Moving Pictures in a Traffic Jam
Bemerkenswerterweise gehören zu den großen Momenten des Films jene, in denen das Bewegungsbild an seine Grenzen stößt. Daher flüchten in Filmen mit maskierten Messermördern die Mädchen stets in Dachböden oder Keller. In Filmen mit gestählten Männerkörpern werden die Helden wie magisch von Sackgassen und Mauern angezogen. Und Filme mit Autos kommen nicht aus ohne Blockaden und Staus. Im Augenblick der erzwungenen Ruhe verlagert sich die Bewegung nach innen. Das Kino entdeckt die Seele. Im Bild eines Staus handelt es sich um die Seelen von Menschen und von Maschinen.
Der erste Verkehrsstau, den ich je sah, ereignete sich in Entenhausen. In einer Donald Duck-Geschichte blickte mein cholerischer Freund über seine Stadt und die hoffnungslos verstopften Highways, die sich über den Häusern, durch- und übereinander verbretzelten. Und Donald beschloss, die Stadt zu verlassen, was vergleichsweise aussichtslos war, weil zu viele Entenhausener die selbe Idee hatten. Was man zu dieser Zeit ganz real auf dem Münchner Stachus erleben konnte, war nur deshalb nicht harmlos gegen Entenhausen, weil da eine gewisse Geschwindigkeit beim Bilden und beim Auflösen der Staus im Spiel war. Um richtige und richtig komische Staus zu erleben, musste man allerdings ins Kino gehen. In der Jugendvorstellung kamen Laurel & Hardy in Autos, die aus vergangenen Zeiten stammten, in Verkehrssituationen, die für uns Zukunft noch waren.
Die meisten Slapstick-Komiker wie Charlie Chaplin können von Autos nur träumen (oder werden von ihnen buchstäblich gejagt); Laurel & Hardy aber nehmen die Katastrophe der kommenden Auto-Epoche vorweg: Man hat ein Auto, aber man kann sich damit nicht fortbewegen. Im Kampf um Parklücken, in den handfesten Auseinandersetzungen zwischen Haus- und Autobesitzern und eben im Stau, den natürlich, wie in LEAVE `EM LAUGHING (1928) nur sie selbst verursacht haben können. Übrigens sehen wir hier auch schon die höchste Kunst eines Stauverursachung: Nicht lineare Stockung sondern unauflösbare Verkeilung ist das Ziel – etwas, das man in trivialer Form als „Kreuzungsstau“ auch in der Wirklichkeit kennt. In TWO TARS (1928) geraten die beiden als Matrosen auf Landurlaub mit einem bei „U Drive“ gemieteten Auto in einen Stau, und als Laurel sich bemüht, (seine) Ordnung in die Sache zu bringen, da macht er alle im Stau Gefangenen so wütend, dass sie sich gegenseitig an den Kragen und vor allem an die Karosserie gehen: Die Auflösung des Staus besteht für diesmal darin, dass sich die Verkehrsteilnehmer gegenseitig die Autos zerlegt haben. Merkwürdigerweise spielen die späteren Laurel & Hardy-Filme in einer verkehrsberuhigten Welt. So begnügt sich Laurel denn auch in Filmen wie BLOCKHEADS (1938) damit, das Automobil seines Freundes Hardy zu demolieren, das freilich sehr gründlich.
Im deutschen Film gab es entweder Verkehr, aber keine Autos (in Fritz Langs METROPOLIS) oder es gab Autos aber keinen Verkehr (wie in DIE DREI VON DER TANKSTELLE), so dass wir bis in die Nachkriegszeit warten mussten, um den ersten genuin deutschen Stau auf der Leinwand zu sehen. In der amerikanischen popular culture schien der Verkehrsstau eine alltägliche Katastrophe. Mit Betonung auf alltäglich. Als wir in Deutschland unsere ersten Staus bildeten und die ersten Bilder dafür fanden, unterschieden sie sich signifikant. Zum einen gab es so gut wie keinen Stau, bei dem sich nicht irgendwie ein uniformierter Polizist beteiligte. Und weil die Polizisten im deutschen Film der fünfziger Jahre im allgemeinen gutmütig-komisch waren wie Heinz Erhardt in NATÜRLICH DIE AUTOFAHRER (1959), konnte man auch argwöhnen, dass sie, auf dem Weg in den gemütlichen kleinbürgerlichen Beamtenstaat, auf dem wir uns zu befinden wähnten, den Stau selbst verursachten, um unser Bild der Moderne zu vervollständigen. Aber natürlich wird nicht der psychische Stress verschwiegen. In UND DAS AM MONTAGMORGEN (1959) gerät O.W. Fischer als Bank-Karrierist des Morgens bei der Fahrt in den Dienst bei der Suche nach einem Parkplatz in eine so vollständige Blockade, dass er einfach das Auto stehen lässt, nach Hause geht und unter Aufbietung beträchtlich infantiler Energien den wahren Aussteiger macht.
Und was man in diesem Film sieht, das ist das zweite typische Element des Staus im Deutschland der Wirtschaftswunderzeit: Der Stau ist kein Ergebnis von Übermotorisierung und Verkehrsaufkommen, er wird vielmehr durch Bauarbeiten ausgelöst. Noch im Ungemach also spiegelt sich der große Wunsch, „voranzukommen“, noch der Stau ist Symptom für den Optimismus des Wiederaufbaus. Ein Jahrzehnt später ist solcher Optimismus nicht mehr zu haben. Der Verkehr im Kino der sechziger Jahre ist hysterisiert. Es zerfällt der Mythos Auto ins Steckenbleiben und Flüchten. Daher ist, wenn es um das Bild von Freiheit geht, das Motorrad entschieden im Vorteil. Und bis in die siebziger Jahre träumen wir von Autofahrern auf der Suche nach der Freiheit, die Barrikaden durchbrechen wie in VANISHING POINT (1971) von Richard Sarafian oder Sam Peckinpahs CONVOY (1977). Der Kampf ums Auto ist entbrannt; Raserei und Stau sind die beiden Aggregatzustände der mobilen Gesellschaft. Der Stau ist kein Schicksal mehr, sondern eine Frage der Macht. Helden in dieser Zeit sind Autofahrer, die den Stau ignorieren und immer noch einen Weg finden, der Selbstblockade des Verkehrs zu entkommen, ohne Rücksicht auf Verluste bei den anderen Verkehrsteilnehmern. Da gibt es wenig Unterschiede zwischen Jean Paul Belmondo in LE CASSE (1971), wo nicht einmal der Respekt vor einem Trauerzug dazu führt, eine automobile Wartezeit zu akzeptieren, und dem Gene Hackman von FRENCH CONNECTION (1971). Wenn der zu Reichtum gewordene Kleinbürger Louis de Funès etwa Urlaub machen will, kann er gar nicht anders als mit seiner Citroen „Deesse“ in einen Stau und dann in Streit mit den anderen Verkehrsteilnehmern zu geraten.
Die achtziger Jahre scheinen wieder eine Beruhigung zu bringen. Es gibt jetzt übrigens kaum noch Autokinos. Die Kids machen sich auf Skateboards aus den urbanen Tollheiten davon. Der Stau ist ein soziales Phänomen der Überalterung geworden. Die Slackers steigen schon mal prinzipiell ungern in ein Auto. Aber man kann dem Wahnsinn nicht entkommen. Christian Bergers MAUTPLATZ (1994) zeigt, wie der durch die Notwendigkeit des Abkassierens erzeugte Stau auf der Autobahn durch die Alpen wie eine Verhöhnung der übrig gebliebenen Landbevölkerung erscheint. Ein Verkehrsstau kann eine Waffe in einem nicht erklärten Bürgerkrieg sein. Es hat etwas mit den sozialpsychologischen und ökonomischen Verhältnissen zu tun, wie ernst man den Stau (im Kino) nimmt. In Joel Schumachers FALLING DOWN (1993) ist Michael Douglas einer der depravierten Büro-Bürger. Als er im Stau stecken bleibt, geplagt, unter vielem anderen, von einer hartnäckigen Fliege im Inneren seines Wagens, kann man gar nicht anders, als das als perfekte Metapher seines Lebens zu sehen. Dass er dann erst eine Baustelle räumt und dann mit der Pump-Gun eine Spur durch die Stadt zieht, zurück zu seiner Familie, die er längst verloren hat, ist nur die wahnwitzige Konsequenz einer Klasse, die sich in Arbeit, in der Familie und eben auch im Verkehr nichts anderes als die Selbstzerstörung zum Ziel setzen kann. Die Realität eines Staus ist ja schon furchtbar genug, aber wem sollte es gelingen, einen Stau nicht als ganz persönliche, böse Metapher zu empfinden?
Deshalb gibt es angesichts eines Staus nichts Schlimmeres als Überheblichkeit. Im Kino, und im wirklichen Leben sowieso. Der Stau im Kino kann zweierlei bedeuten. Eine bestimmte, hoch konzentrierte und hoch metaphorische soziale Situation, und die Suspense-erzeugende Störung einer Bewegung. In einer Menge schlechten und ein paar wenigen guten Filmen ist ein Stau der Grund dafür, dass sich das Schicksal in einer völlig anderen Richtung entwickelt. In QUICK CHANGE (1990) ist es für Bill Murray und seine Freunde ein leichtes, eine Bank auszurauben. Aber bei der Flucht durch die Verkehrsstaus der Rush Hour zu kommen, ist unmöglich. Der Stau setzt nicht nur dem ökonomischen Elan sondern auch der kriminellen Energie der Boom-Generation Grenzen.
Jede Stadt hat ihre Staus und findet darin eine besondere soziale Ästhetik. Ein Stau in New York sieht definitiv anders aus als einer in München. Federico Fellini zeigt uns seinen in ROMA (1972); der Stau schärft die Randwahrnehmung bis hin zu einer surrealen Vision der Gefangenschaft von Mensch und Tier. Da ist das schon abgemildert im Verhältnis zu seinem 8 ½ (1963), wo der Verkehr an sich selbst erstickt, oder zum Verkehrschaos als Dauerzustand in LA DOLCE VITA (1960). Es ist auch ein Krieg, der hier zu einem spannungsvollen Zwischenzustand geraten ist; der Stau ist eine Art erzwungener Waffenstillstand. Manchmal aber auch nur, wie auch in Godard s WEEK END (1967), ein Wechsel der Waffen. Man steigt nur aus, um sich zu schlagen. Die Stadt mit den meisten Kino-Staubildern aber ist wahrscheinlich Paris: wunderschön (neben Tatis TRAFIC wahrscheinlich der schönste Stau der Kinogeschichte) ist der in Louis Malles ZAZIE DANS LE METRO (1960). Eine Bühne für groteske Dialoge und poetische Dramolette (und übrigens Anlass wie bei Laurel & Hardy, zur vollständigen Entblößung und Skelettierung eines Automobils).
Der urbane Stau ist in der Regel leichter zu ertragen als der Stau auf dem weiten Land. Nicht nur, weil sich die Schäden dabei in der Regel auf Blech beschränken. Auf dem Land kommt eine Fremdheit dazu wie im unbarmherzigsten der Stau-Filme, Godards WEEK END. Hier wird ernsthaft gestorben, und die Kannibalen sind auch nicht weit, wo sich die Blechtiere ineinander verkeilen. Die zehn Minuten, in denen die Kamera parallel eines endlosen Landstraßen-Staus fährt, sind Auftakt nicht nur zu einem Zusammenbruch der mobilen Zivilisation und der sexuellen Ökonomie des gaullistischen Frankreichs sondern auch von Zeit und Raum. Der Stau zerstört die Newtonsche Gleichung des Bewegungsbilds. „FIN DE CINEMA“ lautet der Schlusstitel der Mutter aller Stau-Filme. Eine scheinbar leichtere Version vom Stau als Kulturkatastrophe bietet Jacques Tatis TRAFIC (1971). Anders als Godard bietet Tati gegenüber dem Chaos von Raserei und Stillstand eine Alternative. Die Ruhe. In Godards Film erwächst das Grauen, weil die Menschen ihren Autos immer fremd bleiben, in Tatis Film dagegen haben sich die Maschinen auf bizarre Weise ihren Besitzern angepasst und umgekehrt. Während Godard mit seinem Kamera-Travelling den Stau entlang eine Art endgültiges Verdammungsurteil ausspricht, lässt sich Tati die Zeit des Staus, um die Mensch-Maschinen-Einheiten sorgfältig zu beobachten, wie sie sich etwa im Funktionieren und Nicht-ganz-Funktionieren von Scheibenwischern zeigt, die zu Bildern der Lebenskraft ihrer Besitzer werden; Autos jagen mit klappender Kühlerhaube wie hungrige Krokodile nach den nicht mehr so mobilen Menschen. Der zivilisatorische Pakt wird hier wie dort aufgehoben. Die Motorisierung, sagen beide Filme unter anderem, hat auf die Straßen zurück zur Barbarei geführt. Und der Stau ist die Situation, in der das nicht mehr zu verheimlichen ist.
Und natürlich verliert das Auto im Stau auch seine sexuelle Potenz. Dino Risis IL SORPASSO (1962) zeigt das Auto als Sex-Ersatzmaschine für zwei auf ewig unerwachsene Kerle (Vittorio Gassman und Jean-Louis Trintignant) – und der Stau wird für sie zur Stunde der Wahrheit. Kaum je ist die doppelte Einsamkeit so genau dargestellt worden. Zu gewissen Zeiten mit eher romantischen Aussichten beinhaltet das natürlich auch eine Chance. In Bob Rafelsons FIVE EASY PIECES (1970) etwa ist ein Stau vor allem die Bühne für kleine, poetische Flirts: Als sei hier endlich die maschinelle gegenseitige Bedrohung aufgehoben.
Luigi Comencinis L’INGORGO (Der große Stau – 1978) ist der große bürgerliche Stau-Film. Er spielt an einem sonnigen Mittag auf den Straßen vor Rom; alle scheinen unterwegs zu sein. Mit einemmal ist es mit der freien Fahrt zu Ende. Unübersehbar lang die Blechschlange; niemand weiß, warum es nicht mehr weiter geht. Die Ungeduldigeren verlassen das Auto, und nach und nach müssen die Festgefahrenen zueinander Kontakt aufnehmen. Die junge Studentin in ihrem Kleinwagen, der Trucker mit einer Ladung Babynahrung, der Fabrikant in seiner Luxuskarosse, das alte Ehepaar, die lautstarken Jugendlichen in ihrer Gang – wir kennen diese Klischees, und sind doch immer überrascht, wenn sie einem auf der wirklichen Straße begegnen. Die Zeit vergeht, und außer einem vorbeifliegendem Hubschrauber gibt es keine Zeichen für Hoffnung, und die brütende Hitze und die Situation der Enge lässt schließlich auch die Konflikte hochkochen. Das Ehepaar gerät in einen unsäglichen Streit, die Studentin wird angegriffen, und immer mehr kommen unter den bürgerlichen Fassaden die brutalen Impulse zum Vorschein, und als schließlich die Nacht hereinbricht und sich immer noch nichts getan hat, bricht die Gewalt aus, und als am Morgen ein Lautsprecher aus dem Hubschrauber das Ende des Staus verkündet, sind die meisten beinahe zu matt und enttäuscht, um an einen guten Ausgang zu glauben. L’INGORGO ist einerseits eine Fortsetzung der großen Staufilme WEEK END und TRAFFIC, andrerseits aber auch eine leicht reaktionäre Revision: In einem Stau kann man lauter wildgewordene, komische Kleinbürger sehen. Mit dem Blick eines wildgewordenen, komischen Kleinbürgers.
So auch in Manfred Stelzers deutscher Version vom SUPERSTAU (1991) mit einer Menge Superklischees. Ottfried Fischer, der sich mit seinem Biervorrat und seinem Fernseher in seine Wohnwagen-Wabe zurückgezogen hat (die früher oder später natürlich gestürmt werden muss), der westdeutsche Kleinschurke, der mit dem Durst der Gestauten und der Naivität der Ossis seine Geschäfte macht, der Stau als Gelegenheit zur sexuellen Untreue.
An verstopfte Straßen müssen wir uns auch in der Zukunft gewöhnen, auch dann, wenn die Autos In Luc Bessons THE FIFTH ELEMENT (1997) fliegen, stauen sich die fliegenden Automobile in den Häuserschluchten. Und natürlich sind bei den JETSONS sogar die intergalaktischen Verkehrswege so verstopft, dass nicht einmal Geheimtipps für Umwege um ein paar Planeten viel nutzen. In David Cronenbergs CRASH (2000) sind Staus Situationen allerhöchster Ausgeliefertheit. Crash-Junkies machen Jagd auf einander und auf unschuldige Opfer, und die Kunst dieser Zeit besteht im Nachspielen der berühmtesten Autounfälle der Geschichte. Und der endlose Stau ist dem Menschen zur neuen Heimat geworden.
Im Stau-Film geht es um die Grenzen, die dem Einzelnen in seiner Symbiose und seinem Selbstausdruck durch das Automobil gesetzt werden. Der Stau-Film erzählt vom grotesken oder blutigen Ende der Freiheit. Und, wer weiß, vielleicht vom Beginn einer neuen. Denn von einem Verkehrsstau kann man viel Schlechtes sagen. Aber wenn man ihn durch das Auge einer Kamera ansieht, muss man anerkennen, dass er verdammt schön ist. Nie begegnen sich Chaos und Ordnung in einem so konkreten Geschehen. Nie sind Menschen so sehr persona als in dem Augenblick, da sie, nach Buster Keatons Art und vergeblich Anfang oder Ende ihres Staus auszumachen versuchend, den schützenden Innenraum ihres Automobils verlassen. Und nichts ist trauriger als der Moment, an dem es, wie man so sagt, „endlich wieder weitergeht“.
Autor: Georg Seeßlen
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