In der Piraterie zeigt sich der Konflikt zwischen dem Sesshaften und dem Nomadischen. Nicht nur der Mensch, auch das Geld ist als Pirat auf dem globalen Markt unterwegs
Wo es Handel gibt, da gibt es Räuber, und wo es Seehandel gibt, da gibt es Seeräuber. Piraten begleiten die Geschichte des maritimen Kapitalismus. Und sie tun das zweimal: als etwas schmutzige, zähe und gewalttätige Realität und als romantische Mythen von Freiheit und Abenteuer. Jungs wollen Piraten werden, aber wenn man ehrlich ist – die schönsten Piratenfilme handeln von Seeräuberinnen. Von Jennys weniger rachsüchtigen Schwestern. Piraterie ist auch gendermäßig aufmüpfig. Was den Sex betrifft, sowieso. Weil Piraten keinen Besitz akzeptieren, akzeptieren sie auch nicht, dass die Männlichkeit den Männern und die Weiblichkeit den Frauen gehört. So scheint die Piraterie in die erotischen Träume. Dieser freie, abenteuernde und lachende Pirat, halb Kind, halb Frau und doch ein ganzer Mann, ist natürlich nur ein Traum für brave Bürgerkinder (für die melancholischen Kinder der Kaufleute, dessen Waren und Gold der Pirat stiehlt).
Die Realität der Seeräuberei war immer erbärmlich, mal eingebunden in die Politik, mal ausgeführt von Leuten, die nichts mehr zu verlieren haben und sich deswegen mit Ehre und Stolz nicht lange aufhalten. Es gab Piraten hier und dort, aber als prächtigste Plage waren sie in der Karibik im 17. und 18. Jahrhundert unterwegs. Da kam ein zweiter Traum dazu: Piraten waren perfekte „Kreolen“, sie verbanden das Europäische, das Amerikanische, das Afrikanische und das Asiatische. Oder noch besser: Sie machten sich über die Grenzen von Kulturen lustig. Sie sind Ausgestoßene der verschiedensten Kulturen, so etwas eint. Der fetischistischen Globalisierung des Handels begegnen sie mit einer kreolischen Lust. Und der technologischen Aufrüstung mit Wendigkeit und List.
Piraten sind Vorläufer und Nebenprodukte von Kriegen
Piraten agieren im tiefsten Blau auf Hoher See, also auf dem Gebiet, das eigentlich niemandem gehört. Daher werden sie seit der griechischen Antike mit zwei Mitteln bekämpft. Mit maritimer Gewalt und mit Abkommen der Seehandel treibenden Staaten. So waren Piraten, seit dieser Frühzeit, immer beides: Symptom der Krise im Handel (zu viel in einer Ladung komprimierter Mehrwert) und Ferment neuer Zusammenschlüsse (internationale Abkommen tun dem Handel besser als hier und da geschürte Schadenfreude gegenüber den Konkurrenten). Piraten sind zugleich Vorläufer und Nebenprodukte der Kriege. Noch das römische Recht war unentschlossen, ob es Piraten als „Verbrecher“ oder als „Feinde“ behandeln sollte. Im Jahr 2008 wurde Piraterie von den Vereinten Nationen als „kriegerischer Akt“ definiert. Die Grundlage des Meta-Abkommens auf See: Der Pirat ist ein „Feind der Menschheit“.
Zur gleichen Zeit hat der Pirat auch noch zwei andere Aspekte, er kann in den Rang eines Volkshelden aufsteigen (ein Kerl, der nur die beraubt, die es verdient haben, und der den Armen von der Beute gibt) und sogar in den Rang eines Revolutionärs, der einen imperialen Gegner angreift, um den Freiheitskampf zu unterstützen. Entsprechend setzen sich auch die Piratenmannschaften zusammen: aus dissidenten und verbannten Bürgern, aus den Hungrigen und Verdammten dieser Erde, aus entflohenen Sklaven und Verbrechern. Eine höchst widersprüchliche Angelegenheit.
Die Piraterie tritt in den Hintergrund, wo der Handel sich ausdifferenziert und die wahren Kostbarkeiten eher in Buchhaltungen als in Schatzkisten stecken, und wo sich der Handel, nebenbei, noch weiter militarisiert hat. Sie taucht zyklisch und regional wieder auf, in Situationen, in denen sich Handel, Politik und Militär zueinander widersprüchlich entwickeln und der Seehandel, selbst asynchron, rechtsfreie und ungeschützte Teile der Weltmeere durchkreuzen muss, um Profit zu erzielen.
Piraterie hat sich, als die Ozeane sicherer und langweiliger wurden, neue Formen gesucht. Es gibt Piratensender, Produktpiraten, Datenpiraten oder ganz allgemein eine Art der sozialen und kulturellen Piraterie – auf Kaperfahrt durchs Copyright, Markenräuber auf schnellem Schuh, „Pirate Bay“ zur Aneignung des in den unsicheren Strömungen des Netzes schwimmenden Gutes. Immer ging es dabei um die Frechheit der Wenigen gegen die Macht der Vielen, und um die Lust daran, unter falscher Flagge zu segeln. Das wahre Verbrechen wurde sesshaft: nicht an den Rändern des Kapitals und entlang seinen prekären Wegen – es ist in sein Zentrum und an seine Quellen vorgedrungen. Was ist das Kapern eines Schiffes gegen die Verteilung von Schiffbauaufträgen?
Elendspiraterie ohne kreolischen Glanz
Im Auf und Ab der Piraterie spiegelt sich das Hin und Her zwischen dem Sesshaften und dem Nomadischen von Menschen und Kapital. Das Ende der Piraterie liegt nicht im Ende der Piraten, sondern in der Piratisierung des Kapitals. Das Geld selber ist als Pirat auf dem globalen Markt unterwegs. In virtuellen Finanzaktionen sind die Vorgänge von Spekulation, Piraterie und Fälschung nicht mehr von Tausch, Handel und Anlage zu unterscheiden. Echte Piraten sind dagegen altmodisch, sie glauben noch an die Realwirtschaft. Was bleibt ihnen anderes übrig?
Wer nicht ins Blau der Ozeane will, wer territorial gebunden bleibt, der wird zu einem der Riffpiraten, die wir nicht nur von Hitchcocks frühem Film kennen. Diese Piraten verfolgen die kapital beladenen Schiffe nicht auf den Ozean, der niemandem gehört, sondern nutzen die gefährlichen Wasser in Küstennähe, verschwinden schnell wieder ans Land. Es ist dies eine Art von Elendspiraterie, der der kreolische Glanz fehlt und die dafür auf hinterhältige Effizienz setzt.
Der Erfolg von Piraten und die Verklumpung des Problems zu einer „Piratenplage“ hatte schon in den zyklischen Formen ihrer Ausbreitung, vom antiken Mittelmeer über die Glanzzeit der karibischen Piraten im 18. Jahrhundert, höchst zwiespältige Folgen. Auf der einen Seite nämlich führten Piraten zu einer Militarisierung des Handels in drei Formen – als Bewaffnung der Handelsschiffe, als Begleitschutz von Kriegsschiffen und als militärische Vergeltungszüge gegen die Stützpunkte der Seeräuber. Im Gegenzug konnten die Piraten keine Unabhängigkeit mehr wahren, aus maritimen Anarchisten und Volkshelden wurden Verbündete von Staaten oder Bewegungen, die von der Destabilisierung gegnerischer Handelswege profitierten. Die Politisierung der Piraterie zog ein Abgabensystem nach sich, das zur Finanzierung neuerlicher, dann oft territorialer Militarisierung führte. Der politisierten Allianz-Piraterie wurde durch Geld- und Pfründezuweisung ein Ende bereitet – die endgültige Korruption eines Piraten, wie wir sie aus den Filmträumen kennen: Der Pirat wird Gouverneur oder Großgrundbesitzer und beteiligt sich an der Ausbeutung, die er vordem störte. Die verbliebene anarchistische Freibeuterei wurde durch nun alliierte Seemächte unbarmherzig, wie man so sagt, verfolgt und ihr Ende durch drastische, öffentlich vollzogene Strafen besiegelt.
Auch das wissen wir aus unseren Kinoträumen vom defekten Piraten: Dass er nur tragisch enden kann oder in einem Kitsch-Traum, den wir ohnehin nie als real angenommen haben: abgeschlachtet, aufgehängt oder korrumpiert, „umgedreht“.
Autor: Georg Seesslen
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