Der ist an allem schuld!
Über das Unbehagen des deutschen Kinos an der Linken
1968 und das schöne Durcheinander drumherum, Revolte, Aufbruch, Träume, Mode und Verzweiflung – all das ist nun endlich Geschichte. Immerhin ist es auf der Zeitachse von heute aus betrachtet beinahe doppelt so weit entfernt wie für »die 68er« das Ende von Faschismus und Krieg. Auf den Vorschlag, 68 zu den historischen Akten zu legen, gibt es drei Reaktionen: a) Leider, b) Gottseidank, c) Geht gar nicht – unter anderem, weil nach einem Wort von Alexander Kluge rein gar nichts »irgendwie vorbei« ist. Das Kino jedenfalls hat seinen Teil am Anfeuern, Aufheben und Bearbeiten. Und natürlich auch beim Wegräumen, Träumen und Lügen.
In der Mitte der Medien scheint man sich schon einig: Auf! Lasst uns dem Revoltemüll eine Abfuhr erteilen! Und das geht so: Die Hippies waren komisch, overdressed und weggetreten. Das Komische an ihnen waren die Selbstorganisation, die Naivität, ihre Mode. Ein bekiffter Kindergarten, wunderbar reenacted in Wenzel Storchs Sommer der Liebe (1992). Die sogenannten 68er dagegen waren böse, verklemmt, diktatorisch und an fast allem schuld, was heute schief läuft. Anarchisten, Dadaisten, Stalinisten, Situationisten, Maoisten – irgendwie steckte in ihnen auch noch der Nazi und schon der Spießer. Der Terrorist der »bleiernen Zeit« ohnehin. Die 68er sind umso böser und gemeiner, je näher man ihnen selbst gekommen ist. Am gemeinsten an den Alt-68ern ist, dass sich alles, was man über sie sagen kann oder muss, um die fixen Ideen des »Verrats« und des »Scheiterns« dreht. »Von den 68ern lernen, heißt scheitern lernen«, deklamierte Christoph Schlingensief und setzte seine Reenactment-Reigen vor der Kamera in Gang oder entfesselte das Revoltespiel als Straßentheater. Weil aber »68 spielen« nur den mutigeren Künstlern gelingt, die sich neben dem Schatten der Zeit auch dem Peinlichen stellen, gilt als die »erwachsenere« Reaktion die Distanzierung. Als wäre 68 eine alte Schuld, brechen Hippie-Erinnerungen in Endlos-Familienserien und Tatort-Krimis auf. Beinahe wären wir abgestürzt, beinahe wären wir Terroristen geworden, darum sind wir nun Sozialarbeiter und Polizisten. Rückfälle in wildere Zeiten erleben die zu Bürgern gewordenen 68er-Menschen in Hans Christian Schmids Nach fünf im Urwald (1995); Melancholie und Alltag holen sie schnell ein, und die nächste Generation tut gut daran, skeptisch zu bleiben.
Aber selten sieht das Kino mit so viel kritischer Freundlichkeit auf den unausweichlichen Konflikt, der im Innenraum von Familie und, nun ja, Klasse aufbrechen muss, wie es Schmid tut. Was besonders erstaunt: Mit welch weichgezeichneter Sympathie der deutsche Film derzeit die Kriegs- und Nachkriegszeit zeichnet und mit welcher Härte und Verbissenheit die Jahre nach 1965. Mit Zärtlichkeit blickt unser Kino- und Fernsehfilm die Kinder von Adolf und Trümmerstadt an, verzeiht ihnen großzügig in Pastelltönen und Geigenmusik. Mit Argwohn und Häme sieht er die Kinder von Marx und Coca Cola: 68, das sind zerrissene und schmutzige Bilder. Die immergleichen Collagen von Straßenschlacht und Pepsi-Werbung. Wenn man in den deutschen Filmen der letzten zehn Jahre ein Vorher-Nachher der Bilder aufmacht, dann scheint es, als hätte 1968 (und nicht 1933) so etwas wie eine Vertreibung aus dem Paradies stattgefunden. Dem deutschen Kino, im Großen und Ganzen, ist jeder Nazi näher und verständlicher als ein 68er. Und unter den 68ern ist der Terrorist, krank und böse wie er sein mag – einen Gangster-Splatter-Blutrausch-Film gibt er allemal her -, immer noch näher und verständlicher als ein Mensch, der seinerzeit und darüber hinaus mit Revolte und Alltag, Traum und Wirklichkeit kämpfte.
Natürlich ist diese Mischung aus Verklärung und Denunziation der eigenen Vergangenheit kein durchgängiges Projekt. Es gibt durchaus Filmemacher, die sich sowohl der Geschichtlichkeit als auch dem Reenactment mit einem Bewusstsein der Widersprüchlichkeit stellen. Die Bedingungen des politischen wie des ästhetischen Widerstands haben sich so sehr geändert, dass eine direkte Abbildung mehr oder weniger unmöglich ist. Das Kino der 68er Jahre war der Versuch, eine mittlerweile verlorene Zeit wiederzugeben: Gegenwart. Das Kino der 2008er Jahre benötigt semiotische Umwege, Spiegelungen, Auflösungen. So wie es den Augenblick der Revolte nicht kennt, hat es auch kein klares Wir und Sie; das ist nicht die Schuld der Filmemacher. Hans Weingartner hat das Problem trefflich beschrieben: »Die Schwierigkeit meiner Generation lag darin, dass das Establishment nicht mehr so klar auszumachen war. Zudem hat das System immer perfidere Verteidigungsstrategien entwickelt, den Protest zu nehmen, zum Produkt zu verpacken, ein Preisschild draufzukleben und zurückzuverkaufen. Ich glaube, meine Generation ist die Generation der Ratlosigkeit und der Umorientierung.«
Flucht zurück in die bürgerliche Biografie
Wer macht schon gerne Filme über Ratlosigkeit, besonders, wenn es die eigene ist? Gegenüber dieser Ratlosigkeit ist die Gewissheit der 68er eine Zumutung. Das Allergemeinste an den 68ern ist, dass sie offensichtlich bei dem, was sie taten, mächtigen Spaß hatten. Sie waren sich selbst nicht peinlich. Im Jetzt wären sie samt den großen Worten und Gesten so ziemlich das Unpassendste, was man sich vorstellen kann. Aber damals? Schwer zu sagen. Der Punkt, an dem sich die Biografie und die Geschichte so heftig berührten, ist nicht ohne weiteres zu rekonstruieren. Zu meiner persönlichen Liste jener Dinge, die mit den traditionellen Mitteln des psychologischen Realismus auf der Leinwand nicht dargestellt werden können, gehören neben Prostitution und Performance auch die politischen Demonstrationen und die direkte Konfrontation der Straße. Das sind die peinigenden Momente im ewiglaufenden Fernsehfilm, wenn Komparsen mit Schildern und im »typischen« Outfit Parolen skandieren. Nichts kann den Zugang zu einem Vergangenen schärfer unterbinden als falsches Reenactment.
Ein Reenactment, das ist erst einmal ein »Nachstellen« der Historie, einerseits mit einem möglichst angemessenen Außen (auf die richtige Uniform kommt es nicht zuletzt beim Kriegs- und Faschismus-Reenactment an), aber dann auch mit einem angespannten Innen: Wie hat sich das angefühlt? Und ist es noch in mir? Schließlich können wir die innere Situation des Reenactments vom äußeren Ritus trennen. Dann spielen wir Demo, Kommune oder Widerstand jenseits der Zeit, heute oder irgendwann. Und dann geht es auch in Filmen wie Die Unerzogenen (2007) um eine fundamentale Erfahrung der Gesellschaft nach 68: Zwei Generationen, zuerst die Revoluzzer und Acid Heads der 60er und 70er Jahre, dann die hedonistische Generation der Boomjahre, das sexuell und spirituell irgendwie befreite Kleinbürgertum, lassen den Nachwuchs allein. Einst starben die Söhne vor den Vätern, nun müssen die Kids schaffen, was die Alten nicht fertig bringen. Erwachsenwerden. Kids, die in der Kultur der gescheiterten Träume die Verantwortung für die Eltern übernehmen müssen, sind gängige Figuren im filmischen Gesellschaftsbild dieser Jahre. Dafür ist Netto von Robert Thalheim (2004) ein schönes Beispiel. Auf den ersten Blick hat diese Geschichte vom gescheiterten Vater und seinem Sohn, der ihn stützt, wenig mit den 68ern zu tun. Und doch bezeichnet sie sehr genau den Schmerz und die Sehnsucht um die verschwundene Generation.
Das Reenactment, das macht die Sache problematisch, ist traditionell eine Art ritueller Einverständniserklärung. In aller Regel sind die vielen Reenactment-Feiern unserer Kultur Einverständniserklärungen mit der Vergangenheit, vom Mittelalter bis zum Zweiten Weltkrieg. Eine andere, radikale Form von Enactment treiben etwa die Protagonisten von Lars von Triers Idioten (1998), die sich als Behinderte geben, um die Reaktionen der guten Bürger auf ihre Störungsspektakel zu spüren. Das Reenactment der Revolte ist ein situationistisches Kunstprojekt, das paradoxerweise ganz real in eben jene Konflikte führt, die es zu spielen galt. Wir verstehen: Das eine Ende dieses Enactments ist das Peinliche, die Schmach von Verrat und Niederlage, das andere eine Ansteckung, Kontrollverlust, durch filmische Gegenwärtigkeit zum Beispiel.
Das Kino findet seine Wege zwischen Darstellung und Reenactment, Distanz und Einverständnis, und daher ist es nicht verwunderlich, dass sich so viele Filme über die 68er die Form von »Versuchsanordnungen« geben. In den verschiedenen Stadien der Verbürgerlichung wird die einst politische Gruppe unter Druck gesetzt. Das reicht von Stefan Krohmers Sie haben Knut (2003) über Am Tag als Bobby Ewing starb von Lars Jessen und Ingo Haeb (2005) bis zu Doris Dörries Nackt (2002). Immer hat man sich miteinander eingesperrt, mal in der Tiroler Skihütte, mal in der Landkommune, mal im bürgerlichen Design. Immer endet der Versuch, das individuelle Wünschen mit einer kollektiven Vorstellung zu verbinden, in einer Art von Entblößung. Mal sehen, was passiert. Nein, wir wissen es vorher – Entlarvung, Auflösung, Ernüchterung. Nur Einzelne entkommen dem Zusammenbruch des Kollektivs. Das Happy End ist eine Flucht zurück in die bürgerliche Biografie. Filme über die Post-68er ähneln nicht nur psychologischen Kammerspielen, sondern auch Horrorfilmen: Der geschlossene Raum, das Monster – der Vergangenheit, der Ideologie -, der moralische Body Count, das Überleben der am meisten Unschuldigen.
Haben die 68er das Kino kaputt gemacht?
Die Biografie muss da immer vor beidem gerettet werden: der moralischen Ideologie und dem zynischen Hedonismus. Vielleicht erklärt das auch, warum wir eher einen Terroristenfilm haben als einen 68er-Film: Der Terrorismus wird zur Erzählung, immerhin, der Terrorist ein, wenn auch negativer Held – Biografie radikal. Das Reenactment dagegen versucht unter anderem, die Gegenwärtigkeit zu imitieren. So entsteht das Paradox, dass Terroristenfilme so übererklärend sind wie Volker Schlöndorffs Die Stille nach dem Schuss (2000), so verspielt Pulp-Fiction-haft wie Baader (2002, Christopher Roth) oder so schießwütig wie der neue Baader Meinhof Komplex, während die 68er-Filme im Vagen und Metaphorischen bleiben. Sie beschreiben fast immer Übergang und Ernüchterung. Sie schreiben die Geschichte der Revolte von einem Ende her, das keines ist. Und so, als hätte nicht Jean-Luc Godard in La Chinoise schon 1967 alles über das Scheitern der Revolte gesagt.
Indes, die politische, ästhetische und sexuelle Gegenwärtigkeit von Leben und Kunst 68 wird selbst zum größten Problem, da sie in sich zunächst amoralisch (und anti-melodramatisch) ist. Die Aufhebung der Trennung des Privaten und des Öffentlichen funktioniert immer nur für einen Augenblick. Danach zerfällt das Leben wieder, extremer als vorher, ins Innen und Außen. Den Versuch der Distanzierung zeigen schon Filme wie Die Reise (1985) von Markus Imhoof, nach der Autobiografie von Bernward Vesper: Bertram (Markus Boysen) will aus der Szene der terroristischen Gefährdung aussteigen, um seinem Sohn eine friedliche, echte Kindheit zu ermöglichen. So geht es um die Rettung der Biografie vor der Hölle der Utopie und der Ideologie. Deshalb handelt ein Film wie Lenin kam nur bis Lüdenscheid (2008, André Schäfer) zwanzig Jahre später auch davon, wie man sich als Kind in einem sozialistischen Elternhaus die kleinen Freuden erobert. Weil jede Rebellion gegen Unterdrückung auch selbst Unterdrückung produziert. Aber wem, zum Teufel, sagen wir das?
Das alles zusammen jedenfalls ergibt die Auseinandersetzung mit einer Art von Erblast. Denn genau das ist ja das eigentliche Vergehen der 68er an den nachfolgenden Generationen, dass dieses radikale Jetzt des erfüllten Augenblicks auch die Zukunft auffraß, nicht nur die eigene. Kein Wunder also, dass der erfüllte Augenblick der Revolte in den Filmen der Nachgeborenen zu einer zähen Endlosigkeit wird; die Verwandlung von Zeit in Raum – von Ausbruch in Gefangenschaft – ist dabei nicht nur eine Frage, die in Filmen verhandelt wird, sondern auch eine Verhandlung des Filmischen. Der Zustand 68, Bewegung, Kultur, Ereignisnetz, war, wie die zahlreichen Retrospektiven und Veröffentlichungen dieses Jahres zeigen, vehement cineastisch. »Außer für Politik interessierten sich Intellektuelle nur für Film«, erinnert sich Volker Schlöndorff an die 60er Jahre in Paris. So wird aus dem allgemeinen Kampf um das Erinnerungsbild 68 auch ein spezieller Kampf um das kinematografische. Haben die 68er etwa auch das Kino kaputtgemacht? Die Suche nach dem richtigen Bild jedenfalls kommt aus der Erfahrung der Ratlosigkeit. Alles in Bewegung gesetzt und dann gescheitert: Der wahre Schrecken ist eine Leere, die zurückgeblieben ist. In sie sind die Kinder der Revolution entlassen.
Diese Beziehung beschreibt auch Christian Petzolds Die innere Sicherheit (2000). Die Situation der Illegalität, generell: eine radikale, selbst gewählte Staatsferne, die im Einzelfall grotesk ist, wird zu einer Tragödie in den Konflikten mit der nächsten Generation. Es ist dies der Punkt, wo sich Reenactment und Erzählung wieder trennen: Im Recht auf die Biografie. Der Generationenkonflikt zieht sich durch alle Neuformen und Zusammenbrüche »alternativer« Lebensentwürfe. Eine merkwürdige Wendung etwa nimmt zum Schluss Am Tag als Bobby Ewing starb, wenn der Junge, um sich von der Mutter oder von dem Milieu der Alternativen zu befreien, beschließt, zur Bundeswehr zu gehen, während der Wortführer der Landkommune sich vor der Wolke aus Tschernobyl und allzu viel psychischem Stress davon macht in den Süden. Das Scheitern von Revolte, Alternative und allen noch so trivialen Ableitungen zeigt sich als Erstes in einer Schuld gegenüber den Kindern, während umgekehrt bleischwer die Mischung aus heroisierter oder verdrängter Vergangenheit und muffiger Gegenwart die Fähigkeit der nächsten Generation zu Selbstbestimmung und Freiheit behindert.
Das Reenactment der 68er-WG sieht zunächst einmal davon ab, dass Dinge wie Beziehungsstress, Liebeskummer, Ärger zwischen den Generationen und der Kampf ums Abwaschen in einer Landkommune auch nicht irrsinniger sind als hinter den Wänden einer Doppelhaushälfte in Schlafstadt Süd. Hier wird es zum bedeutenden Rollenspiel. Wir haben uns da an exakte Verteilungen gewöhnt: Das dogmatische Arschloch, der Kiffer, die politische Amazone, das geborene Hausmütterchen, die Abgeklärte, der künstlerisch aktive Träumer. Das Rollenspiel der typischen 68er-WG des deutschen Kinos ist eine Enzyklopädie des Steckengebliebenen für die Gegenwart.
Und das Biopic ein Style Project. Es findet sich gleichsam konzentriert in Das wilde Leben von Uschi Obermaier (2006, Achim Bornhak), das hemmungslos eine Spießerfamilie daherlügt, aus der ein abenteuerliches Mädchen im Jahr 1968 nur flüchten kann, die kiffende Musiker vorführt wie eine böse Karikatur und seine Helden noch beim Sex über »freien Sex« schwafeln lässt. Die 68er Jahre werden unbarmherzig biografisiert: Stefan Krohmer inszeniert jetzt ein Doku-Biopic über Rudi Dutschke für die ARD, und natürlich ist das große Projekt der Eichinger-Produktion Baader Meinhof Komplex nur wirksam als endgültige Erfüllung der Biografisierung. Diese Zeit muss zerbrochen werden in eine Soap und einen Biopic-Blockbuster, anders wird sie nicht mainstreamkompatibel. In Fernsehfilmen wie Der letzte Tanz (2005) – nur eines von vielen Beispielen – ist der Schatten von 68 in die immer gleiche Geschichte mit Variationen gegossen: Treffen sich zwei 68er wieder, der eine immer noch Aussteiger, der andere Karrierist. Und zwischen ihnen immer noch die Frau, die beide liebten… Die eingeseifte Erinnerung ist das Schlimmste, was einer Geschichte geschehen kann.
Der Träumer und der Gewalttäter
Die Post-68er-Filme dieser Sorte streben eine Versöhnung an, die auf falschen Voraussetzungen beruht. Da man ihre lustvolle Gegenwärtigkeit nicht reenacten kann, raubt man den Objekten der Medialisierung ihre politische Historizität. Und übrigbleibt, einmal mehr, der Sonder- und Störfall der bürgerlichen Biografie. Dafür gibt es die zwei romantischen Bezugspunkte, den Taugenichts, den Träumer und Verweigerer, und den Michael Kohlhaas, den Gewalttäter aus moralischer Kränkung. Neben den Filmen der Ratlosigkeit, in dem die Kinder auf die mehr oder weniger verschwundenen Eltern blicken, gibt es in der Erinnerung an 68 die Taugenichts- und die Kohlhaas-Filme. Und beinahe alle 68er-Filme sind vor allem Filme über eine verschwundene Generation. In der Taugenichts-Form ist sie verschwunden im Morast der Unerzogenen: Aus den Revoluzzern von einst sind wahlweise kleine Kriminelle oder Spießer mit überfüllten Bücherschränken geworden. Verschwunden in der Kohlhaas-Form als Gewalttäter, die schon bald Maß und Menschlichkeit verloren. Verschwunden in den spirituellen und makrobiotischen Ödländern, verschwunden in hedonistischen Blasen. Also genaugenommen: Verschwunden und doch nicht verschwunden. So werden Gespensterfilme gemacht.
Revolte und Utopie im Kino der Nachbarn
Denn im tiefsten Inneren geht es beim 68er-Bashing offensichtlich um etwas ganz anderes. Um die Angst vor der Einsamkeit. Hans Weingartner sagt das sehr treffend: »Einsamkeit macht krank.« Das »verrückte« Kollektiv steht gegen die Krankheit der Einsamkeit. Weingartner haut in Die fetten Jahre sind vorbei (2004) einigermaßen kräftig auf die 68er ein: »Ich stelle die Frage, wie verändert sich ein Mensch im Lauf seines Lebens. Muss man mit zunehmendem Alter wirklich immer konservativer werden? Ist das ein Naturgesetz oder kann man auch kritisch bleiben?« Doch wem stellt sich in einem Reenactment dieser Art eigentlich diese Frage? Eine verschwundene Generation hinterlässt einen Klumpen der Einsamkeit. Und zum zweiten Mal in der deutschen Geschichte kann das Überleben einer nächsten Generation nur darin liegen, mit einer teils verschwundenen, teils übermächtigen vorherigen zu brechen. Das Bild, auf das alles hinaus will im deutschen 68er-Film, zeigt das einsame Kind, das sich von den Gespenstern der Revolte und der Lähmung befreit.
Vielleicht liegt dieses Unverständnis ja auch sehr viel tiefer: Der Film, der zur Zeit des Geschehens um 68 entstand, das war ein Zeit-Film. Man verstand die Figuren und ihre Konflikte, indem man sie in der Zeit sah, als Töchter oder Söhne, als Wesen in der Geschichte, und dann: im Augenblick, auf den alles sich hin konzentrierte. Die konkrete soziale Geste nannte Godard das. Der Film unserer Tage ist eher ein Raum-Film; er erforscht Menschen, die mit mehr oder weniger absurden Räumlichkeit umgehen müssen oder daran scheitern; selbst »Heimat« – das ist nicht mehr eine Frage der Geschichte, sondern ein Raum von Wärme und Enge. Wenn nun ein Raumkonzept auf ein Zeitereignis trifft, ist da ein Missverständnis vorgeprägt: Es ist gewiss kein Wunder, dass der deutsche Film der Gegenwart seine 68er oder Post-68er immer gern als Erstes einmal einsperrt, sie in engen Räumlichkeiten aufeinanderhetzt, wie um genau das erst einmal herauszukürzen, was das zeitliche Wesen war: die Bewegung.
Selbst in dem Bemühen, den »Angeklagten« Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, beschreiben die deutschen 68er-Filme den Bruch. Denken wir dagegen an andere europäische Filme. Filme wie Philippe Garrels Les amants reguliers (Unruhestifter, 2005) oder Bernardo Bertoluccis Die Träumer (2003), die eigentlich dieselben Geschichten erzählen – vom Scheitern des Straßenkampfes und dem Rückzug in die Innenräume von Drogen, Sex und Kunst -, die aber eine Hoffnung auf wiedergewonnene Zeit artikulieren. Ein Ausdruck dieser Hoffnung ist schon die Tatsache, dass Philippe Garrels Sohn Louis in beiden Filmen spielt.
In Reprise (1996) entwickelt Hervé Le Roux sein Zeitbild aus einem studentisch-revolutionären Kurzfilm, La reprise du travail aux usines Wonder (1968), und fragt, was aus den Beteiligten geworden ist. Chris Marker hat seinen Film Le fond de l’air est rouge seit dem Jahr 1977 immer wieder bearbeitet. Ein vergleichbares Projekt, Bild und Erinnerung von 68 in einen Kontext der Zeit zu stellen, gibt es im deutschen Film nicht. Auch nicht den Versuch, so wie Alain Tanners Jonas et Lila, à demain (1999) eine Geschichte aus den 70er Jahren fortzuführen und den Verlust der Hoffnungen und der Gewissheiten mit einer Leichtigkeit zu dokumentieren, die alles, nur nicht den Verlust des Menschlichen zulässt. Daher vielleicht rührt auch, was dies anbelangt, hierzulande eine Unfähigkeit zur Trauer.
Nehmen französische und italienische Filme mit einer Mischung aus Ironie und Melancholie Widersprüche, Kontinuität und das Familiäre auf, so scheint bei den deutschen stets viel Abrechnung in die Annäherung. Oskar Roehlers Filmporträt seiner Mutter Gisela Elsner ist durchaus exemplarisch. Wir sehen, wie eine Frau, die als Linke mit einem einzigen Roman Furore macht, die Gesellschaft so analytisch beschreibt wie kaum jemand und doch an ihren Selbstzweifeln, an einer verrückten Liebe zum »realexistierenden Sozialismus« leidet, eine Frau, die mit dem Fall der Mauer selbst ans Ende gerät. Die Unberührbare (2000) aus dem Blickwinkel des Sohnes, der mit drei Jahren allein mit dem Vater zurückblieb, schreibt in eine Leere hinein. Roehler ist freilich ein ehrlicherer Filmemacher als so mancher; insofern porträtiert er sich auch selbst wenig schmeichelhaft in diesem Reenactment des Familienromans in maßloser Forderung. Auch in der Unberührbaren spürt man die Verräumlichung: Nicht das Leben und die Geschichte, nicht Entwicklung und Bewegung dieser übrigens großen Schriftstellerin werden geschildert, sondern ihre letzten klaustrophobischen Lebensmonate. Und das Leben selbst ist eine Art Museum.
Die Verräumlichung des Zeitproblems ist das eine, das andere ist die Voraussetzung eines Bruchs. In Agnes und seine Brüder ist es ein regelrechter Familienroman der heroischen 60er und 70er Jahre, der zersetzt wird. Und paradoxerweise scheint sich da das Schweigegebot fortgesetzt zu haben – etwas, das sich so nicht in italienischen oder französischen Filmen findet. In Antonia Birds Face (1997) zum Beispiel ist die Verwandlung von politischer in kriminelle Energie viel naheliegender: Robert Carlyle ist der Kriminelle, der auf Drängen seiner Freundin, die sich immer noch für politische Ideale einsetzt, aufhören will mit Gewalt und Gefahr – nach dem üblichen letzten Coup. Der Schrecken der Gewalt, in dem das alles endet, durchaus vergleichbar mit deutschen Terroristenfilmen, wird keinen Augenblick beschönigt: Da sind wirklich »furchtbare Menschen« entstanden. Aber der englische Film glaubt nicht daran, dass man sich mit einer einfachen Entscheidung aus dem Dilemma befreien kann.
Dass sich als Farce fortsetzen muss, was als Tragödie begann, davon erzählen einige deutsche Filme der letzten Jahre. In einer ganzen Reihe davon steht gegenüber diesem Übersprung von politischer in kriminelle Gewalt ein Missverständnis – die Fatalität, mit der Ernst aus dem Spiel wird, ganz unterschiedlich dargestellt in Christoph Hochhäuslers Falscher Bekenner (2005) oder in Nichts geht mehr (2007, Florian Mischa Böder), wo ein etwas aus dem Ruder gelaufener Jungenstreich von der Seite der Polizei als terroristischer Anschlag interpretiert wird. Zwischen dieser Generation und den scheiternden 68ern liegt noch ein anderes Scheitern, das der individualistischen Nutznießer der Boomjahre der 80er, die sich selbst gerne in den Beziehungs- und Aufsteigerkomödien dieser Zeit sahen. Und wer jung war in diesen Jahren träumte in Filmen wie Benjamin Quabecks Verschwende deine Jugend (2002) davon, Manager einer NDW-Band zu werden. Die Filme beschrieben am liebsten jenen Übergang, der in der kollektiven Erinnerung präsent ist, von der politischen und alternativen Szene zum hedonistischen Indoorvergnügen mitsamt der Verzweiflung und Pein, wie sie dann auch etwa Doris Dörrie in Nackt wiedergibt. Auf das Scheitern im politischen Raum, das Scheitern an den Idealen, folgt der Rückzug in eine private Hölle. Nach den moralischen aber gingen in den 90er Jahren auch die materiellen Hoffnungen verloren. Authentisches Elend, authentische Gewalt – was bringt da der Blick zurück? Die wichtigsten deutschen Filme können sich derzeit ohnehin nicht mit der Vergangenheit aufhalten.
und jetzt: die Generation Golf
Dabei ist ja das romantische Urpaar der Revolte, der Taugenichts und der Kohlhaas, mitnichten verschwunden. Der eine ist in Filmen wie Markus Mischkowskis Westend (2001) zu sehen, der andere erprobt sich als Ökoterrorist wie in Am Tag als Bobby Ewing starb. Die Geste des Widerstands muss allerdings neu erfunden werden. Leichter als an die heroische, komische oder tragische Geschichte der 68er ist dabei anzuknüpfen an frühere Formen, an die ursprüngliche künstlerische Moderne. Die fetten Jahre sind vorbei lässt sich ja auch als Darstellung einer situationistischen Anordnung ansehen: der Einbruch, die Gewalt gegen Sachen, als eingreifendes Kunstwerk. Erinnern wir uns an Rainer Werner Fassbinders Beitrag zu Deutschland im Herbst (1978), in dem das Private und das Politische auseinanderbricht in der Auseinandersetzung mit der Mutter und dem Freund – vergleicht man ihn mit Max Färberböcks Episodenfilm zum 11.9., September (2003), so wird diese doppelte Flucht besonders deutlich, die Flucht der Figuren und die Flucht des Films in den privaten Raum. Als könnte in der Tat die historische Tragödie den privaten Raum als heilsamer Schock erreichen! Oder eben, als hätte diese Generation nun erreicht, woran die 68er und ihr folgendes Gegenbild, die »Generation Golf«, so traurig und komisch gescheitert sind: Ich sagen inmitten der Welt. Nun endlich ist die Welt noch in ihren größten Katastrophen nichts als Egofutter. Und Fernsehfutter, um es genau zu sagen.
Der 68er, wie Dietrich Kuhlbrodt einmal gesagt hat: »inzwischen Lehrer, Schulrat oder Minister, der Typ, mit dem man Kids jagen kann«, ist ein trauriges Gespenst. Sein Verschwinden ist so tückisch, weil so wenig an seine Stelle treten konnte. Diese nostalgische Bilanz überträgt sich auch auf die Angehörigen der nächsten Generation, die etwa in dem Dokumentarfilm Mittendrin (2003) von Marco Wilms auf eine kurze Zeit der Freiheit im Scheunenviertel von Berlin um das Jahr 1989 zurückblicken. Und ganz direkt geht es darum, wie ein »Meer der Möglichkeiten« versumpft und vertrocknet. Das wird immer wieder geschehen, machen wir uns nichts vor. Aber es war da.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd Film
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