Am 28. Januar 1972 verabschiedeten Bundeskanzler Brandt und die Ministerpräsidenten der Länder ihre »Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst«, bekannter geworden unter der Bezeichnung ›Extremistenerlass‹ oder ›Radikalenerlass‹. 2012 hätten wir also nicht nur ein krummes, sondern auch ein sehr stilles Jubiläum. Die Konservativen, denen die damalige Aktion durchaus zusagte, erinnern sich dennoch nicht gern daran, denn schließlich endete das Ganze mit einer Niederlage vor dem Europäischen Menschengerichtshof. Den Anhängerinnen und Anhängern der sozialliberalen Koalition ist die Sache ohnehin nach einiger Zeit peinlich geworden: sie warf einen frühen Schatten auf ihr 1969 mit der Wahl Brandts ins Leben gerufenes Projekt und zeigt auch im Nachhinein noch sehr deutlich, wozu dieses damals taugen sollte und wozu nicht.
Die Regierung Brandt/Scheel hatte drei Aufgaben: Erneuerung der Infrastruktur, Erschließung der östlichen Märkte für westdeutsche Exporte, Öffnung eines Umweges zur kapitalistischen Wiedervereinigung, nachdem Adenauers Versuch einer schnellen Reconquista durch die Mauer 1961 gestoppt worden war. Eine vorläufige Anerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Linie war hierfür nützlich.
Diese Ziele wurden auch von CDU und CSU hingenommen, wenngleich teilweise nur heimlich. Dass mehr Schulen und Universitäten nötig waren, wussten ihre Kultusminister in den Ländern, und in Nordrhein-Westfalen (immerhin bis 1966 unionsregiert) und Bayern wurde durchaus etwas dafür getan. Die Osthändler waren ohnehin CDU/CSU-Anhänger. Wegen der Grenzen allerdings hätte es Ärger mit den Vertriebenenverbänden gegeben, deshalb sollten in dieser Angelegenheit lieber die Sozialdemokraten sich die Hände schmutzig machen.
Damit sie danach möglichst schnell wieder abgelöst werden konnten, musste sofort Opposition gemacht werden. Als geeignetes Thema hierfür erwies sich die Innere Sicherheit. Der Auftritt der RAF führte zur Forderung an die Regierung, sie solle Härte zeigen. Brandt erklärte, man müsse ihn nicht zum Jagen tragen. Aber die Union verlangte mehr: der Öffentliche Dienst werde von Verfassungsfeinden belagert, die müssten draußen bleiben.
Gemeint waren junge Leute, die von der APO politisiert worden waren und nun Lehrerinnen und Lehrer werden wollten. Nach konservativem Verständnis gehörten Akademiker zur Elite, und 1968 waren Teile von ihr desertiert und sollten nun durch Drohungen wieder in den Pferch zurückgetrieben werden.
Diese Betrachtung war etwas oberflächlich, denn sie verkannte einen Tiefenprozess: das Anwachsen der Intelligenz zur Massenschicht. Hier wurde die SPD aufmerksam: nach Godesberg hatte sie sich allmählich dieses Potential erschlossen, und sie wollte es nicht verlieren. Die 1968 gegründete DKP war einige Zeit attraktiv für die Uni-Population geworden.
Unter Wandel durch Annäherung – 1963 von Egon Bahr propagiert – wurde die Anverwandlung des Ostens an den Westen beabsichtigt. Kommunisten im Öffentlichen Dienst waren nach diesem Verständnis das Gegenteil. Deshalb sollten sie nicht zugelassen werden. Somit enthüllte sich die neue Ostpolitik als Fortsetzung des Kalten Krieges unter den Bedingungen zeitweiliger Entspannung.
Einige Apologeten der Berufsverbote versuchten diese damit zu rechtfertigen, dass durch sie der Ausgleich mit den sozialistischen Ländern in der Frage der Grenzen innenpolitisch abgesichert werden solle: der Union dürfe keine Gelegenheit gegeben werden, wieder an die Regierung zu kommen, denn dann würden die Verträge, die 1970 mit der Sowjetunion und der Volksrepublik Polen geschlossen würden, nicht ratifiziert. Dass dies nicht zutraf, zeigte sich im Mai 1972, als CDU und CSU durch ihre mit der Koalition abgestimmte mehrheitliche Stimmenthaltung im Bundestag diese passieren ließen.
1971 begann der sozialdemokratisch geführte Senat in Hamburg kommunistischen Lehramtsbewerber(inne)n den Weg ins Referendariat zu versperren. Im gleichen Jahr lehnte es der Wissenschaftssenator Moritz Thape in Bremen ab, das DKP-Mitglied Horst Holzer an die Universität Bremen zu berufen. Ernest Mandel durfte nicht Professor in Westberlin werden (zuständig: Senator Stein, SPD). Der Innenminister Genscher (FDP) verbot ihm sogar die Einreise in die Bundesrepublik. Auch in Bayern und anderen Unions-regierten-Ländern ließ man Linke nicht in den Staatsdienst. Allerdings bewarben sie sich dort seltener.
Bei derart einheitlicher Praxis wäre eine weitere Absprache gar nicht nötig gewesen. Da aber vor allem die SPD ihre Zuverlässigkeit demonstrieren wollte, fanden sich am 28.1.1972 ihre Ministerpräsidenten und Brandt zur gemeinsamen Erklärung mit den Regierungs-Chefs der unionsregierten Länder bereit: »Gehört ein Bewerber einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eintreten wird. Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel eine Ablehnung des Anstellungsvertrages.«
Das also war der so genannte Radikalen- oder Extremistenerlass. Formal ist die Bezeichnung nicht völlig korrekt. Ein Erlass ist ein amtliches Schriftstück, das sich an eine konkret angegebene juristische oder natürliche Person richtet. Hier war es eher eine Art Erklärung ans Volk. Man sei sich in dieser Frage einig.
Die Praxis, die am 28. Januar 1972 nicht ins Leben gerufen, sondern nur bestätigt worden ist, war älter als die sozialliberale Koalition. 1950 gab es schon den so genannten ›Adenauer-Erlass‹. Er zählte dreizehn Organisationen – elf linke und zwei faschistische – auf, deren Mitglieder aus dem Öffentlichen Dienst zu entlassen oder von diesem von vornherein fernzuhalten waren. Auch hier stimmt die Bezeichnung nicht ganz. Es war nicht nur eine Tat Adenauers, sondern auch seines Innenministers Gustav Heinemann (kurz bevor der spätere Bundespräsident aus anderen Gründen das Kabinett im Streit mit dem Kanzler verließ). Zu Kaiser Wilhelms Zeiten kannte man die ›Lex Arons‹, benannt nach einem Physiker und Erfinder einer Quecksilberdampflampe, der nicht Privatdozent bleiben durfte, denn er war Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Und 1933 verkündeten die Nazis das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«.
Die lange Tradition der Berufsverbote unterschied die Bundesrepublik vom Vorgehen anderer kapitalistischer Länder im Kalten Krieg nach 1947. Eric Hobsbawm berichtet in seinen Memoiren, wie man es in Großbritannien während der fünfziger Jahre machte: Kommunisten im Öffentlichen Dienst wurden von ihren Vorgesetzten aufgefordert, aus ihrer Partei auszutreten. Weigerten sie sich, wurden sie nicht entlassen, allerdings nie mehr befördert. In Ländern mit starken kommunistischen Parteien – Frankreich, Italien – war an eine Berufsverbotspraxis wie in der Bundesrepublik ohnehin nicht zu denken.
Aufgrund des Beschlusses vom 28. Januar 1972 ist die ›Regelanfrage‹ eingeführt worden. Wer in den Staatsdienst wollte, wurde vorher vom Verfassungsschutz gescreent. Der quantitative Ertrag ist in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung so beziffert worden: Von »Anfang 1972 bis Ende 1979 wurden etwa 2-2,4 Millionen und bis 1987 3,5 Millionen Menschen überprüft (›Regelanfrage‹ bei Bewerbungen um eine Erst-Einstellung). Der Verfassungsschutz verfügte über Akten mit negativen Informationen über rund 35.000 Personen. Die Behörden versperrten anfänglich 10.000 Bewerbern den Zugang zum öffentlichen Dienst, von denen allerdings viele später erfolgreich Berufung vor höheren Amtsstellen oder vor Gericht einlegten. Schließlich wurden zwischen 1.102 und 2.250 Personen nicht eingestellt.« *136 wurden entlassen. Schwerpunkt waren die Schulen, aber es gab auch Berufsverbote bei Bahn und Post, bei letzterer sogar besonders heftige: Briefsortierer und –zusteller, die schon längst Beamte auf der untersten Stufe waren, wurden wegen DKP-Mitgliedschaft entfernt. Nur im Saarland soll es keine Berufsverbote gegeben haben.
Von Anfang an gab es breiten Protest. Dass der BdWi bei seiner Wiedergründung Anfang Juli 1972 auf Anhieb 1000 Mitglieder hatte und breite Resonanz fand, war u.|a. auch eine Reaktion auf den Beschluss vom 28. Januar. Eine Initiative »Weg mit den Berufsverboten« organisierte eine der bis dahin breitesten außerparlamentarischen Bewegungen in der Bundesrepublik. Helmut Ridder, Mitglied im Engeren Bundesvorstand, war für den Verband im Kampf gegen die Berufsverbote federführend.
Im Ausland wurde man schnell hellhörig. Alfred Grosser machte die deutsche Radikalenverfolgung zum Thema seiner Friedenspreis-Rede 1975. Besonders verwies er auf den Fall der Lehrerin Silvia Gingold aus einer jüdischen und kommunistischen Familie: ihre Eltern waren während des Nationalsozialismus nach Frankreich emigriert, hatten viele Angehörige verloren und in der Résistance gekämpft. Jetzt sollte die Tochter ihren Beruf nicht ausüben dürfen. In Frankreich kündigte François Mitterand die Gründung eines eigenen Komitees gegen die deutschen Berufsverbote an, unterließ es dann allerdings.
Seit Beginn der Lehrerarbeitslosigkeit in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre erwies es sich nicht mehr als nötig, dass sich die Einstellungsbehörden mit politischen Ablehnungsgründen blamierten: wurde jemand nicht genommen, lag es eben einfach am Überangebot an Bewerbungen. Um 1980 herum wurde zunächst in den sozialdemokratisch regierten, dann in allen anderen Ländern (zuletzt 1991 in Bayern) die Regelanfrage wieder abgeschafft, »Bedarfsanfragen« aber bleiben bis heute möglich. In Niedersachsen gab es Anfang der achtziger Jahre noch ein paar besonders harte Berufsverbote. 1995 befand der Europäische Menschenrechtsgerichtshof, dass die Lehrerin Dorothea Voigt, die in den vorangegangenen Instanzen vom Rechtsanwalt Gerhard Schröder vertreten wurde, in diesem Land wieder einzustellen sei. Als Annette Schavan in Baden-Württemberg ein Berufsverbot gegen den Antifaschisten Michael Csaszkóczy verhängen wollte, entschied 2007 ein Gericht in Karlsruhe für ihn.
Schon der späte Willy Brandt soll irgendwann gemurmelt haben, die Sache mit dem so genannten Radikalenerlass sei wohl ein Fehler gewesen.
Er irrte. Die Maßnahme hatte durchaus eine beabsichtigte Wirkung. Nach 1972 rieten so manche besorgten Eltern ihren radikalen Kindern, sie sollten es doch lieber mit Umweltschutz versuchen. Vorsicht zog bei den jungen Leuten ein. Die SPD hatte allerdings nichts davon: zwar war nicht die DKP die Generalvertretung der Massenschicht der Intelligenz geworden, dafür wurden es die Grünen.
Als die Berufsverbote in Westdeutschland ihr Werk getan hatten, wurden sie ab 1990 in der ehemaligen DDR nachgeholt, und zwar in ganz anderer Quantität. Die Abwicklung der ostdeutschen Intelligenz war die breiteste deutsche Berufsverbotswelle seit dem Faschismus.
Nachdem auch das erledigt ist, befindet sich die Diskriminierung aktuell in einer Art Latenzphase. Der Knüppel kam in den Sack, ist aber noch da. In der politischen Kultur besteht eine Ost-West-Grenze. In Frankreich, Italien, Großbritannien und Ländern mit ähnlicher Vergangenheit gibt es wohl immer noch keine Berufsverbote. In Osteuropa wird auch einmal eine kommunistische Organisation verboten, das Zeigen einschlägiger Symbole wird kriminalisiert, und das Europaparlament wird mit antikommunistischen Entschließungsentwürfen aus dieser Weltgegend behelligt. Deutschland ist eher östlich. Hier darf selbst die Vorsitzende der Linkspartei nicht über Kommunismus reden, ohne dass ihr der Mund gestopft wird. Junge Linksradikale vor dem Eintritt ins Berufsleben sind gut beraten, wenn sie sich ein spurentilgendes Design zulegen – eine Klandestinität, die dem Verfassungsschutz und anderen Sicherheitsdienstleistern in Zukunft vielleicht neue Aufgaben zuwachsen lässt. Letztlich aber ist staatliche Aktivität weniger nötig: die Selektion hat längst jenes Gebilde übernommen, das man mit frommem Augenaufschlag als Zivilgesellschaft zu bezeichnen sich angewöhnt hat.
* Gerard Braunthal 1992: Politische Loyalität und Öffentlicher Dienst. Der »Radikalenerlaß« von 1972 und die Folgen, Marburg: 117.
Georg Fülberth
In: Forum Wissenschaft, Nr. 1/2012, S. 49 – 51.
- Uli Schöler: Wolfgang Abendroth und der „reale Sozialismus“. Ein Balanceakt. - 28. Oktober 2013
- Die Deutsche Bank im System des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus - 23. Februar 2013
- Wolfgang Fritz Haug: Hightech-Kapitalismus in der Großen Krise - 25. Oktober 2012
7. Mai 2012 um 10:45 Uhr
Für Hannes Wader, dem bekannten und m. E. hervorragenden deutschsprachigen Volks- und Balladensänger, der am 23.06. diesen Jahres 70 Jahre alt wird, besteht offensichtlich schon seit vielen Jahren bei allen öffentlich-rechtlichen deutschen Sendeanstalten ein kollektives Auftrittsverbot.
Zuletzt lediglich ein kurzer Fernseh-Auftritt anlässlich des 90. Gebutstagstags von Hanns Dieter Hüsch am 06.05.2005. Solche Praktiken kennt man u.a. aus China , der Ukraine und Putins Russland, bei denen dann an die Einhaltung der Menschenrechte appelliert wird.
Unsere stabile und gelegentlich wehrhafte deutsche Demokratie wird doch wohl so viel Meinungsfreiheit vertragen. Den Abgeordneten der Linksparei wird in den Parlamenten ja auch genügend Redefreiheit und -zeit eingeräumt, ohne dass die Republik daran Schaden nimmt.
Deshalb Schluss mit dem Auftrittsverbot für Hannes Wader bei deutschen Sendern, das de facto einem Berufsverbot gleichkommt.
Die Zeit der Bücherverbrennungen sollte ein für allemal vorbei sein.
Volker Möbius