Die Tapferkeit der Protestierenden kränkt die Politiker tief
Revolutionen, hieß es einst bei den Marxisten, sind die Lokomotiven der Geschichte. Oh nein, antwortete Walter Benjamin, Revolutionen sind die Notbremsen. Da geht es darum, nicht in den Abgrund zu rasen, und wehe dem Volk, das den richtigen Zeitpunkt verpasst, diese Notbremse zu ziehen.
Hat man’s in kleinerer Münze als Revolte, als Einspruch, als Demonstration, als zivilen Widerstand, als öffentliche Kritik, dann sind die beiden Grundpositionen auch nicht viel anders: Geht es darum, die Demokratie demokratischer zu machen und den Kapitalismus menschlicher? Oder geht es darum, zur Notbremse zu greifen, da unser Staat – aber die Staaten in der Nachbarschaft scheinen da ganz ähnlich nicht mehr zu funktionieren – dazu übergegangen ist, seine Bürger zu enteignen und zu entmündigen?
Was in den letzten Monaten geschieht, in Frankreich, in Deutschland, in England – auch in Griechenland gibt es neue Allianzen des Widerstands -, ist in den Formen sehr unterschiedlich und in den Ursachen sehr ähnlich. Es ist offensichtlich ein Aufstand der Bürgerinnen und Bürger aus der Mitte gegen eine politische Klasse, die das Volk mit einer Fernsehkamera verwechselt. Das entspricht viel eher der Benjaminschen Notbremse als dem optimistischen Lokomotiven-Bild.
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Es ist die Doppelstrategie von Enteignung und Entmündigung,
es ist die Arroganz der Macht im Verbund mit kurzfristigen Profitinteressen,
welche die Bürger auf die Straße treibt.
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Mit „Klassenkampf“ hat das höchstens auf Umwegen zu tun, und noch weniger mit Ideologie. Utopie, Dogma, Geschichtsbild, Parteilichkeit, Begriffe und Theorien – all das hat seinen Führungsanspruch verloren. Für die Demonstranten in Stuttgart, in Gorleben und demnächst in Ihrer Stadt, geht es um keine historische Transzendenz. Vielmehr geht es um zwei Dinge gleichzeitig: Um „die Sache“, also um einen konkreten Raum, seine Veränderung und Enteignung. Und es geht darum, die politische Entmündigung nicht auf sich beruhen zu lassen. Offensichtlich ist die Entmündigung – siehe Stuttgart – derzeit der Aspekt, der am meisten Energie und „Masse“ erzeugt. Aber jeweils zeigt sich eine gar nicht so kleine persönliche Tapferkeit.
Und vielleicht ist es gerade diese Tapferkeit, die die Politiker augenblicklich so tief kränkt. Und daher greifen sie zu den ältesten und dümmsten, aber leider immer noch nicht ungefährlichen Mitteln: Sie versuchen, aus den Verteidigern Angreifer zu machen. Sie behaupten, der Griff nach der Notbremse sei das Gefährliche und nicht die Gefahr, vor der es zu bremsen gälte. Manche von ihnen würden am liebsten die Notbremsen abschaffen, wie unser Innenminister de Maizière mit einem sehr, sehr eigenwilligen Demokratieverständnis.
Nach wie vor spielt die Gewalt bei der Einschüchterung der Bürger und Bürgerinnen eine Schlüsselrolle. Provoziere Gewalt, und du kannst die Bewegung spalten und gibst deinen Lieblingsmedien das Futter für die Diskriminierungsarbeit. Es ist nur allzu deutlich, dass der Polizei-Einsatz in Stuttgart in diese Richtung zielte. Es hat hier nicht mehr geklappt, und in Gorleben schon gar nicht. Stattdessen wird die Gewalt des Staates gegen seine Bürger sichtbar, die immer wieder über das Maß hinaus geht, was eine humanistische Demokratie verträgt.
Zivile Revolte, Kritik und persönliche Tapferkeit im Widerstand sind zuförderst Symptome einer tiefen Entfremdung. Die Notbremse muss gezogen werden, weil der Staat drauf und dran ist, sein politisches Subjekt, den mündigen, freien und verantwortlichen Bürger, abzuschaffen. (Woran soll ein Staat, der der Wirtschaft gehört, sparen, wenn nicht an seinen Untertanen?) Der bürgerliche Demonstrant gegen den staatlich-ökonomischen Wahnsinn kämpft nicht nur gegen etwas, sondern auch um etwas, nämlich um sich selbst. Um seine Rechte, um seine Würde. Es ist diese Doppelstrategie von Enteignung und Entmündigung, es ist die Arroganz der Macht im Verbund mit kurzfristigen Profitinteressen, welche die Bürger auf die Straße treibt.
Das Schöne an der Demokratie ist, dass sie sich nicht als perfektes System missversteht, sondern als ein stets verbesserungswürdiges und verbesserungsfähiges. Letzteres aber ist nicht nur in der Praxis, sondern auch schon in der Rhetorik abgeschafft. Die Hoffnungen der Bürger in der Demokratie lagen auf den Selbstheilungskräften des Systems. Diese soziale Kybernetik funktioniert aber nur (schlecht und recht, aber immerhin), solange der Staat und seine Bürger sich nicht bloß formal und medial verständigen können, solange sich Politik und Gesellschaft nicht gegenseitig verachten.
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Die Notbremse muss gezogen werden,weil der Staat drauf und dran ist,
sein politisches Subjekt, den mündigen,
freien und verantwortlichen Bürger, abzuschaffen.
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Politiker, die das Wahl- und Steuervolk verachten und in Bürgerinnen und Bürgern allenfalls die nützlichen Idioten sehen, führen die Lokomotive zielsicher auf den Abgrund zu. Es ist Bürgerpflicht, sie zu bremsen.
Zugegeben: Ein Widerstand aus der Mitte der Bürger betrifft vor allem die Dinge, die des Bürgers sind. Es fehlt das Fieber einer Revolution mit offenem Ausgang. Es fehlt alle unvernünftige Hoffnung. Und es fehlt die Möglichkeit des radikalen Bruchs. Bürgerliche Revolutionen, wenn es so etwas gibt, haben indes stets auch allgemeinere Rechte verhandelt – bis sie, saturiert oder eingeschüchtert, zusammengebrochen sind.
Dass zu Guttenberg nun öffentlich macht, dass in Afghanistan vor allem deutsche Wirtschaftsinteressen (die Interessen der deutschen Wirtschaft) „verteidigt“ werden, bedeutet auch eine innenpolitische Kampfansage. Die moralische Fraktion des Bürgertums wird von der anderen Seite, der Fraktion des ökonomischen Zynismus, noch einmal verlacht und ausgegrenzt. Eure Gutheit kotzt uns an, sagen sie und lassen die Polizei- und Medienhunde los. Auch die FAZ verhöhnt den moralischen Teil des deutschen Bürgertums: Da wehrt man sich im Feuilleton dagegen, dass alles zu Stuttgart 21 werde, „nur weil man sich einmal etwas Großes ausgedacht hat“.
Politiker à la Guttenberg und seine Wahlverwandten sind bereit, in Afghanistan wie in Stuttgart Opfer für die Interessen der Wirtschaft zu bringen. Der Aufstand der moralischen Bürger hat sie, das ist nicht zu verachten, zuerst zu einer überraschenden Ehrlichkeit gezwungen. Daher: Gleichgültig, wie sie „ausgehen“, die bürgerlichen Revolten haben schon jetzt für Aufklärung gesorgt: Kaum eine oder einer kann sagen, er oder sie hätten von nichts gewusst.
Text: Georg Seeßlen
Text erschienen in taz, 16.11.2010
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