Jedes der europäischen Länder auf dem Weg in die Postdemokratie bekommt den Berlusconismus und seine Vertreter, die es verdient. In ihrer äußeren Erscheinung und in ihrer back story mögen sie sehr unterschiedlich sein, die Postdemokraten in Italien, Frankreich, Russland, Polen oder nun eben Deutschland; das Grundmodell ihrer Macht dagegen ähnelt einander verblüffend:
1. Der Berlusconistische Politiker erhält seine Macht nicht so sehr durch die parlamentarisch-demokratischen Institutionen und nicht durch die Parteien-Hierarchien und -Allianzen, sondern vor allem direkt durch die Medien. Nicht die klassische Wahl und nicht der Diskurs entscheidet über seine Macht, sondern seine mediale Präsenz (möglichst überraschend, möglichst „unpolitisch“). Entsprechend definiert er sich
2. als meta-parteilich, „unabhängig“ und solitär. So ist er eine direkte Antwort auf die „Politikverdrossenheit“, die nicht zuletzt eine Parteienverdrossenheit ist: Berlusconismus ist, unter vielem anderen, Politik für Leute, die mit Politik nichts im Sinne haben, sowohl unpolitische Politik als auch politische Un-Politik. Damit hängt
3. zusammen, dass der Berlusconistische Politiker sich nach den Gesetzen der Unterhaltungsindustrie inszeniert. So wie er selber als „gecasteter“ Typus in einer „politischen“ Soap Opera erscheint, verbindet er sich auch auf einer zweiten Ebene mit dem Entertainment: Der eine heiratet eine Schlagersängerin, der andere lässt sich von Quiz-Kasperles hoffieren, jener unterdrückt und dieser kauft die Zeitungen, die er braucht, und der unsere schließlich lässt seine Frau als Pädophilenjägerin im TV auftreten und ist mit eingebetteten Schreibern und Bildermachern unterwegs. Dazu gehört weiter, dass
4. der Berlusconistische Politiker großen Wert auf das Erscheinungsbild legt, was, in Zusammenhang mit dem erwähnten Alleinstellungsmerkmal, durchaus die Nähe zu karikaturistischer Drastik beinhaltet: Von Burlesquonis Lifting zu Guttenbergs Haargel, stets erscheint eine Art bizarrer, etwas vulgärer Eitelkeit, ein polyvalentes sexuell-ökonomisches Bild, nicht schön aber laut.
5. Daher gibt es für den Berlusconistischen Politiker keinen Unterschied zwischen Politik und Privatleben: Berlusconi behandelt den italienischen Staat als Privateigentum, Guttenberg positioniert sich als so wichtig für den deutschen Staat, dass für ihn allgemeine Rechte und Regeln nicht gelten. Affären, so oder so, werden Teil serieller Dramaturgien („So leidet Guttenberg“, wie die Bild am Sonntag titelt). Immer muss man ihn zugleich bewundern oder in Schutz nehmen, „Das wird man doch noch sagen dürfen“ heißt es zur leichtfaschistischen Rhetorik; „Das wird man doch noch machen dürfen“, heißt es beim öffentlichen Privatpolitiker. Alles, was an ihm kritisiert werden kann, ist eine Gemeinheit seiner „linken“, „intellektuellen“ Kritiker, die die „Einzigartigkeit“ unseres Stars nicht ertragen. Der Berlusconistische Politiker wird zu einer Popcorn-Variante des faschistischen „Führers“.
6. Der Berlusconistische Politiker erhält seine Zustimmung, wie medial diese auch immer manipuliert sein mag, nicht trotz sondern gerade wegen seiner offensichtlichen Verstöße nicht nur gegen das Gesetz sondern auch gegen fundamentale Regeln von Stil und Anstand. Er ist ein Volksheld auch in dem Sinne, dass er sich „ehrlich“ zu den realen Verhaltensweisen bekennt: Jeder weiß es, man lernt es in Coaching-Kursen und in Fernsehserien: Ohne bescheißen kommt man zu nichts.
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Die Zeit ohne Guttenberg wird manchen in der deutschen Politik
lang vorkommen. Sie wird sehr kurz sein in
der Verfallsgeschichte der deutschen Demokratie.
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7. Berlusconistische Postdemokratie reagiert auf die Verdrossenheit mit einem „alten System“, das zäh und kompliziert, verlogen und steif erscheint. Der Berlusconistische Politiker ist ein Symptom für die Krise von Demokratie und Kapitalismus.
8. Ein Wesenszug des Berlusconistischen Populismus ist der Anti-Intellektualismus. Insofern übrigens geht es in der Zustimmung zum „Bescheißen“ nicht allein um das Akzeptieren unehrenhaften Verhaltens, sondern auch um die Abwertung der akademischen Institutionen im Allgemeinen, dem Distinktionsritual des „Doktor“ im Besonderen. Paradoxerweise wird in dieser Hinsicht ein Guttenberg durch den Betrug erst richtig glaubwürdig, genau so, wie er als „Freiherr“ erst richtig glaubwürdig wird, weil er diese Rolle wie in einer schlechten Vorabendserie des deutschen Fernsehens spielt. Damit vereint er die akademischen und aristokratischen Distinktionen mit der Präsenz eines Parvenu: Der Freiherr als Staubsaugervertreter oder umgekehrt. Man würde ihm manchenorts auch sogleich verzeihen, wenn sogar sein Adelstitel gefälscht wäre.
9. Ein Berlusconistischer Politiker wird (scheinbar) erstaunlicherweise noch weniger an seinen Versprechungen und „Ehrenworten“ gemessen als der Vertreter des „alten Systems“. Denn von ihm will man nicht anders betrogen werden als man gewohnt ist, sich selber und einander gegenseitig zu betrügen: Die Unterwerfung unter den Berlusconistischen Politiker ist einerseits ein Bekenntnis zu einer anti-demokratischen und mafiosen Organisation der Interessen, sie ist andrerseits aber auch nicht frei von Masochismus. Ein Slow-Burn-Effekt, in dem man sich bewundernd fragt, wie weit es der Kerl da oben noch treiben werde, und wie viel man ihm noch durchgehen lasse. Wir wissen, was Schau ist, die Beschissenen sind die anderen. Berlusconistische Politiker verabsäumen es nicht, die Schadenfreude zu bedienen.
10. In der Postdemokratie ist der Berlusconistische Politiker beinahe unendlich anschlussfähig. So wie bei Berlusconi selber die Netze vom Neofaschismus bis zum organisierten Verbrechen, vom Showbusiness bis in den Sport reichen, so ist auch Guttenberg nur zu denken in zumindest medialen Verbindungen mit anderen anti-demokratischen, anti-rechtsstaatlichen, populistischen Impulsen. Träumt man nicht, wenigstens als Bild-Leser, schon von einem Dream-Team Guttenberg/Sarrazin? Für den Anfang.
11. Die Herrschaft des Berlusconistischen Politikers ist zu einem nicht unerheblichen Maße virtuell. Er geriert sich als „leichten“ Fall von Diktatur, er bricht Gesetze und erlässt welche nach Belieben, alles scheint an ihm „neu“ und „anders“; in Wahrheit aber geht es beim Berlusconistischen Politiker darum, Hemmungen und Gewichte für die freie Entfaltung der Marktführer aus dem Weg zu räumen und ansonsten alles beim alten zu lassen. Die diktatorische und pop-industrielle Anmaßung des Berlusconistischen Politikers (nebst ihrer absolut moral-losen außenpolitischen „Freundschaften“) maskiert vor allem den Umstand, dass die selbst von den gemäßigten Befürwortern des freien Marktes als dringend notwendig erachteten Reformen des Kapitalismus unterbleiben. So ist absehbar, dass jede Art von Berlusconistischer Politik – und wir können nur ahnen, wie bewusst es ihren Befürwortern ist – am Ende ein Kapitel der Selbstdestruktion von Staaten und Gesellschaft und zumindest furchtbar verlorene Zeit für sie darstellt.
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Berlusconistische Politik benötigt Geld. Viel Geld.
Und sie macht Geld. Noch mehr Geld.
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12. Der Berlusconistische Politiker bedient, jenseits dieser Grundfunktion, den gesellschaftlichen Stillstand (und den Verlust von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in einem Land) zu hysterisieren und zu medialisieren, jeden Impuls aus „seinem“ Volk, der ihm dient. Von Berlusconi wurde gesagt, er würde von heute auf morgen eine militant antisemitische Politik verfolgen, wenn ihm seine Marktforscher versichern würden, die Mehrheit des italienischen Volkes wäre dafür. Da der Berlusconistische Politiker, auch in seiner Verknüpfung von privaten Interessen und politischer Funktion, sich sehr rasch in eine Maschine verwandelt, deren einzige Produktion die Erhaltung der eigenen Macht ist, leistet er sich (wenn er je so etwas besessen hätte) ganz und gar keine moralische Zimperlichkeit. So wird jeder Berlusconistische Politiker spätestens gegen Ende seiner Karriere zu einer lebenden Bombe: Zu seiner Machterhaltung gehört es zwingend, das System von Demokratie, Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit abzuschalten.
13. Es ist kein Nebeneffekt sondern eine zentrale Aussage Berlusconistischer Politik, die Institutionen der Demokratie wahlweise zu ignorieren oder „vorzuführen“. Und so ist es keinesfalls ein diplomatischer Fauxpas und keine persönliche Lausbüberei, wenn Guttenberg gleich seine eigene Pressekonferenz gegen die hierarchische und gepflogene Form der parlamentarischen Regelung setzt: Jeder Stich, den der Berlusconistische Politiker den im Kern verachteten Institutionen der parlamentarischen Demokratie und des Rechtsstaates versetzt, erhöht die Zustimmung bei der von ihm bedienten Klientel.
14. Der Berlusconistische Poitiker wird als „Machtmensch“ verehrt, an den keine moralischen Maßstäbe angelegt werden. Man könnte sagen: Der Berlusconistische Politiker ist das exakte Gegenteil eines „Heiligen“ – auch diese Rolle gibt es ja immer wieder mal zu besetzen – er ist die Verkörperung des „Du musst ein Schwein sein in dieser Welt“. So nimmt es kaum Wunder, dass seine Anhänger Guttenberg ohne weiteres verzeihen, dass er, noch bevor er sich mit seiner Doktorschwindelaffäre ausmanövrierte, bedenkenlos Menschen und sogar Freunde für seine eigene Macht opferte, von denen eine halbwegs interessierte Öffentlichkeit durchaus erkennen hätte können (wenn man es denn gewollt hätte), dass diese Opfer „unschuldig“ (im Sinne der Anklage) waren, wie General Schneiderhahn nach der Kunduz-Affäre oder Kapitän Schatz nach den Ereignissen auf der Gorch Fock und dem entsprechenden medialen Echo. Der „Politiker der Herzen“, wie seine Anhänger allen Ernstes skandierten, kennt bei seinem Aufstieg weder Solidarität noch Gerechtigkeit. Der Berlusconistische Politiker ist im Blick seiner Anhänger so sympathisch weil er
– anders als die anderen ist (kaum ein Lob des Berlusconistischen Politikers, das nicht mit der Verachtung der anderen gepaart wäre, die „grau“, „langweilig“, „verlogen“,
– „sich selbst gemacht hat“ (das hält natürlich keiner genaueren Überprüfung stand; so ist im Gegenteil gerade beim Berlusconistischen Politiker das backing und das Wirken grauer Eminenzen besonders ausgeprägt)
– „menschlich“ ist (nicht im Sinne einer humanistischen Gesinnung oder besonders menschlicher Lebensführung etwa, sondern menschlich im Sinne von ein wenig unmoralisch, ein wenig korrupt, ein wenig wahnsinnig, ein wenig kriminell usw.)
-„sexy“ ist (Das Gebot der Höflichkeit sollte uns dazu den Kommentar verbieten, indes kommen wir um die unangenehme, einigermaßen belegte Wahrheit nicht herum, dass sich der ursprüngliche Aufstieg der beiden Berlusconistischen Politiker, die wir hier als Beispiele behandeln, nämlich Berlusconi selbst und K.T. Guttenberg, nicht unerheblich der Wählergruppe von Frauen über 50 Jahren verdankt und diese signifikant auch als engagierteste Verteidiger vor den Fernsehkameras auftreten – wobei natürlich auch dieses Bild manipuliert sein könnte: von wem? Und für wen? Teil der Inszenierung der Berlusconistischen Politik scheint es in jedem Fall zu sein, Frauen wieder in die traditionellen Rollen einzuweisen, das allerdings auf angemessen „moderne“ Art; zwar spielen Frauen in der Berlusconistischen Politik eine bedeutende Rolle, und das meinen wir an dieser Stelle ohne den ironischen Nebenklang, der auf die merkwürdige sexuelle Ökonomie dieses Systems rekurriert, aber bislang ist keine Berlusconistische Politikerin als entsprechende „Führerin“ aufgetreten, wie man es in der traditionelleren Machtstruktur in Form von Thatcherismus oder Merkelismus durchaus kennt.)
– ein „Macher“ ist (auch wenn das Wort schon wieder ein wenig aus der Mode gekommen ist: Der Berlusconistische Politiker vermittelt den Eindruck höchster Geschäftigkeit und Aktivität. Er tut, als sei er tatsächlich ein „Mann der Tat“ – „die anderen reden nur“, raunt es bei seinen Bewunderern. Nun ist freilich genau dies die größte Illusion, die der postpolitische Politiker vermittelt.
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Berlusconistische Politiker versäumen es nicht,
die Schadenfreude zu bedienen.
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Doch während der gewöhnliche rechtspopulistische Politiker, denken wir an Geert Wilders, an Jean-Marie LePen oder an Jörg Haider, die furchtbaren Züge eines „Nationalcharakters“ so offensiv nach außen kehren, dass man schon jenseits der Staatsgrenzen nur noch eine Karikatur vor sich zu haben meint, ist der Berlusconistische, postdemokratische Politiker eloquent und „zurückhaltend“ genug, um auch auf internationalem Parkett immerhin akzeptiert zu werden – wenn auch, wie im Fall des realen Berlusconi, hier und da mit Zähneknirrschen oder einem unterdrückten Grinsen: Wenn George W. Bush der öffentliche Darsteller amerikanischer Blödheit war, und deshalb dem liberalen Bürgertum nicht nur ein Gegner, sondern auch furchtbar peinlich, dann war Silvio Berlusconi der öffentliche Darsteller von italienischer Vulgarität, und dem liberalen Bürgertum gelegentlich nicht minder peinlich. Doch eben diese – in Deutschland besonders virulente – Qualität des Peinlichen, die im Berlusconistischen Politiker halbwegs moderiert erscheinen kann, gehört auch zu seinem Erfolg. Wenn also ein liberaler Kritiker an Berlusconi oder Guttenberg das eitle Auftreten oder die Mischung von Anmaßung und Schlichtheit in der rhetorischen Performance bemängelt, dann erklärt sein Anhänger eben dies zur „bella figura“. Und wenn beim originalen Berlusconi die italienische Tugend der Ignoranz sich feiern darf, dann kommt bei Guttenberg die ur-deutsche Haltung zu sich: die Inszenierung der Gekränktheit. Zwei Formen vollkommener Resistenz gegen Gefühle von Schuld oder Scham: Aggressivität und Selbstmitleid.Nun weiß man freilich aus dem gewöhnlichen Leben, wie schwer es ist, mit Menschen auszukommen, die auch in alltäglicher Dosis (geschweige denn bei größeren dramatischen Konflikten) zu selbstkritischer Einsicht, zu Schuld und Scham (und eben damit auch zur Chance der Veränderung, des Neuanfangs von Kommunikation) nicht fähig sind. Und natürlich ist diese Schuld- und Schamunfähigkeit auch „ansteckend“. Warum sollten wir mit Schuld und Scham umgehen lernen (sind sowieso Gefühle, die in „positivem Denken“ und in „Karriereplanung“ nichts zu suchen haben), wenn es die anderen, und in diesem Fall: die Herrschenden, auch nicht tun? Der Berlusconistische Politiker ist der Repräsentant einer Schuld- und Scham-losen Gesellschaft.
15. Berlusconistische Politik benötigt Geld. Viel Geld. Und sie macht Geld. Noch mehr Geld.
Unser Freiherr von Guttenberg scheint zunächst eine Idealbesetzung für einen Berlusconistischen Politiker für Deutschland. Er erfüllt, auf seine Weise, alle fünfzehn Voraussetzungen dafür. Dabei ist es vergleichsweise unerheblich, ob sich das „alte System“ noch einmal gegen den konzertierten Angriff von Guttenberg und Bild-Zeitung zur Wehr setzen kann oder nicht, das Ende der zweiten Republik scheint unwiderruflich eingeläutet. Die klassischen demokratischen Institutionen und ihre Vertreter haben sich bereits, wie die Kanzlerin, in die berlusconistischen Fallen manövrieren lassen, sie versuchen „ein bisschen“ dem berlusconistischen Pfad zu folgen und „ein bisschen“ Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen. Wenn die deutschen Universitäten ihre akademische Würde verteidigen, dann nur um einen gewaltigen Preis: Am Ende steht dann nämlich nicht allein die Aberkennung der Doktorwürde für einen einzelnen karrieristischen Politiker. (Der hat, so vermuten wohl mehr seiner Anhänger als seiner Kritiker, gar nicht abgeschrieben – so doof ist der doch nicht – er, oder der eine oder andere Mentor seiner politischen Karriere haben nur bei der Auswahl des Ghostwriters nicht genügend Sorgfalt walten lassen und einen der üblichen Sample-Redenschreiber daran gesetzt.) Sondern es führt zu einer schmerzhaften Selbstaufklärung der deutschen Universitäten, die bei der „Fremdmitteleinwerbung“ schon längst jede Würde und Freiheit verloren haben.
Und Guttenberg ist nicht, wie man vermuten könnte, eine Art Berlusconi „light“; schließlich, sagt man, lässt er sich ja nicht wie dieser gleich von Medien machen, die er selbst in Besitz hat. Vielleicht ist dort aber auch schon die nächste Phase erreicht: Im klassischen Berlusconismus wie in den Postdemokratien Osteuropas halten sich Politiker ihre Zeitungen. Im Deutschland auf dem Weg in die Postdemokratie hält sich bereits eine Zeitung einen Politiker! Und wehrte sich nun das „alte System“ gegen diesen Angriff der Unterhaltungsindustrie auf die Politik, dann müsste Frau Merkel etwas tun, was schon der Ex-Kanzler Helmut Schmidt als unmöglich erachtete: Nämlich gegen die Bild-Zeitung regieren. Egal wer verliert, Bild gewinnt immer.
Die enge Verbindung von Bild/Fernsehen und der Karriere-Familie Guttenberg erweist sich für diese daher als Segen und Fluch zugleich. Sie konnte in einer Geschwindigkeit aufsteigen, wie es im alten System der parlamentarischen Demokratie und in der intrigant-pfründischen Struktur der Parteien nicht möglich gewesen wäre. Dafür aber nun ist das Guttenberg-Paar auf Gedeih und Verderb diesen Medien ausgeliefert. Und das kennen wir aus Mafia-Filmen: Wenn die gefütterten Freunde der Freunde nicht mehr nützlich sind, der Bild-Zeitung oder auch, sagen wir einmal: den Markführern, die ihre Interessen an Berlusconistischer Politik haben, dann werden sie bedenkenlos geopfert. Und die Schmieranten von Bild haben, wenn das möglich ist, noch weniger moralische Skrupel als der Berlusconistische Politiker selber.
Berlusconistische Politik ist für die Konzern-Medien nicht nur ein guter Stoff und ein guter Deal – auch wenn es nicht immer so schamlos zugeht wie beim Anzeigengeschäft für die Bundeswehr – sie ist auch Voraussetzung für das weitere Wachstum dieses Marktes. (Haben wir eigentlich schon erwähnt, dass es ein Kernpunkt der Berlusconistischen Politik ist, alle unabhängige Kultur abzuschaffen?) Berlusconismus ist nicht allein die Herrschaft von postdemokratischen Leicht-Diktatoren mit Hilfe der Medien, sondern auch die Herrschaft der Unterhaltungsindustrie über Regierung und Staat. Ob der Berlusconistische Politiker dann die „Marionette“ von Kapital und Entertainment ist, oder ein Subjekt der neuen Herrschaftsform, ist dann kaum noch von Bedeutung. Ob Guttenberg durch Bild oder Bild durch Guttenberg herrscht, ob Guttenberg eine Vorahnung oder schon die Idealbesetzung ist – fest zu stehen scheint: Die Geschichte der zweiten deutschen Republik, ihrer Institutionen, ihrer Werte und ihres, nun ja, Geistes geht zu Ende.
Die Zeit ohne Guttenberg wird manchen in der deutschen Politik lang vorkommen. Sie wird sehr kurz sein in der Verfallsgeschichte der deutschen Demokratie.
Text: Georg Seeßlen
Text zuerst erschienen in Der Freitag, März 2011
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