei den Hinterbliebenen liegen (sie hielten die Regeln von Abschied, Reinigung und Trauer nicht ein, sie ließen zu schnell los, oder, umgekehrt, sie können sich überhaupt nicht lösen, die Abwesenheit des Toten nicht verarbeiten), und sie kann schließlich in den Umständen des Todes liegen (ein ungeklärtes Verbrechen, ein sinnloses Opfer, das Hinterlassen einer großen Gerechtigkeitslücke) oder den Umständen des Tot-Seins (das Zurücklassen hilfloser Hinterbliebener oder ungeklärter Erbschaft).
Man sieht also: Mindestens ebenso wichtig wie das fachgerechte Sterben als geregelter Übergang zwischen Leben und Tod war es seit jeher, Möglichkeiten der Kommunikation zwischen den Lebenden und den Nicht-zu-Ende-Gestorbenen zu finden, für den Fall, dass bei diesem Übergang etwas schief gelaufen ist.
Und es ist verdammt viel schief gelaufen beim Sterben, so im Lauf der Jahrhunderte.
II
Das Kino, sagt man, sei ein Fall von leichter Metaphysik. Es gelingt den Bewegungsbildern ebenso selten, im reinen Diesseits von Subjekt und Geschichte zu verweilen, wie es ihm gelingt, ernsthaft transzendent zu werden. Unter anderem, weil sich das Kino ja auch mit wohlweislichen Bilderverboten schwer tut (immerhin haben wir vom Gott, der Homer Simpson führte, alles mögliche gesehen, nur nicht sein „Angesicht“). Lieber wandert man ein wenig hin und her und öffnet die Pforten zum Jenseits ein wenig, manchmal die zum Himmel, meistens die zur Hölle. Daher kann jemand wie Jean Cocteau behaupten, Kino sei die Kunst, den Menschen beim Sterben zuzuschauen. Nicht nur, weil in seiner melancholischen Weltsicht das ganze Leben sowieso nur ein langes Sterben ist („jede Sekunde verletzt, die letzte tötet“), sondern vor allem, weil es nirgendwo so glaubhafte Gespenster gibt wie im Kino. Genauer gesagt sind Gespenster im Kino so glaubhaft, dass wir immer mühsam erklären müssen, bei welchem der auftretenden Menschen es sich nicht um ein Gespenst handelt. Möglicherweise ist das Kino ja das Medium der Gespenster im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Endlose Verhandlungen nicht zu Ende Gestorbener.
Eines der Hauptmerkmale des nicht zu Ende Gestorbenen ist der Tod in der Fremde oder generell am falschen Platz. Nur in der Heimat, wie bei Edgar Reitz, gibt es das heitere „Fest der Lebenden und der Toten“. Nur am rechten Ort gehen Henry Fonda oder John Wayne zu den Gräbern ihrer Frauen, um mit ihnen zu sprechen. So blieb von den vielen Vorschriften des Sterbens wenigstens diese, den Körper des „Gefallenen“ in die Heimat zurück zu bringen und nicht in „fremder Erde“ zu begraben.
Kurzum: Die Lebenden und die Toten müssen sich miteinander versöhnen, damit die Lebenden wieder leben und die Toten zu Ende sterben können. Man kann sich dazu einen einfachen Phantasieraum schaffen, das Kino zum Beispiel, oder die spiritistische Sitzung, oder eine Verbindung von beidem. Und dann halfen, in den Jahren des Zweiten Weltkriegs, in den „White Fantasy“-Filmen freundliche Gespenster, die vom Himmel noch einmal einen Urlaub bekamen, den Hinterbliebenen, ihr Leben zu regeln und einen zweiten, friedvolleren Abschied zu nehmen. Die Trauerarbeit als tröstender Traum, gerne auch mit Beiwerken des comic relief, holt gewissermaßen die Versäumnisse des ersten Sterbens nach, repariert die Elemente von Fremdheit, Sinnlosigkeit, Unnatürlichkeit und Unzeitigkeit (immer wieder: das Sterben im Bewusstsein dem geliebten Menschen eben diese Liebe nicht genügend versichert zu haben). Die kollektive Anfälligkeit für solche „weißen“ Abschieds- und Gespensterfilme (eigentlich zweitrangig dabei, mit welchen Hokuspokus- und Religionspartikeln die temporäre Wiederkehr und endgültige Verabschiedung bewerkstelligt wird) hängt natürlich mit Krisen- und Gewalterfahrungen zusammen, im Krieg wie in der Blüte der White Fantasies in den vierziger Jahren, aber auch im informellem Bürgerkrieg der Straßenkriminalität wie bei dem Überraschungserfolg „Ghost – Nachricht von Sam“. Vermutlich hängt auch der derzeitige kleine Boom an Filmen mit den Motiven Spiritualismus und Gesprächen mit den Toten mit einer Krisenerfahrung zusammen.
Jenseits der Untoten, die einigermaßen drastisch ins Leben zurückdrängen und der verlorenen Seelen, der Wesen, die noch nicht gemerkt haben, dass sie tot sind wie in „Carneval of Lost Souls“ oder in „The Sixth Sense“, entstand ein zweiter Phantasieraum zwischen einer Rückkehr ins Leben oder dem endgültigen Sterben. Er behauptet sich weniger symbolisch als „realistisch“, eine drastische Existenz des Zwischenraums zwischen Leben und Tod, von der nicht so eindeutig auszumachen ist, ob sie dem Strafgericht von Zombies oder Rachegeistern oder der Versöhnung mit jenen Gestorbenen dienen, die auf Erden noch was zu erledigen oder klarzustellen haben. Irgendwo dort begegnen sich der mythische Raum der Versöhnung, der magische Raum des Spiritualismus und der medizinische Raum der Ungewissheit. Und es entsteht dieser dritte Raum zwischen Leben und Tod: Ein Raum der Ambiguität.
III
Von Clint Eastwood, einem der letzten großen Geschichtenerzähler des amerikanischen Kinos, hätte man wohl nicht unbedingt einen Film über die Fähigkeit von Menschen erwartet, in diesen ambiguen Raum zwischen Leben und Tod vorzudringen. Nicht dass es in seinen Filmen nicht genügend Gespenster gegeben hätte zwischen dem bleichen Reiter und dem wiederkehrenden falschen Sohn. „Hereafter“ aber benutzt die „spiritistische“ Fähigkeit seines Protagonisten weder als Zeichen noch als Lösung. Sie ist einfach da, nach einer Operation, diese Präsenz der Toten im Augenblick, da George eine Berührung mit einem anderen Menschen hat. Für eine Zeit lang hat George diese Fähigkeit beruflich praktiziert. Aber jetzt hat er genug davon, für ihn ist die Fähigkeit, Botschaften aus dem Reich der Toten zu übermitteln, keine Gabe sondern ein Fluch. Wie das aussieht sehen wir an einer sehr zart sich anbahnenden Beziehung zu einer Frau, die er in einem Kochkurs kennen gelernt hat. Als sie darauf besteht, dass er ihr seine Fähigkeiten vorführt, nimmt George unwillentlich Kontakt mit ihrem verstorbenen Vater auf. Und weil der sie aus dem Jenseits um Vergebung dafür bittet, was er ihr angetan hat, kommt die Erinnerung an den Missbrauch wieder in ihr hoch. Sie bricht zusammen, und die beiden sehen sich nie wieder. Vorher hatte George schon gewarnt, es sei oft nicht gut, zu viel voneinander zu wissen.
Eastwood benutzt den spiritualistischen Jenseitsblick schon hier vollkommen anders als die Versöhnungsphantasie der White Fantasy und die Rachephantasie der Gespensterfilme („Ghost – Nachricht von Sam“ wusste ja gar, beides zu verknüpfen). Die kurzzeitige Öffnung der Pforten zwischen den Lebenden und Toten hat keinen Wert in sich, es ist ein Wissen, das nicht weniger chaotisch ist als das Leben selbst, was da aus dem Jenseits kommt.
Zwei andere Geschichten erzählt „Hereafter“: Die Geschichte der französischen TV-Journalistin im Urlaub, die mit so vielen anderen von der Gewalt des Tsunami erfasst wird. Bei dem Versuch ein Mädchen zu retten ertrinkt sie, aber sie wird ins Leben zurück geholt. Seitdem ist sie verändert; sie nimmt eine Auszeit von ihrem Job, auf Anraten ihres Geliebten und Produzenten, sie möchte ein Buch über Mitterand schreiben, aber es wird ein Buch über „Nahtoderfahrungen“ daraus. Und ihre Stelle vor der Kamera, auf den Plakaten und im Leben des Mannes hat bereits eine andere eingenommen. Sie erfährt, mit anderen Worten, eine zweite, eine soziale Form des Sterbens. Und auch was das anbelangt dreht Eastwood die Konstruktion des zweiten kinematografischen Trauerraums auf den Kopf.
Die zweite Geschichte handelt von Zwillingsbrüdern in London, die bei ihrer von Drogen zerstörten Mutter leben und immer wieder, um zu verhindern, von ihr getrennt zu werden, eine Fassade des gepflegten Heimes errichten. Bei einem Botengang zur Apotheke stirbt der eine von ihnen, als er von Straßenkids verfolgt wird, die es auf sein Mobiltelefon abgesehen haben. Die Mutter wird in eine Klinik gebracht, der andere Junge soll bei Pflegeeltern leben. Er kann die eine so wenig wie die andere Trennung verkraften, und auf der Suche nach jemandem, der ihm einen Kontakt zu seinem verstorbenen Bruder verschaffen kann, gerät er an eine Reihe von Scharlatanen und Spinnern. Und dann natürlich an George.
Die drei Geschichten treffen sich, man könnte wohl sagen ein wenig konstruiert, bei der Londoner Buchmesse, genauer gesagt, und das ist schon aufschlussreich genug: bei Charles Dickens. Und es gibt ein zweifaches Happy End, was man nach den so bedächtig und genau entwickelten Charakteren und ihren Geschichten als ein Zugeständnis an den Mainstream oder wenigstens als allzu zärtliche Trost-Geste gegenüber Menschen ansehen könnte, denen der Film einiges an Schmerz und Versagung zugemutet hat. Aber auch da hat Eastwood ein paar Widerhaken eingebaut: Nach hartnäckiger Verfolgung erklärt sich George bereit, den Kontakt mit dem verstorbenen Bruder herzustellen. Die Botschaft aus dem Jenseits lautet Loslassen, Abschied nehmen, die Mütze, das Fetisch-Objekt als Reliquie des Toten vom Kopf nehmen. Aber zu schnell, zu vage bleibt die Begegnung, der Junge ist immer noch verzweifelt, als George bekennen muss, dass sich sein Bruder entfernt. So kehrt er noch einmal zurück, mit einem letzten Angebot der Versöhnung und des Trostes. Aber ist er das wirklich, oder hat George diese zweite Kommunikation nicht einfach für den Jungen erfunden?
Der Junge jedenfalls ist es, der seinerseits für das zweite Happy End sorgt, nämlich die Begegnung des amerikanischen Mediums mit der französischen Autorin der Nahtod-Erfahrungen. Eines von Georges Flashes zeigt eine leidenschaftliche Umarmung, aber als er sie berührt, geschieht nichts. Kein Tod mehr. Möglicherweise ist George durch die Liebe von seiner Gabe als Fluch geheilt. Vorerst wird man einen Kaffee miteinander trinken.
IV
Spiritisten, Clint Eastwood erledigt das in ein paar Minuten, sind zu neunzig Prozent windige Betrüger, Volltrottel, eitle Selbstdarsteller, Psychopathen oder aber, wie in den deutschen „Mabuse“-Filmen, kriminelle Verschwörer. Bleibt ein Rest. Wir könnten ihn als „seltsame Heilige“ oder anders gesagt als Symptom begreifen. Wie Chico Xavier in Brasilien.
Francisco Candido Xavier genannt Chico war das bekannteste spiritistische Medium in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts; sein Ruhm basierte auf zwei ungewöhnlichen Umständen, zum einen, dass er die Einnahmen seiner Praxis und seiner mehr als 400 Bücher fast gänzlich für wohltätige Zwecke bestimmte, und zum anderen in einer wohl einmaligen Gerichtsverhandlung, bei dem seine Fähigkeit, Schreib-Medium gestorbener Menschen zu sein, ausschlaggebend für das Urteil wurde. (Eine andere Perforation zum Realen.) Chico Xavier war für den Friedensnobelpreis nominiert und im Jahr 2002 wählte man ihn in Kreis der „wichtigsten Personen der brasilianischen Geschichte“.
Der Film von Daniel Filho, der Überraschungserfolg der Kinosaison des letzten Jahres, erzählt Chico Xaviers Leben, eingebettet in Szenen eines Fernsehauftritts, der seinerseits mit dem erwähnten Prozess um Mord oder Unglücksfall zusammen hängt, fast im Stil einer Heiligenlegende. Der Junge Chico wächst in einem Dorf in Minas Gerais unter armseligen Verhältnissen auf; früh hat er seine Mutter verloren, und heftig muss er unter der anderen Frau im Haus leiden, die ihn schlägt, beschimpft und mit Gabeln traktiert. Auf dem Friedhof findet Chico Trost bei seiner schönen, zärtlichen Mutter, die ihm immer wieder den Mut gibt, die Demütigungen und den Spott der anderen Kinder zu ertragen. Ein freundlicher aber auch zornig-ratloser Priester versucht ihn von seinen Stimmen und seinen Begegnungen mit den Toten zu befreien, das kann nur der Teufel selber sein, der so vielerlei Gestalt annehmen kann. Chico findet eine zweite Mutter, fast so sehr liebt er sie wie die erste, und auch sie stirbt bald. Der Verlust zweier Mütter ist die Leidensspur seines Lebens, immer wieder wird er darauf zurückkommen, seine Fähigkeiten und seine Absichten, den Trost und die Arbeit darauf beziehen, wenn er Epileptiker heilt und immer wieder in Trance Brief-Botschaften aus dem Reich der Toten übermittelt.
Der zweite Teil schildert das Leben des erwachsenen Chico Xavier, seine Beziehung zu seinem sehr persönlichen Geist namens Emmanuel, der ihm die drei Regeln für sein künftiges Leben als Medium übermittelt: Disziplin, Disziplin, Disziplin. Nach dem Tod seines Priesterfreundes kommt es zu heftigen Konflikten mit dessen Nachfolger, der Demonstrationen gegen den ketzerischen Spiritisten organisiert, und weil er sich nicht an seiner Fähigkeit bereichert, kommt es auch zum Bruch mit der Familie. Er, der so vielen half, kann seinem Bruder nach einem Schlaganfall nicht helfen. Doch zur gleichen Zeit wächst auch Chico Xaviers Ruhm, sogar über die Grenzen Brasiliens hinaus wird er bekannt, in der Mischung aus Naivität, leichten Anfällen von Eitelkeit und Unvorsichtigkeit zum Medienstar.
Der dritte Abschnitt zeigt den alten Chico Xavier, ein höchst widersprüchliches Wesen. Er setzt sich für die öffentlichen Auftritte eine Perücke auf, und als sein Flugzeug in Turbulenzen gerät, ist er es, der am lautesten um sein Leben fleht. Die Beziehung zu Emmanuel ist offenbar auch nicht mehr so innig, wie sie einst war. Aber auf der anderen Seite verbreitet er immer noch eine Aura der gütigen Weisheit und kann schließlich durch den Bekennerbrief des Opfers aus dem Jenseits den Justizirrtum verhindern und die Familien des Getöteten und des Todesschützen miteinander versöhnen.
Chico Xavier ist ein Symptom, keine Lösung. Der Film lässt genügend Spielraum für Skepsis und Distanz (einmal spuckt ihm eine Frau sogar ins Gesicht, weil sie erkannte, dass der Brief, der Xavier aus dem Jenseits diktiert wurde, unmöglich von ihrem Sohn stammen kann); wie Eastwood, so enthält sich auch Filho der Bewertung; er interessiert sich weniger für die Fähigkeiten als für den Menschen, der sie hat. Unsere Perspektive ist am ehesten die des atheistischen und rationalistischen Fernsehregisseurs (der gleichwohl Chico Xavier blendend zu verkaufen weiß), und seiner stockenden Rede vor Gericht, in der er bekunden muss, wider alle seine Überzeugungen an den Brief zu glauben, den sein Sohn aus dem Reich der Toten schrieb, um den Angeklagten zu entlasten und, einmal mehr, versöhnenden, liebevollen Abschied zu nehmen.
V
Vielleicht ist die Hölle, sagt ein junger russischer Offizier in „Sauna“, kein Feuer-Platz für Reinigung und Läuterung, sondern „Zeit und Ort hinter dem Rücken Gottes“. Dann sähe sie möglicherweise ähnlich aus wie das Sumpfgebiet, das finnische und russische Soldaten im Jahr 1595 nach fünfundzwanzigjährigem Krieg durchmessen, um die neue Grenze zu ziehen. Die Brüder Knut und Erik gehören zu der Kommission die das durchführen soll, und die ihr Ziel nie erreichen wird. Noch einmal haben sie schwere Schuld auf sich geladen, indem sie ein junges Mädchen einem grausamen Tod überließen. Dass er noch schlimmeres getan hat in diesem Krieg erfahren wir von Knut. Aber der Geist dieses Mädchens verfolgt sie, ein Körper, aus dem ein endloser Strom von Schmutz fließt. An einem Ort in diesem Sumpf liegt ein Gebäude, das wahrscheinlich eine Sauna ist, ein Ort, an dem man sich von seinen Sünden reinwaschen kann. Doch nicht Vergebung ist es, was sie finden an diesem Ort hinter dem Rücken Gottes.
Wie „Therafter“ und wie „Chico Xavier“ und natürlich ganz anders kehrt dieser archaische Endzeitfilm die Regeln der Phantasien von Versöhnung und Zu-Ende-Sterben um, ohne in bloße Horrorbilder zu versinken, die ja ihrerseits negative Katharsis versprechen. Der Dreck der hier so drastisch und buchstäblich aus den Menschen fließt, ist der Reinigung nicht zugänglich, ganze Städte und Reiche wurden, wie der russische Offizier am Anfang erzählt, aus diesem sonderbaren Material errichtet. Der Dreck fließt aus den Augen, Knuts Sehschwäche, die er durch eine vom Bruder erhaltene Brille zu mildern versucht, ist nur eine Vorahnung davon. Chico Xavier leidet an grauem Star, der durch seine schonungslose Arbeit an den Emmanuel versprochenen Büchern schlimmer wird. George in „Hereafter“ wird durch eine Maske am Sehen gehindert, um seinen Geschmack zu entwickeln, die Augen des Tsunami-Opfers unter Wasser sind weit geöffnet, während ein Stoffbär über ihr schwebt. Es geht, mit anderen Worten, nicht zuletzt um das Sehen und die Sichtbarkeit. Und als Symptom ist dieses andere (immer auch leidende) Sehen keine erlösende Transzendenz, sondern nur Verstärkung. So ist nur allzu offensichtlich, wie sehr ein Chico Xavier, der sich selber immer christlich verstand und im Bordell wie im Fernsehstudio die Menschen dazu anleitet, mit ihm das Gebet zu sprechen, dass seine Mutter ihn lehrte, nur an den Bruchstellen der Sinnsysteme, Volk, Kirche, Staat, Medien etc. entstehen und wirken kann. Alle diese Filme handeln von der Schuld der Lebenden gegenüber den Toten (war es nicht ein halbes Jahrhundert zuvor noch ganz anders?); manche Menschen mögen die Stimmen der Versöhnung und Vergebung hören, ob als Gabe oder als Fluch. In erster Linie schärft sich dabei das Bild der Realität, nicht das der Transzendenz. So kann man zum Beispiel „Hereafter“ als Film über die Brutalisierung der Arbeit (in der Zuckerfabrik wie im Fernsehstudio) und das Versagen sozialer Systeme ansehen, „Chico Xavier“ als eine Geschichte Brasiliens von der Peripherie her gesehen, und „Sauna“ als Dekonstruktion des Kriegerischen, ausgeführt an einem, von dem erkannt wurde, dass er den Frieden nicht ertragen kann. Auch handeln alle drei Filme von einer Ungleichung von Wissen und Liebe. Und sie sind erfüllt von einer Sehnsucht danach, den sinnlosen, unzeitigen, verräterischen, unnatürlichen und unheroischen Tod als Normalfall zu überwinden. Religion und Anti-Religion in einem.
VI
Ein Mensch, sagt Alexander Kluge, ist nicht irgendwie tot. Er kann es nur auf eine besondere, einzigartige Weise werden. Das ist in Vergessenheit geraten. Sterben ist in der Gesellschaft, wie wir sie kennen und mehr oder weniger haben, eigentlich verboten. Es ist organisiert, medialisiert, maschinisiert, manipuliert, es wird aufgeschoben, verborgen, überdeckt. Sterben ist etwas für Verlierer. Sterben macht keinen Spaß. Sterben ist nicht effizient, Sterben bringt nichts ein, Sterben hält uns nur auf.
Aber wenn man nicht mehr richtig Sterben kann, dann spaltet man die Welt in jene, die nicht mehr richtig Leben können und jene die nicht zu Ende sterben können. Vielleicht also muss eine Kultur des Sterbens wieder gelernt werden. Wenn es sein muss mit Hilfe von Medien und Spiritisten. Wenn es sein muss mit Hilfe des Kinos. Wenn es sein muss mit Hilfe der Toten.
Text: Georg Seeßlen
Text zum Teil erschienen in Spex #331 (03/04-2011)
Bilder:
Hereafter – Das Leben danach (USA 2010, Regie: Clint Eastwood – DVD: Warner Home Video)
Sauna (Finnland, Tschechien 2008, Regie: Antti-Jussi Annila – DVD: WVG Medien)
Chico Xavier (Brasilien 2009, Regie: Daniel Filho – DVD: Import)
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