Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. So hat es Bertold Brecht geschrieben, und so haben wir es gerne zitiert. Jedenfalls, wenn es um die anderen ging. Wir hingegen, wir haben es genau anders herum gehalten: Erst haben wir unsere moralischen Hausaufgaben gemacht, und dann sind wir zum Essen gegangen. Und höchstens beim Dessert haben wir uns zu fragen getraut, wie das denn zusammen geht mit der Gerechtigkeit und dem Genuss. Kann man sich Lammrücken in Rotwein schmecken lassen, wenn anderswo Hunger herrscht? Kann man Aceto Balsamico auf den Feldsalat träufeln, wenn die Klimakatastrophe droht?
Die Lösung für diesen Widerspruch war einfach: Der politische Einsatz für Natur und Umwelt war das eine, das öffentliche. Der Geschmack, die Lust am guten Essen und Trinken das andere, das Private. Das System war, geben wir’s zu, ein bisschen anfällig für Heuchelei. Oder für Rituale politisch korrekter Nahrungsaufnahme. Was zwischen Askese und Gelage da geschah, hatte etwas durchaus Neurotisches an sich. Und die Hardcore-Grünkern-Variante war auch keine Lösung, weil da das Essen nur noch aus Bekenntnissen und aus Ängsten zu bestehen schien. Mein essen ist Ausdruck der Sorge um meinen Körper und meine Seele, und Ausdruck meiner bescheidenen Solidarität für eine Produktion jenseits der Konzerne. Richtig gutes Essen aber findet man anderswo, und ganz so korrekt ist es dann meistens nicht mehr. Deshalb blieb Geschmack eine Art privates Laster des politisch korrekten Bürgermenschen in Europa.
Jedenfalls bis zum Jahr 1986. Damals gründete der engagierte Linke Carlo Petrini im Piemont eine Bewegung, die von außen erst einmal so aussah wie eine verschworene Gemeinschaft der Genußsüchtigen gegen McDonald’s, gegen die gastronomischen Sünden der EU-Bürokratie und gegen den Vormarsch der Tütensuppe. „Slow Food“ wurde 1989 zu einer internationalen Vereinigung ausgeweitet, und nach und nach wurde deutlich, wie viel mehr hinter Petrinis Idee steckte als Leuten ein neues Forum zu geben, denen ein Stück Rohmilchkäse und ein Glas Barolo fast so viel wert ist wie die Goldberg-Variationen und die gesammelten Werke von Arno Schmidt. Das erste „Slow Food“-Manifest enthielt noch so viel Fortschrittsängste und Provinzidyllenträume, dass man befürchten musste, hier würden Gaumen und Magen in den Dienst der Globalisierungsfurcht gestellt: Das entschleunigte Essen als Trotzreaktion gegen den Neoliberalismus. Petrini hatte erkannt, dass das Industrieproletariat, die klassische Klientel der Linken, als politische Gestalt im Verschwinden begriffen war. Was blieb, war ein wucherndes, widersprüchliches Kleinbürgertum – und die Bauern, die in den Modernisierungsschüben häufig unter die Räder kamen, zugleich aber auch ein neues Selbstbewusstsein entwickelten: Bauern und andere ländliche Produktionsweisen konnten nicht nur kleine Unternehmer sein, sondern auch kulturell und, ja, politisch wirken, jedenfalls wenn sie nicht fest eingebunden waren in ein sagen wir konservatives Modell gesellschaftlicher Funktion. Nicht überall in der Welt war die Nahrungsproduktion so fest eingebunden in ein beharrendes und bewusstloses Potential der rechten Mitte wie in Deutschland. Sie besetzen eine Schlüsselposition in einem Diskurs, der mindestens so bedeutsam ist wie der Diskurs der Arbeit und der Diskurs der Sexualität, der aber anders als diese heillos zerfallen war in den Teil der Moral (Ökonomie gegen Ökologie, zum Beispiel) und in den Teil des Genusses (Fast Food versus die Sehnsucht des Bürgers nach dem Wahren und Unverfälschten). Während die klassischen „grünen“ Bewegungen Bauern und Bürger im Zeichen der Moral zum Dialog bringen (wir wissen: mit einer ganzen Reihe ungeklärter Widersprüche und unfreiwilliger Komik), versucht „Slow Food“ die Neuorganisation dieses Dialogs im Zeichen des Genusses. Es liegt auf der Hand, daß dieser Dialog zuerst einmal über eher konservative, wenn nicht gar reaktionäre Elemente abläuft: Die gute alte Zeit. Das Handwerk. Die Provinz. Genre-Bilder, die bislang durchaus rechts zu besetzen waren. Wir erfinden das Natürliche neu als eine Form der kulturell und sinnlich aufgewerteten Nahrungsaufnahme, bei der beide Teile profitieren, der Bürger von einer Bereicherung seiner Alltagskultur (die, seien wir ehrlich, ohnehin im Begriffe stand, im Fernseher zu verschwinden), der Bauer und seine Produktionspartner durch eine regionale, nicht-industrielle und von den Konzernen unabhängige Herstellungsweise, die seinen Produkten verlorenen Wert und verlorene Würde zurückgeben könnte. „Slow Food“ – das könnte die Konstruktion einer Idylle sein, eine Rekonstruktion des gastronomischen Genusses aus einer neu balancierten Allianz zweier im Grunde erzkonservativer und unbeweglicher Klassen oder dem, was aus Klassen geworden ist. (Zumindest will es so die Mythologie der alten Linken, die sich, zum Beispiel, leicht anhand von Wahl-Statistiken widerlegen lässt.) Die Forderung indessen, mehr Geld, mehr Aufmerksamkeit, mehr Wissen in die Nahrung zu investieren und dabei auf den gesamten Weg zu achten (den Produzenten also als Verbündeten ernst zunehmen) hat mehr soziale Veränderungskraft in sich, als man zunächst vermuten sollte. Und dass dies auch den „Slow Food“- Mitgliedern keineswegs generell bewusst ist, führt zu allerlei rechten Missverständnissen in einem linken Projekt.
Mittlerweile aber hat sich „Slow Food“ einem Prozess der Selbstaufklärung unterzogen, und Petrini spricht offen von einer „Repolitisierung“ der Menschen, die angefangen haben, im Namen des Genusses über ihre Nahrung nachzudenken. Genuss ohne Bewusstsein, sagt er, ist genauso dumm wie Bewusstsein ohne Genuss. Vielleicht kommt der Applaus bei Sätzen wie diesen immer ein bisschen zu schnell. Da lebt einer seine „Lebensphilosophie“ und macht daraus auch, wir sind ja in Italien, eine höchst erfolgreiche „One Man Show“, derer sich vielleicht ein bisschen zu viele Leute zu ungeniert fürs medienwirksame Dabeisein bedienen. Der Anteil von Show und, sagen wir es ehrlich: jenem gastrosophischen Kitsch, der amerikanischen und australischen Gästen ein „amazing“ nach dem anderen „unbelievable“ entlockt, gerät manchmal an die Grenze dessen, was eine im Kern aufklärerische Idee verträgt. Aber der grundlegende Diskurs (dessen populistische Potenz von den Politikern und Politikerinnen in Italien offensichtlich durchaus erkannt wird) bleibt davon unberührt: Leichter als über Ideen und Theorien ist ein Zuwachs an sozialer Gerechtigkeit in der Welt durch etwas vom nahe liegendsten zu erreichen, das auch als Sprache die wenigsten Übersetzungsverluste erleidet. Happa Happa. Essen. Mahlzeit.
Dieser Diskurs wird nun anders geführt als in der klassischen Linken, aber ebenso auch anders als bei den klassischen Ökologie-Bewegungen. Was im übrigen zu der paradoxen Situation führt, daß die Hardcore-Grünen gegen den „Salone del Gusto“, die Superveranstaltung der „Slow Food“-Bewegung, protestieren müssen. Und tatsächlich hat man ja als Besucher blitzrasch wieder das alte schlechte Gewissen, wenn einem von Plakaten die gequälten Augen einer Gans ansehen, die zum Zwecke der Erzeugung einer besonders schmackhaften Leber mit Nahrung vollgestopft wird. Haben wir den Mut, so etwas als Genuss zu konsumieren, das das Leiden der Kreatur mit einschließt? Oder sind wir am Ende gar selber schon die Stopflebergänse des neuen Hedonismus – Sex hat’s nicht gebracht, und Kunst hat uns nur in die Irre geführt? Was mich betrifft hat die arme Gans auf den Plakaten ein wenig ins Leere geguckt, denn ich habe, durch so eine Anklage natürlich „sensibilisiert“, nirgendwo Gänsestopfleberpastete entdecken können. Aber verflixt, der Stachel der Moral sitzt doch tiefer als man denkt.
Beruhigen kann man sich mit dem sozialen Aspekt. „Slow Food“, mittlerweile eine vernetzte Organisation, die ebenso Restaurants auszeichnen kann wie Patronate über Produktionsweisen eingeht, die in eigenen Zeitschriften für regionales und natürliches Essen wirbt und vor allem den gesellschaftlichen Druck auf faire Preise in einer unabhängigen und qualitätsorientierten Landwirtschaft überall in der Welt erhöht, stärkt in der Tat selbst organisierte, kreative und unabhängige Produktionsweisen im Namen der Vielfalt des Geschmacks. Die Welt ist ein System der Essbarkeit, und wenn man sie erhalten will, dann muss man sie gleichsam unendlich essbar machen. Denn was wir nicht essen, das verschwindet, und die industrielle Fast Food-Versorgung ist nicht nur deswegen schädlich, weil sie chemisch verdorben und irgendwie kulturlos ist, sondern auch, weil sie die Sprache der Essbarkeit verknappt. Je essbarer aber die Welt im einzelnen ist, desto mehr liegt sie uns am Herzen. So macht die Stärkung, ja vielleicht sogar die Reinvention einer neuen ländlichen Schicht ihren Sinn: Anders als die Grünen retten die Slow Food-Bewegten die Welt und ihre Vielfalt nicht aus Gründen der Moral (Sie wissen schon: Das mit der Welt, die wir nur von unseren Nachfahren geliehen haben und derlei Unfug) sondern aus Gründen der kulturellen Praxis (Was essen wir heute Abend, und wovon reden wir dabei?) Und sie müssen dabei durch ihre schlichte Parteinahme (die sich nun in der Tat von allen klassischen Genuss- und Fresskulturen unterscheidet) „politisch“ werden, wenn sie es nicht schon sind, weil der demokratische, kultivierte und regionalisierte Austausch von Nahrung und Wissen davon den Interessen der unbeweglicheren unter den Großkonzernen und meta-nationalen Bürokratien ein Dorn im Auge sein muss. Wenn der oder die „Müsli“ und „Körnerfresser“ sich verweigerten, hat das nicht allzuviel geschadet (ehrlich: Ein Big Mac schmeckt doch erst so richtig, wenn man ihn vor den Augen von jemandem verspeist, der trotzig behauptet, eine Karotte sei alles, was er zum Glück braucht), „Slow Food“ aber bewegt nicht nur Köpfe. Es bewegt auch Kaufkraft. Und damit kann man tatsächlich etwas anrichten.
Ist guter Geschmack bei Speis‘ und Trank also die pure Subversion? Der späte Sieg von Antonio Gramscis kommunistischer Kulturtheorie auf dem Speiseplan? Die Verschwörung von westlichen Stadtneurotikern und Bauern in der Dritten Welt gegen Konzernmacht und Massenmedien? Mit einem untrüglichen Instinkt für Wirkungen hat Carlo Petrini das Jahr 2000 für die Inszenierung zweier Events genutzt, die „Slow Food“ als Verknüpfung des Politischen, des Gastrosophischen, des Kulturellen und des Ökonomischen auf den Markt bringt. In Bologna wurde der „Slow Food“-Award für herausragende Anstrengungen in aller Welt vergeben, die Artenvielfalt in Flora und Fauna zu bewahren. Während in der überfüllten Aula der Universität Vorträge zu Themen wie der Transkulturation durch Küchengenüsse oder das Essen in der Kunstgeschichte gehalten wurden, arbeiteten sich die mehr als vierhundert Juroren durch Salami- und Weinproben an die Urne, um zum Beispiel jenem türkischen Imker ihre Stimme zu geben, der einer alten, vom Aussterben gefährdeten Bienensorte Überlebensmöglichkeiten geschaffen hat, oder dem Neuseeländer, der gemeinsam mit einer Maori-Gruppe alte, vergessene Kartoffelsorten rekultiviert. Ein Frauenprojekt in Mauretanien, Käse aus Kamelmilch betreffend (übrigens nicht gerade eine kulinarische Offenbarung, aber immer noch besser als der Brie, für den Winnetou Reklame macht). Landwirtschaftliche Archen, in denen vom Aussterben bedrohte Pflanzen erhalten bleiben. Die Wiederbelebung der nomadischen Weidewirtschaft in Spanien. Und so weiter. Daß dann fünf von 13 Kandidaten mit einem Geldpreis bedacht werden, ist eigentlich wieder nur ein Show-Element. Wichtig ist, Modelle vorzuzeigen, wie man das Ökologische mit dem Kulturellen verbindet. Oft genug hilft da die Rückkehr zu einer alten Produktionsweise einer neuen sozialen Emanzipationsbewegung. Danach ging es zum Abendessen in eins der kleinen, langsamen Ristorantes der Provinz, wo die Köchinnen und Köche ihre Menüs eifrig mitschreibenden Damen und Herren aller fressbewussten Länder erklärten.
Das zweite große „Slow Food“-Ereignis ist der „Salone del Gusto“ in Turin, ein riesiger Markt des Geschmacks, bei dem die Produzenten direkt ihre Nahrungsmittel anbieten, von denen viele in Gefahr stehen, in Kürze von Brüsseler Hygiene- und Normierungsbestimmungen vernichtet zu werden. Hier in Turin kann man sich mit Proben und Broschüren eindecken, in Geschmackslaboren seine gastrosophische Sensibilität testen und sich bei fachkundig geleiteten Exkursionen die Herstellung von Schafskäse, Olivenöl oder Mortadella erläutern lassen. Man kann dabei, je nach Tagesform, auf den Geschmack kommen oder sich denselben gründlich verderben.
Denn das Schöne an beiden Veranstaltungen, so unterschiedlich sie ansonsten sein mochten, ist es, dass sie sich dem Widersprüchlichen, wie es aus dem Zusammenprall von Genuss und Bewusstsein nun einmal entsteht, vollkommen unbefangen stellen. Man sucht die politische Diskussion, entwirft Gedankenbilder und große Erzählungen, wie es sich die traditionelle Linke längst nicht mehr getraut. Und andererseits ist man mit seiner Probiergabel auf Beutejagd und schmatzt einem Chardonay hinterher, als wäre man auf einer Fressparty bei Frau Konsul Großkotz. Und beim Abendessen im Palazzo, das der Erbe der Barilla-Pasta-Fabriken gesponsert hat – gesponsert wirkt hier überhaupt bemerkenswert unbefangen -, soll man sich da leger geben, als hätte uns Fellini zu Tisch gebeten, oder sollen wir eher doch beweisen, dass wir wissen, welches von den sieben Gläsern wir der jeweiligen Weinflasche entgegenhalten müssen? Ach wir ahnen es: Wir können eine neue Kultur von Genuss und Geschmack nur auf den Trümmern der alten errichten. Vielleicht mit einer neuen Lust, das Widersprüchliche an uns universalen Kleinbürgern auszuhalten. Und an die Stelle der alten Heuchelei eine neue Doppelstrategie setzen. Wie in der Geschichte, die mir mein Tischnachbar aus Seattle beim „Cena di Salute“ erzählte: Am Nachmittag war er in Parka und Wollmütze unter den Demonstranten gegen den Weltwirtschaftsgipfel gewesen und bekam von einem Polizisten einen Gummiknüppel vor die Brust gehauen, der ihn einen „schmutzigen Bastard“ schimpfte. Am Abend, nun „richtig gekleidet“, kam er mit der Limousine zur Eröffnung eines neuen Feinschmeckerlokals vorgefahren, und ein Polizist machte ihm den Weg frei. Es war derselbe wie der vom Nachmittag, und nun nannte er ihn „Sir“. In Bologna und Turin konnten diese beiden Seiten eines kritischen und genussfreudigen Bürgers wieder zusammenkommen. Natürlich nur, um bei der nächsten Gelegenheit wieder auseinanderzufallen.
Der Trick von „Slow Food“ ist es, den Diskurs des Essens zu politisieren, ohne es zu einem ideologischen Ritual zu machen. Der genießende und der kritische Teil des Bürgers begegnen sich bei Tisch, ohne zu behaupten, sie hätten alle ihre Widersprüche beigelegt. Lacan hätte seine Freude an uns! Es ist die Beweglichkeit, die Unverfrorenheit der Lust am Widersprüchlichen, die eine Bewegung wie „Slow Food“ vielleicht auf Dauer zur probaten Nachfolge der grünen Bewegung macht, in der Praxis und Theorie beim besten Willen nicht mehr zusammen zu bringen sind. Man schafft neue Allianzen und neue Kommunikationsformen, ohne zu behaupten, im Namen aller Verlierer der Modernisierungen sprechen zu können. Die höchst verdächtige Ideologie der „Ganzheitlichkeit“ hat hier keine Chance. „Slow Food“ ist in der Tat auch in dieser Hinsicht „postmodern“. Die große linke Erzählung von der Revolution mag nicht mehr funktionieren, wohl aber ein Netz der Erzählungen von Eigensinn und Solidarität. Jedenfalls südlich der Alpen, wo man schon davon träumt, eine ständige Vertretung in Brüssel zu etablieren. „Slow Food“ soll niemals eine Partei werden, wie die Grünen (und damit niemals in der Konsequenz der Macht korrumpiert und gleichzeitig gezwungen, die Korruption auch noch moralisch zu rechtfertigen), wohl aber eine mächtige Lobby, die überall auftauchen kann, weil sie nirgendwo Berührungsängste hat. Weiter im Norden tut man sich mit so viel Offenheit noch schwer. Ein Sponsor-Angebot der Kaffee-Firma Lavazza etwa lehnte die deutsche „Slow Food“-Sektion mit der Begründung ab, dadurch an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Tatsächlich weiß niemand, wohin der wachsende Einfluss und die wachsende Verbindung von Slow Food mit der Politik und der Wirtschaft führen, die Parallel zur „Repolitisierung“ der Bewegung läuft. Ich habe noch nie in meinem Leben die Frage so oft und von so unterschiedlichen Menschen gehört: Wer hat das alles bezahlt? Und warum?
Die neuen Allianzen zu Tisch mögen also auch politisch höchst prekär sein. Für Fundamentalisten ist das alles nichts. Überdies mag ja die Aufforderung, die Welt im Zeichen des oralen Genusses neu zu definieren im Angesicht der, nun ja, BSE-Krise wie ein Pfeifen im Wald erscheinen. Denn „vergiftet“ ist nicht nur das Fleisch, und zwar das durchaus besondere jenes Tieres, das auch als Nahrungslieferant etwas durchaus heiliges hat, und von diesem noch die heiligsten und bizarrsten Teile, vergiftet als Parallelaktion einer alten Tabu-Installation, des Kannibalismus, vergiftet ist auch der Diskurs: Vergiftet ist vor allem jene Instanz dabei, der wir so leichtfertig alle Regelungen überlassen haben: der freie Markt der globalen Produktion.
Beinahe jede theoretische Überlegung in Bologna ging von einer fundamentalen Beobachtung aus: Das Essen ist die allererste Kultur der „Identifikation“, regional, kulturell aber auch sozial. Und es ist zugleich das ursprünglichste Medium von Erfahrung und Neugier. Um es mit den Worten einer Diskussionsrednerin zu sagen: Dass es das Essen einer Landschaft, einer Stadt – „Bologna la grassa“ – oder einer Klasse gegeben hat, aber nie das Essen einer Nation, aller Propaganda zum Trotz, das zeigt gerade, wie spät und wie künstlich dieser Begriff ist. Wohl war! Ein „Nationalgericht“ ist nichts anderes als Propaganda, you „Krauts“, „Frogs“ und „Spaghettis“ all over the world. „Slow Food“ ist eine regionalistische und anti-nationalistische Bewegung, im besten Fall wird sie Anteil haben an einer neuen, weltweit gültigen und politisch reflektierten Semiologie des Genusses. Wer den Unterschied zwischen einem Tölzer Rehragout und Leipziger Allerlei zu genießen weiß, der kommt wahrscheinlich nicht mehr auf die Idee, von etwas so absurdem wie einer deutschen Leitkultur zu sprechen. Also: Es lebe die vernetzte Welt, und es lebe die kulinarische Provinz! Es lebe das Fressen. Und es lebe die Moral!
Autor: Georg Seesslen
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