In Peking beginnen die Olympischen Spiele, bei denen keiner verlieren will, weshalb der erste Dopingfall nicht lange auf sich warten lassen wird. Ist das noch Sport?

„Sportlich“ zu sein, das war einst eine bürgerliche Tugend im doppelten Sinne. Sportlich war, wer etwas für seinen Körper tat, das keinen ökonomischen Sinn ergab, von erhebender, schöner, luxuriöser Sinnlosigkeit, und sportlich war, wer sich dabei an die Regeln hielt. Sportlich sein hieß damals explizit: verlieren können. Erst als das Bürgertum dazu überging, statt selbst aktiv zu sein, die Proleten für sich kämpfen zu lassen, sich den Sport (wieder) zum (jetzt medialisierten) Sklaven-Schauspiel zu machen, implizierte es die gnadenlose Gewinner-Moral. Sport wurde zu einer Verheißung des sozialen Aufstiegs, dazu musste der Prolet, der ein Star werden wollte oder wenigsten was zu fressen kriegen, einiges tun und mit sich tun lassen. Das Bürgertum zog sich derweil in vornehmere Sportarten zurück, in denen man noch „sportlich“ sein konnte. Allerdings war der Sport mittlerweile zu einem sozialen Subsystem von solcher ökonomischer Bedeutung geworden, dass er große Teile des Mittelstands wieder aufsog. Vom Klassenspektakel wurde der Sport im Neoliberalismus zur allgemein verpflichtenden Erfolgsmetapher und übernahm dabei weitgehend das sklavenhalterische Modell: Nur das Gewinnen ist die mögliche Erlösung. Und nur der vernichtete Gegner ist ein guter Gegner.

Der medial verbreitete Sport von heute ist eine Vermischung der beiden Klassensportarten, des bürgerlichen Luxussports und des proletarisch-sklavischen Aufstiegs- und Überlebenssports. Moralische Urteile sind schon fein heraus, wenn sie diese Dialektik ignorieren. Genau dies nun, dass man den Sport nicht nur als einigermaßen nützlich für Körper und Biographie, sondern auch als schön empfinden kann, ist es, was von der sozialen Aufstiegsmetapher wie vom Aufruf zum Titanischen und Rücksichtslosen zerstört wird. Fußballspiele, nur zum Beispiel, sind in aller Regel dann besonders schön, wenn die Spieler, statt über ihre körperlichen Grenzen hinaus zu gehen, Spielfreude und Phantasie zeigen können. Deshalb wird uns immer wieder vor Augen geführt, dass „schön spielen“ Schtonk ist, wenn man gewinnen will. Es ist aber nun die wechselnde Differenz zwischen Sportler und Zuschauer, was „das schöne Spiel“ und das „Gewinnen“ voneinander scheidet. Im Gewinnersport überträgt sich etwas von der Macht der Sklavenhalter und des Klassenkampfes auf den Zuschauer. Sport ist ein Medium symbolischer Macht und schon deshalb, gedopt oder nicht, alles andere als „rein“.

Das „Reinheitsgebot“ im Sport ist keine dieser kulturellen Technik aufgestülpte Moral, es ist eine Voraussetzung seiner metaphorischen und mythischen Gestalt: Schön ist eine sportliche Auseinandersetzung nur anzusehen, wenn es eine prinzipielle Gleichwertigkeit der Gegner gibt und wenn alles, was über Sieg und Niederlage entscheidet, sichtbar ist. Daher ist schon vom Handwerklichen her der Vergleich zwischen dem Drogen konsumierenden Künstler und dem dopenden Sportler, der verdächtig inflationär über uns kommt, grundverkehrt.

Die Beziehung zwischen dem Künstler und der Droge legitimiert sich, wenn überhaupt, durch das Hervorbringen eines solitären Ereignisses, eben des Kunstwerkes: des Unvergleichlichen, des Neuen. Die Beziehung zwischen dem Arbeiter und der Droge legitimiert sich, wenn überhaupt, durch die Abwehr der Ermüdung im Immergleichen: Kokablätter kauen bei der Feldarbeit, Schluck Bier auf der Baustelle, Kokslinie bei Übernahme-Verhandlungen. Die Ausrede ist immer identisch: dass man anders diesen Wahnsinn nicht aushält. Die Beziehung zwischen dem Sportler und der Droge legitimiert sich, wenn überhaupt, durch den Erfolg. Die Substanz führt in das Leere selbst hinein: Es ist weder, wie beim Künstler, Ausdruck absoluter Freiheit, noch, wie bei der Alltags-Arbeitsdroge, Ausdruck absoluten Zwangs. Wenn wir die Droge im Sport akzeptieren, verbinden wir noch einmal (aber dafür ist unsere motorisierte Zivilisation ja bekannt) den Überfluss und den Mangel. Durch die Droge jedenfalls bekommt der Sportler den Widerspruch zwischen Kunst und Arbeit nicht aufgelöst, der in seinem Tun beständig aufbrechen muss. Es ist diese Spannung, zugleich Sklavenarbeit zu verrichten und Herrscherruhm zu genießen, für die der Sport sorgt, und die, diesseits und jenseits der Spielfelder und Rennstrecken, erst durch die Droge zum Genuss werden kann.

Das Lieblingsargument für das Doping lautet: Warum sollten ausgerechnet Sportler auf etwas verzichten, was im Rest der Gesellschaft gang und gäbe ist? Eine eher konservative Antwort: Schließlich sollte der Sport doch immer so etwas wie eine utopische Gegenveranstaltung sein. Vielleicht ist im Krieg und in der Liebe alles erlaubt, im Sport nicht, denn er ist gleichsam das Urbild zivilisatorischer Regel: Das System ist „heiliger“ als der einzelne Teilnehmer, ein Sieg, der nicht innerhalb des Systems erzielt wurde, ist nichts wert. Einige Untaten gegen das System haben ihre Geschichten: Der offene, schlimmer noch der versteckte aggressive Regelverstoß, das Foul, der Tiefschlag. Der unerlaubte Trick bei der Ausrüstung, das Zauberschwert, die Düsenschuhe. Die Manipulation, Absprache, Sabotage und außersportliche Einschüchterung und Erpressung des Gegners. Und schließlich das Unbezwingbarkeitselexier, der Zaubertrank, die Droge. Machen wir uns nichts vor: Alle vier Systeme der Verstöße sorgen erst für den Thrill des Sports. Regeln sind nichts wert, die nicht übertreten werden. Verbotene Mittel anzuwenden ist im Sport, wenn wir den Quellen glauben dürfen, seit der Antike zugleich verbreitet und gefürchtet. Sehr zu recht reagierten die Götter einigermaßen gereizt auf Athleten, die sich mit Zaubertränken und Listen den Sieg eroberten. So wurden einige der großen Olympioniken zwar berühmt, aber nicht glücklich. Und auch aus den modernen Sporthimmeln müssen immer wieder ein paar Engel fallen. Das Böse ist auch im Sport nicht verschwunden, und es ist auch dort verteufelt verführerisch. Daher würde man die Fausto Coppis, Tom Simpsons und Marco Pantanis nicht ehren durch den Verzicht auf das Reinheitsgebot, sondern versenkte sie in geduldigem Mittelmaß. 

Aber vielleicht ist es Ihnen schon aufgefallen: Wenn einer der System-Verstöße gleichsam zum System selber wird, wird der damit zusammenhängende Sport ziemlich langweilig. Man verliert das Interesse an Boxkämpfen, wenn ohnehin klar ist, dass gewisse Favoriten sich ihr Fallobst in den Ring holen. Sportarten, bei denen es ohnehin nur auf die Qualität des technischen Materials ankommt, ziehen ein sehr überschaubares Publikum an. Und wenn Fußball nichts anderes ist, als dass am Ende Bayern München gewinnt, weil das der Verein ist, der sich noch bei der Reserve der Reserve Spitzenspieler leisten kann, droht selbst dieser varianten- und bilderreiche Sport seine Dramatik zu verlieren (und das Publikum muss sich selber zur Show machen). Beim Doping bei der Tour de France verhält es sich nun so, dass man eine lineare Verschiebung vornimmt, vom „reinen“ Sport zum „Die sind ja eh alle gedopt“. Es gibt keine Bösen im System, sondern das System ist böse. Und damit verliert das Höher-Schneller-Weiter noch seinen letzten magischen Touch. Wenn man ihn zum Dopen freigibt (denn ganz und gar freiwillig tut es ja kaum einer), dann raubt man dem Sportler den Rest seiner Würde.

Dass das Doping verboten ist, hat mehrere Gründe, und ein paar davon sind durchaus zivilisatorischer Art. Erstens, niemand wird das leugnen, sind die meisten der benutzten Substanzen gefährlich; würde man sie freigeben, wäre nicht Entspannung und neue Gleichheit die Folge, sondern ein Zwang zur Steigerung in einem Maße, dass Lebensgefahr der Regelfall wird.

Doping sollte zweitens verboten sein, da der allseitige Aufbau einer Sportlerkarriere in so jungen Jahren beginnt, in denen der Mensch keineswegs schon selbstbestimmt über die Einnahme der Mittel bestimmen kann. So soll unsere Sorge in einer Gesellschaft, die so fürsorglich ist, dass sie uns „mit allen Mitteln“ das Rauchen abgewöhnt, nicht so sehr dem Leichtathleten bei Olympia gelten, der, wie man so sagt, schließlich wissen muss, was er tut, sondern den Kids, die sich nicht zur Wehr setzen können in der Drillphase des kommenden Erfolgssportlers und schon Eigentum sind von Trainern und Funktionären und Sponsoren. Doping würde sich also nicht nur in der Dosis steigern müssen, sondern auch immer früher einsetzen, irgendwann braucht das Kind schon im Mutterleib leistungssteigernde Mittel, wenn es einmal auf dem Sportmarkt was werden will.

Drittens ist das Verbot der Dopingmittel ein Medium der – unperfekten – Chancengleichheit. Wenn die Mittel freigegeben würden, dann würde auf dem Konkurrenzmarkt jener bevorzugt, der sich entweder die besten, wirksamsten und vielleicht am wenigsten gesundheitsschädlichen Mittel leisten kann, oder sie von jemandem bekommt, der sich von seiner Karriere das eine oder das andere verspricht. Der Rest muss mit Mitteln fragwürdiger Provenienz Vorlieb nehmen – ganz so, wie auch jede legale und illegale Droge Genuss und Gefährdung nach Status seiner Konsumenten verteilt; die Besserverdienenden leisten sich den „guten Stoff“, die Verlierer pumpen den Dreck in sich hinein.

Die freigegebenen Dopingmittel machten den Sport viertens zum Drogenmarkt und Instrument seiner Werbung. Die meisten Aussagen mehr oder weniger reuiger „Sünder“ laufen auf eine Form der Suchterzeugung hinaus, bei der Angebot, Erfolg, Konkurrenzdruck und ein funktionierendes Netzwerk von Pushern ihre Rollen spielen. Akzeptierten wir den Anteil der Sucht beim Doping, so fiele es uns leichter, den „Sünder“ auch als Opfer zu sehen, als Mensch in der Auseinandersetzung mit einer Krankheit. Das Doping ist eine Sucht, bei der es, selbst wenn es ihn an einem Anfangspunkt einmal gegeben haben sollte (man kann das auch bezweifeln), einen „freien Willen“ bald nicht mehr gibt. Sehr eindringlich hat der Radsportler Jörg Jaksche geschildert, wie man sich anfänglich gegen das Spritzen wehrt, wie man „aufhören will“, und es dann, begleitet von „Professionalisierung“ und „ersten Erfolgen“ nicht mehr kann. Man erwartet, und da sind wir endgültig in der medialen Sklavenhaltergesellschaft, vom Sportler nicht nur, dass er sich stellvertretend für uns schindet (stellvertretend rauschhaft „Sieg“ erlebt), sondern auch, dass er sich stellvertretend für uns eine Drogenkarriere einhandelt.

Der Sport, sagen die Apologeten, kann nichts anders sein als ein Spiegel der Gesellschaften, die ihn organisieren. Und unser Sport sieht daher konsequenterweise so aus, wie er in einer konzernkapitalistischen Mediokratie aussehen muss. Eine ewige Abfolge von Ausscheidungs- und Castingshows. Wenn es aber nun im Sport genau so zugehen soll wie im richtigen Leben, wozu brauchen wir ihn dann? Er wird auf diese Weise vom Ideal zur Karikatur. Wahrscheinlich brauchen wir keine Ideale mehr; wir können sie uns nicht leisten, sie bringen nichts ein. „Sportlich sein“, verlieren können, auf den Sieg verzichten, das bringt nichts.

Aber Karikaturen haben wir andererseits auch schon genug.

 

Autor: Georg Seeßlen