Das aufsteigende Bürgertum der frühen Neuzeit legitimierte sich gegenüber dem Absolutismus nicht nur durch seine Losung von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, sondern auch durch die Behauptung, dass der von ihm betriebene Handel friedlichen Fortschritt statt militärischer Gewalt bringe. Im Feudalismus erfolgte die Aneignung des Mehrprodukts durch den Adel letztlich mit außerökonomischer Gewalt: er war bewaffnet und konnte sich von den Bauern nehmen, was er wollte. Im Absolutismus hatte der so genannte Dritte Stand hohe Steuern für den staatlichen Militärapparat aufbringen müssen und wollte diese los sein. In der absolutistischen Wirtschaftspraxis des Merkantilismus kombinierten sich Handelsbeschränkung und Gewalttätigkeit – nämlich dann, wenn versucht wurde, einerseits den Import zu drosseln, andererseits das eigene Staatsgebiet mit militärischer Gewalt auszudehnen und sich dadurch zusätzliche Untertanen und Steuerquellen zu verschaffen. Nach der Theorie von Adam Smith dagegen durfte es keine Handelsbeschränkungen geben, und das Militär hatte bei ihm keine ökonomische Funktion.
Schon damals gab es in diesem Punkt eine Lebenslüge. Die englische Textilproduktion verarbeitete Baumwolle aus Indien, das mit militärischer Gewalt erobert und im weltweiten Siebenjährigen Krieg gegen Frankreich im 18. Jahrhundert gesichert wurde. Die einheimische Industrie dieses asiatischen Subkontinents wurde unterdrückt und englische Einfuhr dorthin durchgesetzt. Krieg und Militär waren damals eine zwar verschwiegene, aber doch tatsächlich vorhandene Voraussetzung für das Gedeihen der zivilen Märkte. Allerdings nahmen sie lediglich äußere Funktionen war, ohne in Nachfrage und Angebot auf den Märkten selbst einbezogen zu sein.
Das änderte sich seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Überakkumulation war eine ständige Gefahr für die kapitalistische Entwicklung. Staatliche Nachfrage schuf Abhilfe. Aus Alfred Krupp wurde der Kanonenkönig, als die Eisenbahnen, für die er bis dahin vor allem produziert hatte, nach der Krise von 1873 keine genügend profitable Anlage mehr boten. Anschließend wurde der Staat durch den Schlachtflottenbau ein sicherer Abnehmer. Zugleich behielt das Militär im Imperialismus seine ältere Funktion für die gewaltsame Expansion von Volkswirtschaften in ihnen bislang verschlossen gebliebene Gebiete.
Der Erste Weltkrieg, eine Konsequenz dieser Politik, löst gleichsam nebenbei das in Friedenszeiten permanente, dort allerdings meist nur zyklisch auftretende Problem der Überakkumulation: die Märkte für Produkte der Schwer- und Chemie-Industrie wurden geräumt.
Deutschland kam als erstes Land aus der Weltwirtschaftskrise von 1929 ff. wieder heraus, weil Hitler sofort auf Rüstungswirtschaft umschaltete. Dagegen konnten die Vereinigten Staaten die Rezession erst viel später überwinden. Franklin D. Roosevelts Bemühungen zur Ankurbelung der zivilen Wirtschaft reichten nicht aus. Erst in der Vorbereitung des US-amerikanischen Kriegseintritts und schließlich mit diesem selbst war die Überakkumulation ebenso beseitigt wie die Arbeitslosigkeit.
In seiner „Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ hatte John Maynard Keynes ausgeführt, im Grunde sei es gleichgültig, ob staatliche Investitionen in Schulen und Krankenhäuser flössen oder ob sie für das Verfüllen von Kehrichtgruben mit Flaschen, in die Pfundnoten gesteckt wurden, und deren anschließende Ausgrabung aufgewandt würden: Hauptsache Arbeit.
Weshalb sind es aber dann gerade Kriegsausgaben gewesen, die innerhalb dieses Konzeptes am ehesten wirkten? Hierfür dürfte es zwei Gründe geben:
Erstens: Bei einem bewaffneten Großkonflikt wird möglichst viel Kapital unter die Verfügung des Staates gestellt, der sie dann einsetzen kann. Der verhält sich dann so, wie Keynes es vorschlug (auch wenn die zuständigen Minister und Generäle vielleicht von diesem Ökonomen noch nie etwas gehört haben sollten).
Zweitens: Im Krieg spielt der Faktor Zeit eine große Rolle. Die benötigten Ressourcen müssen schnell eingesetzt werden. Ihr Beschäftigungseffekt tritt also rasch und gründlich ein.
1945 wurde in den Vereinigten Staaten ein Rückfall in die Rezession befürchtet. Tatsächlich schrumpfte in diesem und im folgenden Jahr in der gesamten kapitalistischen Welt die Produktion. Erst mit der Ausrufung des Kalten Kriegs 1947 sprang die Konjunktur wieder an. Das krisenfreie Wachstum der folgenden fast drei Jahrzehnte wird häufig auf die Förderung der Binnennachfrage bei gleichzeitigem Auf- und Ausbau von Wohlfahrtsstaatlichkeit zurückgeführt. Es hatte seinen Grund aber zumindest teilweise auch in der Auflösung eines zivilen Nachfragestaus, der in den Jahren 1939 -1945 und anschließend bis 1947 aufgrund des nachfolgend eintretenden Produktionseinbruchs entstanden war. Auch hier ist ein Krieg die Ursache, wenngleich nicht ein aktueller oder ein vorbereiteter künftiger, sondern ein vergangener. Zugleich brachte das Wettrüsten neue Aufträge.
Ab 1989 wurde zunächst von einer erhofften „Friedensdividende“ geredet: Umwidmung (Konversion) von Rüstungslasten für friedliche Zwecke. Daraus ist nichts geworden. Rüstungsexport ist eine reichliche und sichere Profitquelle. Überdies nimmt das Militär wieder eine Funktion wahr, die für den Merkantilismus und die ersten Jahrzehnte des Imperialismus typisch war: Zugriff auf Rohstoffe und Sicherung des Zugangs zu diesen.
Krieg und Rüstungen sind keine Erfindungen des Kapitalismus. Anders als in vorangegangenen Gesellschaftsformationen stellen sie aber seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur Rahmenbedingungen her, sondern sie haben eine unmittelbare wirtschaftliche Funktion, wenngleich eine schamhaft versteckte.
Georg Fülberth
In: lunapark 21, Heft 17, 2012
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20. April 2012 um 12:17 Uhr
Ich finde die Feststellung, dass Krieg und Rüstung eine Art schamhaft versteckte Wirtschaftsfunktion haben, teile ich nicht. Spätestens mit dem Einmarsch der Amerikaner in den Irak ist aus meiner Sicht nichts mehr mit Schamhaftem Verstecken. Siehe die Äußerungen unseres Ex-Bundespräsidenten Köhler.