Über schönes und nicht so schönes Grün
Die Stadt, sagt der amerikanische Filmregisseur Jim Jarmusch, ist kein Lebensraum mehr sondern eine Immobilie. Und das Schlimmste was einem passieren kann, ist, dass irgendjemand zeigt, dass ihm das Leben an einem Ort der Stadt Spaß macht. Wie magisch zieht das Viertel der Glücklichen den Spekulanten an, und das Spiel von Gentrification und Verwahrlosung beginnt von neuem. In manchen Städten schneller, in anderen langsamer. Urbane Heimat wird ein rares Gut, Lebensraum, mit allem, was dazu gehört, immer schwerer zu verteidigen. Was unter anderem dazu gehört, das ist das Grün.
Bauen, da kann man nichts machen, ist immer auch die Verwandlung von Natur in Kultur, und darin steckt das Destruktive so sehr wie das Kreative. So geht es auch darum, von der Natur etwas in die gebaute Kultur zurück zu holen, zum Teil durch Planung, zum Teil durch die Praxis des Bewohnens. Und hier und da holt sich die Natur selber ihren Platz zurück, Füchse streifen durch die Stadt, und der Löwenzahn bricht durch den Asphalt.
Stadt und Land. Das war einmal. Hier geballte Kultur mit allen Nachteilen, auch jener, dass Natur nur in der allgebändigtsten Form vorkommt, und hier Natur mit allen Nachteilen, auch jener, dass Kultur nur in aufgelöster Form vorkommt. Stadtluft, die frei macht, weil die urbane Toleranz und die natürliche Begabung der Stadt zur Begegnung der Sprachen, Kulturen und Identitäten eine Persönlichkeit formt, die sich frei bewegt. Und Landluft macht frei, weil man tief durchatmen kann, wo dies und jenes noch wächst wie es will.
Man musste, so oder so, das Grün in die Stadt holen. (So wie man zur gleichen Zeit, spätestens mit dem Fernsehapparat, das Städtische aufs Land brachte.) Das Grün in der Stadt kommt, grob eingeteilt, in zehn verschiedenen Formen vor:
1. Die Beiläufige Begrünung öffentlicher Orte, der Straßen und Plätze. Die Erbschaft besserer Wohngegenden.
2. Der Park, der sich am ehesten als „englischer“ durchgesetzt hat, also als Anpflanzung mit „naturnaher“ Landschaft, mit romantischen Flecken, die aussehen, als wären sie wirklich so gewachsen. Gesundheit steht hier hoch im Kurs, ein vernünftiges Wohlfühlen. Am anderen Ende: der Botanische Garten. Das Grün zum Staunen.
3. Die grüne Gastronomie, Biergärten, Ausflugslokale, Gartenrestaurants mit angeschlossener Spiel- und Liegewiese, Schwimmbäder und Sportplätze, kurz gesagt: ein Grün als ökonomische Benutzerfläche. Manchmal geht es hier über die Vernunft hinaus.
4. Der große Privat-Park der Villen und Bungalows, die kleinen Gärten, noch nicht gänzlich durchgeplant von Einfamilienhäusern, die Handtuch-Flächen vor den Reihenhäusern. Privatbesitz. Durchgang verboten. Mein Haus. Mein Auto. Mein Garten. (Verdammt, das Auto frisst den Garten auf.)
5. Das kleine Grün zur Straße hin (unbegehbar, eine grüne Grenze gleichsam), bepflanzt mit Koniferen und Bodendeckern, Natur soll schützen vor Schritten und Blicken, Hecken sollen den Widerspruch auflösen, zur Welt hin offen und zugleich gegen sie geschützt zu sein. (Die Katze benötigt ein Glöckchen, damit sie die brütenden Vögel nicht holt und irgend etwas undurchdringliches, abstoßendes soll dafür sorgen, dass nicht auch noch das kleinste Grün zum Hundeklo wird, wie uns ja überhaupt die urbane Verbindung von schönem Grün und Hundescheiße zur Verzweiflung bringt: Zwei domestizierte Natur-Formen, die sich gegenseitig ruinieren.)
6. Das neue Grün, das in die Architekturen selber geholt wurde, das Grün der Dachgärten und der durchgestylten Zwischenräume, der mehr oder weniger kreative Dialog von architektonischen Ordnungen und floralem Wachstum (einschließlich der „geplanten Verwilderung“), die Pflanze als Ornament, Bild und Zeichen. Haben wir je Architektur-Modelle gesehen, ohne die Bäumchen? Nein, der Dialog wird gewagter nun: Gärten und Parks hoch über der Stadt, ganz buchstäblich erhobene und erhabene Natur in der Stadt, raffinierte Wegführungen inbegriffen.
7. Das Grün des Zoning, die Zwischenräume zwischen den Wohnsilos und Anlagen, hier ein künstlich mäandernder Wiesenweg zu den Mülltonnen, dort ein Kinderspielplatz, unentscheidbarer Kampf zwischen Pflege und Verwahrlosung, Ballspielen verboten.
8. Die privaten Gärten, von der Schreberanlage an den Bahngleisen bis zum suburbanen „ganzen Stolz“: Kleinteiligkeit ist Trumpf, von allem etwas soll es hier geben, nützliches und schönes. Und am Wochenende wird gegrillt.
9. Das industrielle und kommerzielle Grün der Fabriken und Büros, Teile eines Gesamtbildes zur Corporate Identity, seht die Menschenfreundlichkeit, die Goßzügigkeit, die Natürlichkeit unseres Unternehmens, mit nichts kann man Reichtum so „richtig“ ausdrücken wie mit Grünflächen, privatwirtschaftliche oder lokalpolitisch; das geschäftige Grün (gelegentlich gärtnerischen Ehrgeiz anstiftend) der öffentlichen Verkehrsanlagen, Straßeninseln und Kreisverkehre, Mittelstreifen und Weg-Trennungen, der Baumbewuchs der Wohnstraße, wohltuend und Parkplatz-raubend, und, Höhepunkt kommunaler Großherzigkeit: Grünfläche, einfach so, mittendrin, mit einer Bank vielleicht, gar einem Brunnen, ja, die Stadt liebt im Grün ihre Bürger, und die Bürger lieben im Grün ihre Stadt.
10. Das Restgrün der unbebaubaren Landschaften, das Flußgelände, die Überschwemmungs gebiete, der Bahndamm, aber auch das „historische Grün“ um unsere alte Stadtmauer, unser altes Schloss, der Klostergarten, jenes Grün, das uns automatisch in die Huckleberry Finns und Pipi Langstrumpfs verwandelt, die wir immer waren, aber nicht sein durften, aus Mangel an Mississippi und Villa Kunterbunt-Garten.
11. Das Randgrün des Niemandslandes, Stadtwälder und Ödgebiete, Bauland, das noch auf seine Erschließung, erschlossenes Land, das noch auf seine Bebauung wartet. Düstere Romantik, seltsame Schönheit von waste land und Paradies (schon wird es wieder organisiert, wie der Park zum Nordic Walking, so lädt das natürliche Niemandsland zum Geländesport ein, motorisiert oder pedalistisch,
12. Das kleine Grün der Balkone, Terrassen, Fenster und Flure, das Grün in Vor- Wartezimmern und Büros. Man kann nicht wohnen ohne Pflanzen, man kann nicht wohnen ohne grün. Am Ende tut es das Vergissmeinnicht auf dem Küchentisch.
Alle diese urbanen greens haben Glücksversprechen ebenso in sich wie die Elemente des Grauens: Ist der große Park nicht, gerade noch kleines Paradies der Paare und Familien, mit Einbruch der Dämmerung der Ort des Verbrechens? Jagt nicht ein Hausmeister mit unangenehmer Blockwart-Stimme spielende Kinder von „seinem“ Rasen? Wehen im abenteuerlichen Randland die leeren Plastiktöten über die Körper jener, die hier nur ermordet werden können? Finden sich nicht, neben dem obligatorischen Hundedreck, auf den Spielplätzen des Morgens gebrauchte Spritzennadeln und Kondome, Bierflaschenscherben und Tablettenpackungen? Ist nicht der Schrebergärtner jener, der eisern auf die Vereinsregeln pochend die Strauchhöhe des Nachbargrundstücks moniert? Wappnen die privaten Grünflächen sich nicht mit Mauern und Hunden gegen neidische Blicke? Und verkommt nicht das öffentliche Grün zu geschmacksarmer Tourismus-Werbung (Willkommen in Blumenschrift, Bananenstauden vor dem Bahnhofsgebäude)? Sehen wir nicht Bäumen und Sträuchern in unserer Straße beim Leiden und beim Sterben zu? Sieht nicht ein Reihenhaus-Garten wie der andere aus, beinahe, nach Vorgaben aus dem Gartencenter und „Mein schöner Garten“? Und endet nicht alles Grün in der Stadt entweder als schwer bewachtes Refugium oder als Müllplatz? Das gedachte Grün ist nie das gelebte Grün, so wenig wie das ersehnte.
Vielleicht kann man in Anlehnung an das berühmte „kulinarische Dreieck“ der strukturalistischen Ethnologie auch so etwas wie ein florales Dreieck der urbanen Begrünung entwickeln. Es könnte so aussehen
Das Natürliche
Das Geformte Das Zerstörte
Das natürliche Grün ist in unserer Stadt natürlich widernatürlich. Es wirft keinen Profit ab, dient nicht der sozialen Kontrolle und droht mit der Ausweitung der Verwilderungszone. Dennoch bleibt das natürliche Grün der Sehnsuchtspunkt. So wird im Geformten, wenn es „schön“ sein soll, und zwar möglichst für alle, Benutzer, Besitzer, Reisende, Flaneure, Bewohner und Bearbeiter, immer ein Hauch des Natürlichen bleiben wollen. Das Zerstörte, in Analogie zum „Verdorbenen“ im kulinarischen Dreieck, ist zugleich das Grün, das zum Opfer aller erdenklichen Formen von Vandalismus und Missbrauch wurde, und jenes Grün, das Züge der „Perversion“ trägt (Pflanzen, die „hier nicht hergehören“, die zu sehr Kunstwerk oder Ornament sind, um noch Natur zu sein, bei denen das Verhältnis von Pflege und Gebrauch aus der Balance geraten ist).
Wir verstehen: Im Grün spricht die Stadt mit sich selbst, und sie tut es in einer Sprache, die wesentlich komplizierter ist als es Werbung und Projektion von „grünen Städten“ tun können, und pretty green kann daher nur eine kleinbürgerliche Aneignung oder eine Utopie sein. Die zwei großen Diskurse des Grüns in der Stadt sind Nutzen und Schönheit. Parks, zum Beispiel, sind „grüne Lungen“, eine „grüne Stadt“ ist gut für den Tourismus, eine Architektur mit etwas grün sieht doch gleich viel netter aus. Pretty Green eben. Der Beginn einer wundervollen Freundschaft zwischen Architektur, öffentlichem Leben und Umweltbewusstsein. Im öffentlichen und organisiert-privaten Grün weist eine Stadt ihre Bereitschaft aus, auch „innerlich“ grün zu werden, auf umweltschützende, energiesparende und schadstoffarme Bauten zu setzen, den Verkehr möglichst so zu regeln, dass sich die Luft noch atmen lässt, öffentliche Verkehrsmittel dem Individualverkehr vorzuziehen, die durch die Shopping Mals (sehr komisch: „auf der grünen Wiese“) entstandene Austrocknung der Innenstädte rückgängig zu machen, verlorene öffentliche Räume zum Begegnen und Verweilen wieder herzustellen, kurzum: Im Grün sehnt sich die Stadt nach Bewohnbarkeit.
Aber das Grün in der Stadt ist auch ein semantisches System. Wer es mit dem Grün übertreibt in der Stadt, der hebt seine Urbanität auf. Wer sich nicht darum kümmert, macht die Stadt unbewohnbar. Und ebenso wenig wie ein nicht benutzbares Grün erzeugt ein nichts bedeutendes Grün weder urbanen Sinn noch Glück. Pretty ist das Grün in der Stadt immer nur für einen bestimmten Blick; das Grün ist nicht gleich schön für Bewohner und Besucher, für Besitzer und Passanten, für arm und reich, jung und alt usw. So gehört zur inneren Balance einer Stadt ganz sicher, dass sich die Kluft zwischen „grünen“ und nicht-grünen Arealen nicht allzu sehr verbreitert; dass das Grün der einen mit dem Grün der anderen Art korrespondiert; dass, mit anderen Worten Grün nicht nur als ein Distinktionsgewinn (immobile Wertsteigerung), sondern im Gegenteil als gemeinsames Projekt erscheint.
Pretty Green? Reclaiming the green!
Autor: Georg Seeßlen
geschrieben April 2010
Foto via
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