Wenn der Regierung das Volk nicht passt, hat Bert Brecht mal gespottet, dann solle sie es doch auflösen und sich ein neues wählen. Sieht so aus, als würde genau dies gerade passieren. Die Merkel/Westerwelle-Regierung wählt sich nicht gerade ein neues Volk, es ist ja auch gerade kein passendes frei, aber sie erfindet sich ein genehmes Volk indem sie nach ihrem Belieben definiert, wer dazu gehört und wer nicht. Kein Kunststück, man kann ja auch definieren, was man unter arbeitslos, unter systemrelevant und unter Demokratie versteht. Wo sind die Grenzen zwischen deutscher Intelligenz und Kopftuchmädchen?
Man sah das sehr schön beim Münchener Oktoberfest: Wer nicht erstmal einen lockeren Tausender für Tracht und Lederhosen ausgibt, damit man aussieht wie in einem Jodelsexfilm der siebziger Jahre, und wer nicht einen Hunderter mindestens rausballert, um sich eine nette kleine Alkoholvergiftung, oans, zwoa, gsuffa, einhandelt, der oder die gehört eben nicht zur deutschen Leitkultur, Prosit der Gemütlichkeit, das ist keiner von uns, womöglich ist er auch noch gegen einen Fortschritt, wie in Stuttgart, noch eine Mass Bier für 9,60 Euro, so ein paar alte Bäume, Prost Herr Nachbar, ist uns doch wurscht, da sagen wir „Wasser Marsch“, und jetzt geh’ ma zum Schießstand.
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Wenn’s die Lügengeschichten nicht schaffen, dann kommt der Polizeiknüppel.
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Und neu ist so ein Vorgehen erst recht nicht: Seit 250 Jahren haben hierzulande konservatives Bürgertum, Wirtschaft und Staat sich ihre Ausgegrenzten und ihre Feinde geschaffen, ihr Bündnis zu festigen. Wenn es ihnen nicht gelingt, die Köpfe ihrer Opfer durch Blödheit, mit BILD und Fernsehen und Talkshowblubbern zu leeren, dann lassen sie ihre Polizeiknüppel auf ihnen tanzen. Das ist vielleicht nur die halbe Wahrheit. Denn ab und zu will die Regierung auch einfach so die Polizeiknüppel tanzen lassen, um unmissverständlich klar zu machen: Wer nicht blöd genug ist, sich den Interessen von Kapital und Regierung zu unterwerfen, der gehört nicht mehr zu uns.
Insofern haben uns, ohne allzu zynisch zu sein, die vermummten, fehlgeleiteten, frustierten jungen Männer und Frauen in Stuttgart, die schlecht bezahlten, von politischen Zündlern aufgewiegelten und von Sympathisanten bis in bürgerliche Kreise hinein unterstützten Staatshooligans, man nennt es auch „Bereitschaftspolizei“, doch einen Gefallen getan. Sie haben die verborgene Wahrheit politischer Herrschaft in der Merkel/Westerwelle-Ära sichtbar gemacht.
So weit, so bekannt. Wenn es um die Interessen des Kapitals geht, dann haben sich auch demokratische Regierungen bei der Anwendung von Gewalt gegen das eigene Volk noch nie besonders zimperlich gezeigt. Oft genug mit einer klammheimlichen Zustimmung einer schweigenden Mehrheit, wenn es um unerwünschte „Ausländer“, um „Abschaum“, um „ungewaschene Randalierer“, um „Schmarotzer“ und andere geht, die einfach raus und weg gehören. Wozu haben wir eine Presse, der wir noch gern glauben, „wenn sie uns frecherweise ins Gesicht lügt“? Das hat übrigens, und natürlich vergebens, weil wir gerade bei Brecht sind, der Augsburger Sozialdemokrat Tauscher im Jahr 1871 seinen Kollegen vermittelt, weil sie die streikenden Arbeiter der Tuchfabriken im Stich ließen, weil in der Zeitung stand, dass deren „Anführer den Streik provozieren, um mit allen Mitteln um sich mit Verbrechern aller Art und irre geleiteten Arbeitern einen Anhang zu verschaffen“. Nichts hat sich an dieser Rhetorik geändert, und nichts an dem Umstand, dass eine bürgerliche Mitte auch immer wieder nur allzu gern darauf hereinfällt. Oder?
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Wer nicht blöd genug ist, sich den Interessen von Kapital
und Regierung zu unterwerfen, der gehört nicht mehr zu uns.
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Drei Dinge unterscheiden sich bei den Geschehnissen in Stuttgart gegenüber vorherigen und parallelen Schulterschlüssen zwischen Kapital und Regierung gegen aufmuckende Teile des Volkes. Erstens: Wer da Wasserwerfer, Knüppel und Pfefferspray der regelrecht „losgelassenen“ Polizei zu spüren bekommt, das sind nicht mehr langhaarige Revoluzzer-Studenten, punkige Krawalltouristen oder wenigstens Ökospinner und Friedenshetzer, das sind gute Bürger, Rentner, Angestellte, Schüler, manche mitsamt ihren Lehrern (das werden peinliche Staatsbürgerkund-Unterrichtsstunden, nicht wahr?), das sind genau die Vertreter der Mitte, auf die sich eine Regierung wie die Merkel/Westerwellesche nur berufen kann. Konnte man früher von einer „guten bürgerlichen Mitte“ sprechen, in deren Namen man Staatsgewalt gegen „außer Rand und Band geratene“ zornige Minderheiten einsetzte, so sehen wir in Stuttgart die Gewalt eines außer Rand und Band geratenen wirtschaftshörigen Staates gegen seine „gute bürgerliche Mitte“. Eine Regierung wie die von Merkel und Westerwelle braucht Banken und sie braucht Medien. Ein Volk braucht sie offensichtlich nicht mehr.
Das zweite, was sich offensichtlich ändert, ist die Präsenz der unendlich vernetzten Bildermaschinen. Früher war es für eine von der Allianz aus Staat und Kapital angegriffene Minderheit extrem schwierig, eine Form der „Gegenöffentlichkeit“ herzustellen. Tauscher, um unser Beispiel wieder aufzugreifen, gründete eine Zeitung mit dem Namen „Der Proletarier“, und die kam den Zensoren gerade recht: Der Versuch, eine Gegenöffentlichkeit herzustellen definierte der mächtigen Gegenseite gerade erst das Feindbild. Eine diskursive Gegenöffentlichkeit herzustellen ist in der Herrschaft der medialen Blödmaschinen wohl eher noch schwieriger geworden. Aber die Bilder lassen sich nicht unterdrücken. Und sie entlarven nicht nur die Lügen der Polizeiführung und der Politiker in Echtzeit. Sie verbreiten nicht nur die Details der Schande dieses Bürgerkriegs von oben. Das Bild der fallenden Bäume im Park brennt sich auch ein als ein Dokument der Barbarei. Nicht konkreter Mensch und nicht erhabene Natur ist sicher, wo die Immobiliengier des flüchtenden Kapitals herrscht. Übrigens ist es natürlich reiner Zufall, dass wir gerade jetzt erfahren, dass sich in keiner anderen Stadt Deutschlands die Mafia so festsetzen und sich ausbreiten kann wie in Stuttgart.
Und ein drittes ist unterschieden: Durch die Finanzkrise und die Art ihrer Bewältigung ist das Vertrauen zwischen dem liberalen Bürgertum und der Regierung à la Merkel/Westerwelle schon nachhaltig gestört. Der taktische Sinn des Polizeieinsatzes in Stuttgart ist nur zu deutlich (auch unser Freund Tauscher bekam ihn zu spüren): Es geht um die Spaltung der „Demonstranten“ in einen ängstlich-friedlichen und in einen zornig-widerständigen Teil (letzterer wird in den nächsten Einsätzen weiter isoliert und traktiert, ersterer weiter eingeschüchtert und distanziert), und zur gleichen Zeit werden Fakten geschaffen. Es geht nicht allein um die Abwehr von Kritik und Protest, es geht um ihre Verhöhnung. Strategisch indessen geschieht etwas anderes: Auch die Klientel einer Merkel/Westerwelle-Regierung beginnt sich unter dem Eindruck einer solchen Vorgehensweise zu spalten. Die Balance zwischen dem Liberalen und dem Konservativen im deutschen Bürger kommt zu Fall; die Regierung mit dem Wirtschaftskasperle Westerwelle (ich wette meine Talking Heads-Raritäten gegen ein Helmut-Kohl-Autogramm dass er in den Rang einer der schlechtesten Politiker der Nachkriegszeit in die Analen eingehen wird) und der so gar nicht mütterlichen Angela Merkel und ihren unbarmherzigen Schwestern im Kabinett verliert in der Mitte, was sie rechts mit den dazu abgestellten Hardlinern nur auf höchst kontaminierte Weise gewinnt.
Also schnell mal, während die nächsten Stuttgart 21-Bürgerkriegsschauplätze hergerichtet werden und die Zukunft unter den Konzernen aufgeteilt wird, wieder ein bisschen „konservativ“ werden, wenigstens so auf BILD-Niveau. Was aber zum Teufel kann noch konservativ sein, wenn man unentwegt demonstriert, dass das einzige, was man für erhaltenswert erachtet die eigene Macht ist? Roland Koch, unnachahmlich wie immer, gibt in der Frankfurter Sonntagszeitung Auskunft auf die Frage, was er unter „konservativ“ versteht: „Man muss für die Familie kämpfen, man muss für das Lebensrecht kämpfen, da steht man mitten im Streit. Man muss für Patriotismus kämpfen, für Integration, für eine Dienstpflicht – wenn man sie denn will – für den Platz der Religion, für unsere Wirtschaftsform“. Blubberquax! „Konservativ“ im Jahr von Stuttgart 21 ist also nichts als ein bisschen reaktionärer Nebel um die Unterwerfung der Demokratie unter unsere, ahem, Wirtschaftsform.
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Kein Wunder also, dass neue Kräfte in die von den unsozialen Sozialdemokraten
und den unchristlichen Christdemokraten selbst entleerte Mitte drängen.
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Kein Wunder also, dass neue Kräfte in die von den unsozialen Sozialdemokraten und den unchristlichen Christdemokraten selbst entleerte Mitte drängen. (Auch an den Rändern tut sich was, aber das ist eine andere Geschichte.) Die Westerwellesche Post-Spaßpartei hat ihre Fähigkeit, ein auch moralisch, vor- und fürsorglich denkendes liberal-konservatives Bürgertum zu repräsentierten, nachhaltig verspielt, die SPD müsste sich von ihrer Agenda-Schröder so offen verabschieden wie man sich in England von „New Labour“ verabschiedet und die idiotische Abgrenzerei von der Linken aufgeben. Macht sie aber nicht. Bleibt als Repräsentanz für eine bürgerliche Mitte, die gewiss keine Revolutionen, Konservatismus in bescheidenen Dosierungen, keinen Außer-Rand-und-Band- sondern einen dezenten Kapitalismus will, eigentlich nur eine Partei: die Grünen.
Ob das wirklich so gut ist, für die Partei einerseits, für uns andrerseits? Schwer zu sagen. Die Mitte ist nicht nur ein etwas langweiliger, sondern auch ein korruptionsanfälliger Ort.
…korruptionsanfällig. Und als Projektionsfläche für die Restmitte der Gesellschaft muss man sich nicht nur mit den moralischen Anwürfen herumschlagen, das Unmöglichste noch mitzutragen um Macht…, Verzeihung, um „mit gestalten zu können“, die Schröderfischer-Zeit ist ja weder vergessen noch vergeben, sondern eben auch jenen Erosionsprozess volkstümlich-medialer Auflösung zu erleben: Es bedeutet das „konservativ“ bei den Konservativen nicht mehr viel, das „sozial“ bei den Sozialdemokraten und das „liberal“ bei der FDP noch weniger, und am Ende ist auch „grün“ nur noch ein Milieu-Label. Die Partei ist umso erfolgreicher, je weniger sie an den Verhältnissen ändert. Es ist die Partei, mit der das Restbürgertum ungefähr auf eine Weise alt wird, wie vor zwei, drei Generationen Arbeiter mit „ihrer“ SPD alt wurden. Während ihre Repräsentanten immer „bürgerlicher“ werden, und zwar auf eine Weise, die die medienkontaminierten Vertreter der „Altparteien“ gar nicht mehr hinkriegen, verlieren die Grünen als Bewegung den Schwung. Sie sind die „eigentlichen“ Konservativen, natürlich auch die „eigentlich“ sozialen und in gewisser Weise auch die „eigentlich“ Liberalen, und damit versprechen sie, die historischen Widersprüche aus der Geschichte der bürgerlichen Klasse zu überwinden. Im grünen Label könnte man derzeit das einzige Projekt des Bürgertums sehen, sich noch einmal zu erfinden. Das Label für gutes bürgerliches Gewissen und der unverbindliche politische Rahmen für höchst unterschiedliche Impulse und Koalitionen erzeugen gemeinsam eine Art der „vernünftigen Gemütlichkeit“ und des moralischen Pragmatismus, eine politische „Heimat“ für einen Stand, der so was dringend braucht. Als Vertreter der allerneuesten Mitte sind die Grünen wahlweise ganz okay (was hätten wir denn sonst anzubieten?), die Lizenz zum vertüttelten Leben oder auf geradem Weg zur Selbstaufhebung einer einstigen oppositionellen Bewegung. Zu retten ist diese Klasse, die sich da noch einmal eine Idee geben will, ohnehin nicht, und zum Risiko ihres Untergangs fragen sie ihren Soziologen oder ihre Philosophin.
Denn möglicherweise geht ein Kalkül jener Regierungsform auf, die nach dem Merkel/Westerwelle-Desaster kommen werden: Das neu geformte Wahlvolk ist viel, viel kleiner als es mal war. Da sind erst mal die neuen Unterschichten weggebrochen (oder weggebrochen worden, wie man es nimmt), dann hat man die kritische Intelligenz medial abgeschafft, die Jugend hat man, bis sie wählen kann, schon so radikal verscheißert, dass die auch keine Lust mehr hat, irgendwo ein wohlfeiles Kreuzchen zu machen, auf „neue“ Staatsbürger hat man seine rechtspopulistischen Hunde losgelassen. Aber um an der Macht zu bleiben reicht ein solches wählendes Restvolk, das sich die Regierung gewählt hat, ohne weiteres aus, with a little help dieser neuen Mitte-Repräsentanz. Wir, das Volk, das sich Demokratie vielleicht einmal vorgestellt hat, wir fühlen uns derweilen wirklich einigermaßen aufgelöst: Wenn’s die Lügengeschichten nicht schaffen, dann kommt der Polizeiknüppel.
Text: Georg Seeßlen
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