Jeder Cent will investiert sein, jeder Notgroschen wird zum Kapital. Wer nicht spekuliert, kriegt keine Rente, wer nicht mitspielt, hat verloren. Denn mit jeder Krise breitet der Kapitalismus sich weiter aus.

Wie es steht

Mit unserer Kultur ist das schon so eine Sache: Sie weiß viel, was sie nicht weiß, und umgekehrt. Man liest in ihr wie in einer Fremdsprache, in ihrem Geschnatter und Gerumpel, zum Beispiel, was die Abfolge der Krisen anbelangt: zuerst die Immobilien, dann die Banken und nun ganze Nationen. Und was machen wir angesichts dessen mit dem, nun ja, Ersparten? Das prekäre Verhältnis zwischen Regierung und Kapital scheint jedenfalls »irgendwie« gestört. Die Optionen und »Szenarien« dieses Verhältnisses, wie sie sich derzeit zeigen, ließen sich mit einer vergleichsweise einfachen Form von Debatten-Design systematisch etwa so darstellen:

(a) – Staat – Markt

(b) + Staat – Markt

(c) – Staat + Markt

(d) + Staat + Markt

(a) Kein Staat, kein Markt. Das kling charmant, ist aber der Mehrheit unserer Mitmenschen, die nichts so sehr fürchten wie Unordnung, offensichtlich nicht zu vermitteln. Große anarchistische Weltentwürfe gibt es daher in aller Regel höchstens im tückischen Doppelpakt mit religiösen, tyrannischen Modellen. Stattdessen wechseln sich kleine Anarchismen ab, die die fatale Eigenschaft haben, früher oder später vom Mainstream aufgesogen zu werden: Underground, Pop, Subkultur, Internet-Aktivismus, Do-It-Yourself-Punk, Ghetto, Kunst. Der Turbokapitalismus scheint seine eigenen Anarcho-Szenen zu erzeugen und sie zugleich auszubeuten; mit dem Neoliberalismus kommen auch diese in die Krise. Symptome dafür sind die Krise der Pop-Kritik (Kritik des Pop, Kritik im Pop, Kritik durch Pop) oder das öffent­liche Widerrufen der Internet-Heilserwartungen durch ihre ernüchterten Propheten.

(b) Der Staat, der die Menschen vor dem Markt schützen soll und der dabei, aus inneren wie äußeren Gründen, die Finger von terroristischen Mitteln nicht lassen kann, weil ihm sonst die Menschen abhanden kommen (eine Mehrheit in Richtung Konsum, eine Minderheit in Richtung »Freiheit«, was immer das sein mag). Diese extreme Lösung gilt mit dem Realsozialismus als »zusammengebrochen« – bis auf kleine, sehr unangenehme Areale. Menschen, die keinen Markt haben, scheinen unzufrieden und grau. Wer Kritik am Kapitalismus wagt, muss hierzulande stets beteuern, dorthin wolle er gewiss nicht zurück.

(c) Der Markt, der alles regeln soll, gepaart mit einem Staat, der sich aus ihm heraushält oder selber zum Instrument oder Element des Marktes geworden ist. Wie nicht erst in der letzten Krise zu beobachten, tendiert dieser Liberalismus offensichtlich dazu, dem Staatsterror des Realsozialismus einen Marktterror gegenüberzustellen, der nicht weniger Opfer fordert. An die Stelle der Gefolterten und Ermordeten treten Verhungerte, Kranke, Kriminelle und Vergessene. Und was das Foltern und Morden anbelangt, ist man im Übrigen auch nicht zimperlich, wenn es um die Interessen des weltweiten Marktes geht. Im Neoliberalismus ist zweilerlei garantiert: volle Gefängnisse und »asymmetrische Kriege«. Ärgerlicher als das Potential an Unrecht und Gewalt und der moralische und kulturelle Verfall auf dem in jeder Hinsicht offenen Markt, der notgedrungen zu weiten Teilen von mehr oder weniger organisiertem Verbrechen beherrscht wird, ist die Produktion von Krisen und Katastrophen, das zyklische Zusammenbrechen und Weitermachen mit ihrer Produktion von Verlierern und Gewinnern.

So bleibt allein (d) – eine Balance zwischen Staat und Markt, als maßvolles Regulieren (nach Keynes), eine Verpflichtung zum sozialen Ausgleich, wie sie einst die Sozialdemokraten wollten, bevor sie sich für Szenario (c) entschieden. Aber der Keynesianismus, die »soziale Marktwirtschaft«, der rheinische Kapitalismus, hat zwei Nachteile. Er muss in erheblichem Maße verwaltet werden, kann also nur von einem wohlhabenden und wohlmeinenden Staat garantiert werden.

Und er ist langweilig

Trotzdem scheint eine breite Strömung in unserer Kultur die Verlagerung von (c) nach (d) zu verlangen, eine (neuerliche) Umwandlung des »Marktradikalismus« in einen keynesianisch regulierten und weniger aggressiven »Kapitalismus mit menschlichem Antlitz«. Ein bisschen wenigstens. Eine beinah gleich breite Strömung möchte genau das Gegenteil, den Neoliberalismus für alle. Die Akzeptanz des »amoralischen« Verhaltens nicht nur oben, sondern auch unten, und schließlich gar in der guten Mitte. Nach einer Renaissance des Staatssozialismus (b), vielleicht auch in netterer Form, sehnen sich nur Minderheiten, und ebenso wenige sind es, die auf das nächste Projekt der anarchistischen Subversion (a) hoffen – vielleicht in Form einer Gegenkultur der Transhumanen und Androiden.

Doch wie auch immer, unsere Kultur wird von einer Notwendigkeit geplagt, dergegenüber sie nur bedingt abwehrbereit ist: Sie muss nicht nur kapitalistisch denken. Sie muss auch, nach langer Zeit mal wieder, den Kapitalismus denken. Das macht sie in der ihr eigenen Art, hysterisch und serialisiert. Nicht allein mit der halben Million von Büchern, die erklären, wer schon immer alles über die Krise wusste, sondern auch in jener tastenden Suche, die bis hinein in Songtexte und Soap Operas führt: Was tun? Wie weiter?

Wie es geht

Mit jeder seiner Krisen breitet sich der Kapitalismus weiter aus, in der Welt, in den einzelnen Gesellschaften wie letztlich in den inneren Topografien des Subjekts. Mit jeder Krise zwingt der Kapitalismus der Regierung und der Kultur mehr von sich selber auf; es ist an nichts anderes, so scheint’s, mehr zu denken. Die Krise macht die Kapitalisten reicher und die Regierungen ärmer, unwiderstehlich zieht sie das Geld und die Macht von unten nach oben, vor allem aber ergreift in der Krise der Kapitalismus Lebensbereiche und Gesellschaftsschichten, die vordem noch halbwegs geschützt waren. Um die nötigen Ressourcen für das Weiterspielen zu bekommen, werden Menschen zum Dasein als Marktsubjekte gezwungen, die subjektiv oder objektiv gar nicht in der Lage dazu sind, die Spielregeln zu erkennen. Die Antwort des Kapitalismus auf seine Krise ist es, neben noch mehr Opfern noch mehr Mitschuldige zu schaffen. Er kann das nur mit der Hilfe einer Regierung, die, um das System zu retten, bereit ist, die eigene Bevölkerung zu opfern.

So nimmt es nicht Wunder, dass ein gewisser »Finanzbuchverlag« im April 2010 Titelschutz unter anderem für folgende Publikationen anmeldet: »Weltkrieg der Währungen«, »Unser Weg in den Systemkollaps«, »Der Staatsbankrott wird kommen!«. Das klingt nicht ermutigend. Aber um die Zukunft des Systems muss man nicht fürchten, denn auch diese Titel werden kommen: »Große Erfolge entstehen in Krisen«, »Der freche Vogel fängt den Wurm«, »Nach der Krise ist vor dem Aufschwung«. Wer immer noch voller Sorgen ist, darf auf dieses Buch gespannt sein: »So erziehen Sie Ihr Kind im Umgang mit Geld«.

Das ist schon grammatisch interessant. Nicht der Umgang mit Geld soll gelernt werden, sondern umgekehrt, Erziehung ist nur eine Funktion des Umgangs mit Geld. In China schickt, wer sich’s leisten kann, den Nachwuchs im Vorschulalter auf Geld-Schulen. Alles in allem: Der Zusammenbruch kommt und kommt immer wieder. Macht aber nichts, denn mittendrin ist man als frecher Vogel schon wieder auf dem aufsteigenden Ast, und die nächste Generation wird nicht mehr nur im Kapitalismus leben, sondern Leben als Kapitalismus begreifen und umgekehrt. Voraussetzung dafür ist nicht nur Gier, sondern im größeren Maße: Angst.

Die aktuelle Ausgabe von Capital titelt: »Der große Immobilien-Kompass 2010 – Unsichere Finanzmärkte, tiefe Zinsen, steigende Preise. Wo Wohneigentum jetzt die perfekte Geldanlage ist.« Und wo, wenn nicht aus Gier, dann aus Angst die nächste Blase erzeugt wird, wird der Kapitalismus jetzt einer von uns allen. Noch der minimale Überschuss, den ein fleißiger »Arbeitnehmer« erwirtschaften kann, etwa um die Ausbildung seiner Kinder zu finanzieren, ein Eigenheim zu erwerben oder etwas für die Altersfürsorge zu tun, wird, wenn er nicht die eigene Entwertung erleben soll, vom Geld zum Kapital und muss gezwungenermaßen Objekt von »Spekulation« werden. Das heißt auf eine Erzählung der Zukunft, auf Finanzbewegungen, auf die Dummheit der anderen setzen. Denn auf der anderen Seite lauert die Inflation, die das Geld auffrisst, wenn es nicht seinerseits auf Beutezug unterwegs ist. So führt auch uns »kleine Leute« der Weg zum »Anlageberater«, noch die lächerlichsten Summen werden Teil von Immobilienfonds, Aktienpaketen oder Staatsanleihen. Den meisten Menschen geschah es bei der Umwandlung des rheinischen Kapitalismus in den Neoliberalismus wie einem bekannten Geschwisterpaar: Man führte sie in den Wald und ließ sie dort allein. Hexengeschrei der kapitalistischen Urwalderzählung ringsum.

So wird, in den Wartezimmern der Ärzte, in den Schlangen vor dem Gratislädle, in den Arbeitspausen und auf den Grillpartys, neben Fußball die Geldanlage zum wichtigsten Thema. Bizarrerweise scheint das kapitalistische Fieber erst nach der Krise so richtig bei uns unten angekommen. Wir müssen unser Geld vor den Heuschrecken des Marktes und des Staates in Sicherheit bringen, und dazu gibt es keinen anderen Weg, als selber ein Teil des Heuschreckenschwarms zu werden. Bei all den Namen des Schreckens – Hedgefonds, Leerverkäufe, faule Kredite, Bad Banks, Kreditausfall-Swap, Staatsbankrott – ist das Gute: Das Spiel geht weiter, und wir dürfen, okay, wir müssen mitspielen. Da gibt es jetzt so ein geiles Finanzpaket von der Bank X, und die neuseeländische Bank Y zahlt 0,3 Prozent mehr Zinsen auf Drei-Jahres-Festgeld.

Der Staat, der sich aus der Lebenssicherung weitgehend zurückzieht und seine Clowns dabei von »Eigenverantwortung« und »Systemrelevanz« faseln lässt, lässt seine Mitglieder ja nicht nur im Stich, sondern zwingt ihnen förmlich als Selbstschutz und Bürgerpflicht das Spekulieren auf. Wo holen wir uns die nötigen Informationen? Wer nicht den Wirtschaftsteil der Zeit (maßvoll aufklärend) oder den der FAZ (ungerührt) durcharbeiten kann oder will, bekommt etwa im öffentlich-rechtlichen Fernsehen alltäglich eine Börsenlektion, volkstümlich und pornografisch genug, wo die Wege unseres Geldes verfolgt werden. Die Erzählung des Kapitalismus verwandelt sich, während sie nach unten sinkt. Die Miniaturausgabe des Rating-Agenten und Investmentprofis begegnet uns – gegeltes Haar und passende Krawatte, so gerne wäre man Michael Douglas – in der Stadtsparkasse. Der Volksneoliberalismus wiederholt das Krisen-Drama des Neoliberalismus als endlose Kette von Farcen. So lange, bis das Geld oben wieder angekommen ist.

Wenn wir in ohnmächtigem Zorn auf die »Spekulanten« schimpfen, hält man uns höhnisch entgegen: Na, was glauben Sie, was Ihre Notgroschen auf der Bank machen, wenn Sie gerade nicht hinsehen? Was glauben Sie, wie Ihre Riester-Rente zustande kommt? Nicht so sehr die Schuld der Spekulanten sondern die paradoxe Schuld aller deckt die Krise auf und macht daher noch die ersehnte Rückkehr zum Keynesianismus light unwahrscheinlich. Noch unser Kleingeld widerspricht der menschlichen Vernunft. Hätte der Kapitalismus ein Subjekt, so wäre die Krise gar keine Krise, sondern das genaue Gegenteil: ein Angriff und ein Versuch, die eigene Herrschaft zu festigen, zu vertiefen und auszudehnen. Paradoxerweise aber ist es gerade der Machtzuwachs des Systems durch die Krise, die ihm gefährlich werden kann. Was, wenn einmal tatsächlich der Kapitalismus stürbe?

Was läuft

In den Erzählungen des Kapitalismus entwickelt sich ein Kulturkampf um die Frage, ob der Weg in einen herrlich amoralischen, radikal-volkstüm­lichen Neoliberalismus führt oder in einen langweiligen keynesianischen Regulationskapitalismus. Für die Frage, warum keines von beidem die grundsätzlichen Probleme löst, steht unsere Kultur derzeit nicht zur Verfügung. Stattdessen wissen wir: Wir müssten Kapitalismus lernen, um den Kapitalismus zu überleben. Aber diejenigen, die Kapitalismus lehren, lehren ja vor allem, dass man lügen lernen muss. So erzieht der Kapitalismus seine Kinder im Umgang mit Geld.


Autor: Georg Seeßlen

erschienen in Jungle World, Nr. 21, 27.05.2010