Die Krawatte: männlicher Zeichenschmuck in Krieg und Frieden
Die schicken Krawatten der Herren gehören, wie der Begründer der Werbepsychologie, Ernest Dichter, kategorisch erklärt, zu jenen Dingen, die nichts mit Vernunft zu tun haben. Tatsächlich ist es ziemlich zwecklos, sich mit jemandem vernünftig über Krawatten zu unterhalten – und darüber, warum sie nach den schlipslosen New-Economy-Jahren wieder an Einfluss gewinnen.
Weder mit einem Mann, der in seinem Binder ein subtiles Stück individuellen Ausdrucks in einer so konformistischen wie konfusen Welt der Männerkleidung sieht. Und ebenso wenig mit dem, der darin nur ein fesselndes Element bürgerlicher Unfreiheit erkennt und die irgendwie schutzbedürftige Vorderfront des Mannes lieber mit einem superauthentischen Norwegerpullover bedeckt. Oder mit dem Designerhemd.
Die Krawatte ist ein politisches, persönliches und sexuelles Zeichen. Niemand hat das besser gewusst als Oliver Hardy (Dick & Doof), der schöne Damen anzüglich und weltmännisch mit seiner Krawatte anzuwedeln pflegte (und dafür regelmäßig eine Ohrfeige kassierte). In den Jahren 2000 und Anfang 2001 wurde der dress code im mittleren und höheren Management in modischen Fachblättern wie der Financial Times oder dem Handelsblatt verhandelt und zum Easy Look verklärt. Dies schien ein partieller Sieg der krawattenlosen New Economy zu sein. Eine Verjüngung, Dynamisierung um jeden Preis, selbst den einer neuerlichen Produktion von Peinlichkeit. Ganz geheuer war das nie, die Geschmackspolizei warnte so schnell wie die Herrenausstatter, die ja die etwas geheimeren Wünsche ihrer Kunden kennen.
Übrigens ist auch meine eigene Krawattenbiografie durchsetzt von vielen unvernünftigen und schlicht wahnsinnigen Ereignissen. Meine erste Krawatte, zum Beispiel, war eine Fliege. Nein, nicht einmal das, es war eine Fliegenimitation an einem Gummiband, das unter dem Kragen eines Nyltesthemdes verborgen war. Weil die meisten Jungen meines Alters Krawatten oder Fliegen an Gummibändern trugen, war es ein großer Spaß, an den Dingern zu ziehen und sie mehr oder minder schmerzhaft zurückschnellen zu lassen. Freilich: Was ich für eine Dekadenzerscheinung der Wirtschaftswunderzeit hielt (mit dem beklagenswerten Nebeneffekt, dass niemand in der Lage war, mir einen Windsor-Knoten beizubringen), hat, wie ich später erfuhr, eine lange Geschichte. Die fertig gebundene Krawatte war schon im 19. Jahrhundert als stocks in Großbritannien eingeführt. Da war die Schließe aus Metall, weshalb sie gelötete Krawatte hieß.
Mein schlimmstes Krawattenerlebnis wurde aber durch das Geschenk eines amerikanischen Freundes, eines wahren Schlipsfetischisten, nebenbei gesagt, ausgelöst. Ohne es zu wissen, trug ich damit ein höchst obszönes Bild am Hals spazieren, das nur unter gewissen Lichtbedingungen sichtbar wurde. Später bin ich Krawatten mit Hammer und Sichel, Krawatten aus Holz, voll gekleckerten Krawatten, Krawatten von Versace, Krawatten im Rührfix begegnet. Ich erwähne das alles, um schon zu klären, dass die Geschichte der Krawatte neben der modisch erzeugten Würde auch als eine Geschichte der Peinlichkeiten zu schreiben wäre. Weshalb der postmoderne Krawattenträger zu seinem Symboltextil auch eine gefälligst ironische Haltung pflegt. Die postmoderne Krawatte ist eine Jenseits-der-Peinlichkeit-Krawatte und eine Krawatte, die immer wieder von Auszeiten bedroht ist.
Die Krawatte ist nichts Vernünftiges, aber etwas Verlässliches. Und so meldete denn auch die Krawattenbranche genau im Jahr 2000 neue Rekordabsatzzahlen, als in den Unternehmen der Easy Look, das krawattenlose Auftreten, offizielle Doktrin war. Man stelle sich vor: Manager, die abends heimlich vor dem Spiegel die Krawatte anziehen, die ihnen so rüde vom New-Economybegeisterten Boss im Büro verboten wurde!
Während der Absatz in den Jahren 1992 bis 1999 auf dem deutschen Krawattenmarkt von 20 auf 14 Millionen Stück sackte, erlebte er 2000 und 2001 einen neuen Boom. Aber auch der Anteil der mehr oder weniger endgültig Verlorenen scheint sich zu festigen. 40 Prozent der deutschen Männer besitzen heutzutage keinen einzigen Schlips. Schlimmer: Sie haben auch nicht vor, sich einen anzuschaffen. So kamen die Binder sozusagen heimlich zurück, als das, was Werner Baldessarini von Boss als das demütige Modell bezeichnete: Die Renaissance bereitete sich unauffällig nach innen wie nach außen vor, die ideale (übrigens bourdeauxrote) Krawatte des Jahres 2000 war vor allem eine autistische Krawatte, die security blanket der Krisenmanager. Ein Ich-Textil, das seine Funktionen über die Jahrhunderte geschärft hatte.
In Krisenzeiten wird die Krawatte breit
Sogar das Wort hat eine missverständliche Geschichte hinter sich. Es kommt natürlich aus dem Land der modebewussten Franzosen (cravate), aber die haben es ihrerseits zuerst aus dem Deutschen übernommen, in dem vor langer Zeit Krawat der volkstümliche Ausdruck für den Kroaten war. Vermutlich waren es römische Legionäre, die dort von den Einheimischen das Tragen eines Halstuches zum Schutz gegen Kälte und Staub übernommen haben. Wenn sich einer von ihnen in Rom damit erwischen ließ, galt er als weibisch. Im Übergang zum Mittelalter scheint sich dieses Vorurteil gelegt zu haben, die cravata gehörte zur semiotischen Grundausstattung des guten Soldaten. Der Dreißigjährige Krieg bot Gelegenheit, dieses offensichtlich irgendwie faszinierende Halstuch in Europa zu verbreiten. Vollkommen verloren hat die Krawatte den militärischen Ursprung nie, auch wenn sie Phasen heftiger Zivilisierung, ja des gänzlich unkriegerischen Dandytums erlebte.
Die zivile Geschichte der Krawatte begann um 1670 als Schmuck der damals langhaarigen Herren, denen an einem Halstuch durchaus gelegen sein musste.
Man kam auf die Idee, das Ding mit einem speziellen Knoten zu sichern: Es waren nationale und soziale Zeichen, Zeichen von Noblesse, Dandytum, Zeichen von Reaktion und Revolte. Von Sexualität und Politik. Der Politik schien zunächst vor allem der Diskurs der Farbe vorbehalten. 1848 bezeichneten sich Sympathisanten der Revolte mit tiefroten Krawatten. Im Jahr 2001 wird der Bundeskanzler Schröder von der Zeitschrift Men’s Health ohne satirischen Hintersinn für seinen Mut ausgezeichnet, sich in einer rosafarbenen Krawatte zu zeigen. Ich wage nicht drüber nachzudenken, was uns das zu sagen hat.
Der Knoten oder die Schleife zeugte dagegen von Lebensart. Honoré de Balzac schlug 28 Arten für die Kunst, eine Krawatte zu binden vor und unterschied etwa einen sentimentalen von einem leidenschaftlichen Knoten. Der Trick ist einfach, von heute aus gesehen: Balzac negiert mehr oder weniger den Aspekt Ausweis (von Generation, Klasse, Nation) und stellt stattdessen den Aspekt Botschaft in der Krawatte und im Tragen einer solchen heraus. So gibt es also zwei Krawattenwidersprüche: Krawatte oder Nichtkrawatte oder aber Krawatte als Ausweis oder Botschaft. Der „Hier dürfen Sie ohne Krawatte nicht hinein“-Aspekt. Und der „Meine Krawatte ist ein Kunstwerk“-Aspekt. Ich vermute: Wenn es diese Widersprüche nicht gäbe, wäre die Geschichte der Krawatte längst zu Ende. So aber wird jede Männerbiografie auch zu einer Krawattenbiografie, wenn vielleicht nur in der Form einer Antikrawattenbiografie. Und dabei natürlich zu einer Metapher auf den ewigen Kampf zwischen dem Vorgeschriebenen und dem Erträumten, zwischen Old School und New School.
Die Syntax der Krawatte ist also mittlerweile hinreichend entwickelt: Die Farbe steht für Stimmung und (politische) Überzeugung, die Bindung für individuellen oder kollektiven Lebensstil (irgendetwas zwischen locker und lässig einerseits, kontrolliert und festgebunden andererseits). Bliebe die Breite des von seiner so nützlichen Funktion zum Schmuckstück mutierten Textils als Symptom oder Anagramm wie man mit den (Post-) Strukturalisten Lacan oder Deleuze sagen könnte. Und: Was heißt es, wenn die Krawatte heute wieder schmal wird? Dazu gleich.
Geschichtlich gesehen, gibt es einen fortwährenden Krieg zwischen drei Fraktionen: Fraktion eins bilden die Krawatten-Dandys, die in kunstvoll gebundenen Schleifen und subtilen Stoffmustern ein ästhetisches Meisterwerk sehen. Fraktion zwei sind die Krawattenreaktionäre, die mit ihrem Kleintextil vor allem die Zugehörigkeit zu einer verantwortungsvollen wie mächtigen Herrschaftsschicht ausdrücken. Und in Fraktion drei schließlich finden sich die Krawattenverächter, denen nicht nur der Ausdruck, sondern die ganze Sprache der männlichen Halsmode suspekt ist.
Die erste wirklich schlanke Krawatte, die nun wieder modern ist, glaubt man den aktuellen Modekampagnen, tauchte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf, das sich gerade überlegte, ob es ein Jahrhundert der Aufklärung werden sollte. Diese Verschlankung machte die Befestigung an der Hemdbrust nötig, und das war die Geburtsstunde der Krawattennadel. Mit der Krawattennadel begann nach dem Geschlecht, der Klasse und der Kultur ein weiterer Diskurs am Männerhals, nämlich der des Reichtums. Mit einer Krawatte kann man sich vielleicht profilieren. Mit einer Krawattennadel kann man auf die unauffälligste Art protzen: Ehrenkrawattennadel, Kennung vom Golfklub.
Irgendwie scheint es hier immer um Dinge zu gehen, die man ausdrücken will, und um Dinge, die man verbergen will. Den Hals, die Seele. Am Ende des 18. Jahrhunderts, man begann sich nun von der Ankurbelung des Handels mehr als von der Aufklärung zu versprechen, wurden die Krawatten wieder entschieden breiter. Gleichzeitig drohte die Krawatte so sehr Ausdruck des guten Lebens eines Bürgertums zu werden, das sich mit den alten Verhältnissen arrangierte, dass den entschlossenen politischen Gegnern nichts anderes blieb, als auf jede Art zu bindender Tücher zu verzichten.
Der Urahn aller Krawattenverächter ist Friedrich Schiller. Noch radikaler waren die flatternden Halstücher in der Französischen Revolution. Nieder mit den Knoten! Freiheit den Hälsen! Das bedeutendste offene Halstuch aber hat der einsame Cowboy. Ein Cowboy hasst Kerle, die Schlips tragen. Sheriffs (schlanke Binder bis seltsame Schnüre) und Bankiers (breite Krawatten, schlimmstenfalls mit edelsteinbesetzter Krawattennadel). Das Bürgertum in Europa des 19. Jahrhunderts ging einen anderen Weg. Die Krawatte wurde Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins und einer weiteren Ausdifferenzierung innerhalb der Klasse. Jetzt konnte der Schlips selbst Avantgarde werden.
Die Künstlerschleife, die von Lord Byron populär gemacht wurde, zeichnete sich durch einen skandalös nachlässigen Knoten aus. Die Krawatte wurde im Verlauf des nächsten Jahrhunderts zweckmäßig, klein, bunt. Anscheinend war es pure Praxis, was schließlich aus der Krawatte das reine Zeichen machte. Die Krawatte verschlankte sich zusehends weiter bevor sie zum scharfen Strich reduziert werden konnte, kam die Weltwirtschaftskrise, was prompt zu einer Verbreiterung der Binder führte. Wir wissen nicht, was Herr Pawlow zu Wirtschaftskrisen und Krawattenform gesagt hätte. Doch mag ein gesetzmäßiger Zusammenhang als gesichert gelten: Die Erfahrung einer allgemeinen Krise führt zur Verbreiterung der Krawatte (Betonung des Schutzschildes). Zur gleichen Zeit aber wird in Krisenzeiten die Frivolität des Zeichens zurückgenommen, die Markierungslinie zwischen Krawatte und Nichtkrawatte wird schärfer.
Die Verbreiterung der Krawatte geht einher mit einer Aufhellung und Betonung der Farben, während Krisen scheint die Krawatte ihre Funktionen um Optimismus und Freundlichkeit zu erweitern. Werden die Krawatten wieder schmaler, kann man ziemlich sicher sein, dass die Konjunktur anspringt und in der mittleren Ebene das Hauen und Stechen um Macht einsetzt. In der Phase von Boom und Innovation sind sowohl die Antikrawattler eher geduldet, als auch die Fantasie der Träger schärferer Binder freigesetzt. Der nächste Schub der Verschmälerung und Entfärbung kam folgerichtig in den fünfziger Jahren.
Das Muster ist die Message
Und damit schien auch endgültig die lineare Geschichte der Krawatte (wenn es sie je gegeben hat) zu Ende, und jede neue Krawattenmode war zugleich immer Ausdruck der Zeit und Retroeffekt, Parodie und Nostalgie. Denn nun gab es Pop: die hemmungslose Übertreibung einzelner Codes in Mode und Alltag. So zum Beispiel kreierten die Teddy Boys die superscharfe allerschmalste Krawatte, die sie folgerichtig auch Strick nannten. Und Pop war es auch, der den Krawatten-Mainstream davor bewahrte, auf ewig in gedeckten und dezenten Farben zu verharren. Wenigstens im Muster seiner Krawatte spürte der bürgerliche Mann einen Hauch von der Befreiung, die die Hippies versprachen.
Die psychedelische Krawatte als hipper Ausdruck gerade noch gebändigter Rebellion
Mr. Leary, übernehmen Sie. Das Revolutionärste im Krawattendesign dieser Zeit wurde allerdings, dass man nicht mehr allein abstrakte und ornamentale Muster verwendete, sondern wohl zum ersten mal figurative Motive.
Natürlich war das die erste Blüte der Fun-Krawatte mit Mickymaus oder Van-Gogh-Drucken, aber worum es in erster Linie ging, war, dass die Krawatte sich dazu bekannte, nicht länger nur Ausweis, sondern viel mehr Botschaft zu sein. Denn das hatten die Krawattenträger von ihren Gegnern, den T-Shirt-Slackern, gelernt: Es geht nichts über die Möglichkeit, sich mit einem bekennenden Textil ins Blickfeld und ins Gespräch zu bringen! Aber nicht nur, weil man seine gewagten Muster ja auch irgendwie zeigen musste, wurden um das Jahr 1963 die Krawatten fast schlagartig wieder breit.
Kulturelle und Identitätskrisen warfen schon die Schatten neuer wirtschaftlicher Einbrüche, internationaler Konflikte und Verängstigungen voraus, die über den Ozean reichten. Zwischen die reaktionäre Krawatte und den revolutionären Krawattenverzicht trat die Popkrawatte, der später die Alternativkrawatte folgte (in der handgebatikten oder selbst gestrickten Form). Nach der Pop- und Breitenexplosion wurden zur Mitte der siebziger Jahre, nachdem die Energiekrisen verkraftet und der Neoliberalismus den Yuppie als seinen Propheten herumgeschickt hatte, die Krawatten beinahe ebenso sprunghaft um das Jahr 1974 wieder schlank und farblich gedeckt.
Der krawattische Kulturkampf spielt sich also an zwei Fronten ab. Zum einen zwischen der Krawatten- und der Nichtkrawattenfraktion. Im landläufigen Modell besetzen Krawattenmänner Machtpositionen, die von den krawattenlosen forschen Jungen provoziert und bedroht werden. Die Schlaueren der Krawattenlosen, sie heißen zum Beispiel Steven Spielberg, Bill Gates (der dann konvertierte) oder Jonas Birgersson, suchen sich neue Terrains, die sie mit anderen Krawattenlosen so lange bearbeiten, bis die Multimillionäre in Jeans und T-Shirt dann schon glauben, hiermit eine neue Semiologie der Macht geschrieben zu haben.
New Hollywood (krawattenlos) gegen Old Hollywood, New School gegen Old School im Pop (Emmy-Krawatten!) und schließlich New Economy gegen Old Economy.
Allerdings – Krawatten sind wie Banken: Am Ende gewinnen sie immer. Entweder die New Boys ohne Krawatten erleiden Schiffbruch (wie jetzt im Fall der New Economy und ihrer Stars), oder sie binden sich ganz fürchterlich öffentlich eine Krawatte um (wie im Fall der bundesdeutschen Grünen-Politiker). Im Popdiskurs kann das zur Inszenierung eines schönen image schoc benutzt werden: Mitten in den Punkjahren traten Joe Jackson, Elvis Costello und Ian Dury mit besonders scharfen Krawatten auf die Bühne.
Und heute? Kaum hat sich der weiße Rapper Eminem öffentlich von seinen obszönen Texten distanziert, da tritt er schon mit einer scharfen schwarzen Krawatte vor die Fotokameras. Will der Kerl erwachsen werden? Oder entweiht er nur auf besonders perfide Art das Zeichen gediegener bürgerlicher Männlichkeit? Wer weiß. Von der Krawatte lernen heißt, siegen lernen! Das jedenfalls ist auch die Botschaft der neuesten Etappe des Krawattenkrieges, die merkwürdig triumphalistisch verbreitet wird.
Die Krise der Krawatte am Ende der neunziger Jahre hatte auch noch einen anderen Grund, nämlich ihre soziale Entwertung und ihre Uniformierung. In den amerikanischen Unternehmen mit Krawattenpflicht reichte der Ausweis-Aspekt des Binders immer weiter nach unten. Die Krawatte hob den Unterschied zwischen dem white collar- und dem blue collar-Aspekt der Arbeit auf. Man sah Hausmeister, Monteure und Gärtner mit Krawatten, bei Serviceunternehmen mussten Jung und Alt, Frau und Mann dieselben Krawatten tragen, jede Pizza Margherita wurde von einem jungen Mann mit flammend roter Krawatte an die Haustür gebracht. Die Botschaftsfunktion war verschwunden, die Ausweisfunktion dagegen ins Kollektive verrutscht.
Was diesen kapitalistischen Krawattenstalinismus anbelangt, musste also irgendetwas geschehen, wenn die Semiologie des Binders nicht gleichsam vollständig auf den Kopf gestellt hätte werden sollen. Krawattenzwang unten und eine Hemdsärmeligkeit oben, die sich vom casual friday über die Arbeitswoche auszubreiten drohte. Diese semiologische Umkehr der Krawatte hätte nur unter zwei Aspekten wirklich funktionieren können: mit dem weiteren Erfolgskurs der New Economy und mit der reibungslosen Globalisierung auch der Management-Sittenlehre. Dass es nicht funktionierte, war als Metapher bei der Fusion von AOL und Time/Warner zu sehen, als der Vertreter der New Economy, AOL-Boss Steve Case mit und Gerald Levin von Time/Warner ohne Schlips zur Pressekonferenz erschienen. Die New Boys beantworten das dress down der Alten mit einem Schub von dress up (auch Steven Spielberg zelebriert seine endlich erfolgten Krawattenauftritte als Schlüsselbilder).
Die hemdsärmeligen Zeiten sind vorbei
Unordnung also gleich dreimal: Die Krawatte im Klassenkampf, die Krawatte im Geschlechterkampf, die Krawatte im Generationenkampf werden zu einem der Zeichen ohne Besitzer, wie es für die Postmoderne typisch ist. Wie gewisse Begriffe, die kurz einmal links verschwinden, um rechts wieder aufzutauchen, so verschwand die Krawatte kurz einmal oben, um unten, zwangsläufig, wieder aufzuscheinen. Dass die Krawattenrenaissance oben daher im Zeichen der Demut steht, modisch gesprochen in der schlichten Gediegenheit, wie Designer und Herrenausstatter das nennen, ist nur logisch. Denn eines konnte man den nach unten verordneten Krawatten beim besten Willen nicht zusprechen: Geschmack.
Und auch anderswo offenbart die Krawatte ihre wahre, zwanghafte Natur. So macht sich die falsch getragene Krawatte in gewisser Weise von ihrem Träger unabhängig: beim Hitchcockschen Krawattenmörder ebenso wie beim Drummer von Alberto Y Lost Trio Paranoia, dessen Krawatte sich in eine mörderische Schlange verwandelt, die nur durch einen bestimmten Rhythmus zu bändigen ist.
Oder bei der Comicstrip-Figur Dilbert, der in einer paranoiden, postindustriellen Büro- und Krawattenwelt lebt und dessen Streifenschlips naturgesetzwidrig vom Hemd absteht, als wolle sie die reine Bewegung, die reine Gehetztheit bezeichnen. Und bei Präsident Clinton, der von der Praktikantin Monica Lewinsky zum Geburtstag eine Krawatte geschenkt bekam, die dann zum fatalen Wegweiser wurde.
Schon vor der Krise war die Gleichung Krawatte = Old Economy (Old School), krawattenlos = New Economy (New School, auch in der Politik, zum Beispiel bei Clintons gelegentlichen öffentlichen Krawattenentledigungen) nicht mehr wirkungsvoll. Mit der Krise des Jahres 2001 nun war die Rekrawattisierung beschlossene Sache. Die Metapher des neuen, krawattenlosen Erfolgsmannes hatte sich allerdings nicht nur durch die New-Economy-Krise erledigt, sie war auch schon vorher etwas überständig: Turnschuhe und Designerklamotten waren mittlerweile schlimmer codiert als eine burgunderfarbene Krawatte.
Die Metapher vom Sieg der Schlipsträger über die krawattenlosen Barfußunternehmer hat, natürlich, eine Metabotschaft: Die lockeren Zeiten sind vorbei. Unten heißt das, den Gürtel enger schnallen, oben heißt es, den Krawattenknoten fester zu ziehen. Irgendwas, so scheint es, treibt uns, den männlichen Hals und was darunter liegt zu bedecken und diese Bedeckung zugleich als Zeichen dessen, was sie bedeckt, zu benutzen. Der Hardcore-Kulturhistoriker wird behaupten: Die Krawatte ist die semiotische Verbindung von Macht und Sexualität. Daher ist in der Regel dort, wo beim bürgerlichen Mann eine Krawatte hängt, bei demjenigen, der sich für irgendetwas anderes hält, irgendetwas anderes und nicht etwa nichts. Hier könnten Geschichten über Rollkragenpullover, Palästinensertuch, Existenzialistenschals und Goldkettchen eingeflochten werden. Aber natürlich ist die Krawatte, die nicht mehr vollkommen selbstverständlich, nicht mehr vollkommen identisch Ausweis und Botschaft ist – sei es in der Form der postmodernen Ironiekrawatte, sei es in der Form der neuen Demut -, nicht mehr allein eine berechenbare Sprache von sozialer Kontrolle und persönlichem Anspruch. Sie spricht auch schon von und für sich selbst, und – hey, zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Lust, in ein Herrenmodengeschäft zu gehen und mir reiflich den Kauf einer Krawatte zu überlegen.
Autor: Georg Seesslen
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