Eisenwalzwerk 1872 bis 1875 | Adolph Menzel

Eisenwalzwerk 1872 bis 1875 | Adolph Menzel

Wollen und können

Eine revolutionäre Situation entstehe dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen. Dieser Satz wird Lenin zugeschrieben. Er klingt so einleuchtend, dass sich offenbar niemand gern die Mühe macht, die Fundstelle zu nennen. Deshalb wird hiermit eine Suchanzeige aufgegeben. Einsendungen bitte an die Redaktion.

Für sich genommen klingt der Satz ohnehin zwar dramatisch, aber doch auch oberflächlich. Zum Beispiel: Was geschieht, wenn die oben nicht mehr können, die unten zwar nicht mehr wollen, aber ebenfalls nicht können? Im „Manifest der Kommunistischen Partei“ von 1848 sprachen Marx und Engels für diesen Fall vom gemeinsamen Untergang der Klassen. Auch das lässt sich also denken und der Beleg sich unschwer nennen: MEW 4, S. 462.

Noch ein Zitat: Pflicht des Revolutionärs sei es, die Revolution zu machen. Che Guevara. Auch hier wird um Bekanntmachung des Belegs an oben genannte Adresse gebeten. Es klingt voluntaristisch. Voraussetzung wäre ja wohl doch das Bestehen einer revolutionären Situation. 1967 gab es die in Bolivien, wo Che Guevara umgebracht wurde, offenbar nicht. Durch die These vom Nichtkönnen und Nichtwollen ist sie weder herstell- noch ausreichend beschreibbar.

 

Krisen

Gern behilft man sich hier mit dem Hinweis auf ökonomische Krisen als Revolutionsvoraussetzungen. Marx dachte zunächst so. Die europäischen Revolutionen von 1848 waren für ihn Folge der Wirtschaftskrise von 1847. Als diese schließlich durch einen neuen Aufschwung behoben war, versuchte er in der Londoner Emigration die ehemaligen Revolutionsoffiziere, die ständig ihre Flinten in Bereitschaft hielten, durch folgende Behauptung zu mehr Realitätssinn anzuhalten: „Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.“ (MEW 7: 98) Den heißspornigen Emigranten passte das nicht. Sie wanderten lieber in die USA aus. Da gab es noch etwas zu schießen, zum Beispiel im Bürgerkrieg von 1861 – 1865. Falls dieser etwas mit Revolution gehabt haben sollte, eröffnen sich für unsere Überlegungen neue Perspektiven. Dazu später.

Marx jedenfalls wollte zunächst vom Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrise und Revolution nicht lassen. Als 1857 eine weltweite Rezession ausbrach, wurde er munter. Engels, ein begeisterter Reiter, sah sich wohl schon an der Spitze einer revolutionären Kavallerie durch den Schwarzwald reiten und nachholen, was in der Reichsverfassungskampagne von 1849 versiebt wurde.

Es wurde ein Flop. Die Weltwirtschaftskrise von 1857 verlief völlig unrevolutionär. Marx verfiel in tiefes Nachdenken, das zu uns zu einem neuen Zitat führt.

 

Noch ein Zitat

„Eine Gesellschaftsordnung geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind.“

Das steht in Marx’ Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ von 1859, MEW 13, S. 9, und führt uns wirklich weiter.

 

Selbst-Optimierung

Von Krise und Zusammenbruch ist hier nicht die Rede, eher von einem Zustand der Reife, in dem eine Gesellschaft einer andere aus sich hervorbringt. Man sollte sie sich nicht wie einen Kessel vorstellen, der ein festes Volumen hat und platzt, wenn zu viel Druck drin ist. Zumindest vom Kapitalismus kann bisher gesagt werden, dass er seine inneren und äußeren Grenzen ständig ausweitete. Dieser Prozess hat mehrere Verursacher. Einer davon war gewiss die organisierte Arbeiterbewegung, die immer dann, wenn sie besonders erfolgreich war, Rationalisierungen herausforderte. Eine andere Triebkraft ist die Konkurrenz. Krisen gehören auch dazu: ihre Überwindung kostete den Kapitalismus Mühe, stärkte ihn aber immer wieder. Seine Entwicklung kann als eine Abfolge interner Revolutionen gesehen werden. Deren strategisches Subjekt war immer wieder einmal die Kapitalistenklasse selbst.

Bei der Überwindung des Feudalismus war das ohnehin der Fall: die niederländische Handelsbourgeoisie warf in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die spanische Herrschaft ebenso ab wie 1640 – 1688 die englische middle class den Stuart-Absolutismus. In den Vereinigten Staaten von Amerika warfen die Fabrikanten des Nordens die sklavenhaltenden Pflanzer des Südens nieder und schufen sich einen einheitlichen Markt. Dessen Herstellung besorgten in Italien und Deutschland sogar Monarchien im Interesse der Bourgeoisie: Cavour für das Königreich Sardinien-Piemont und Bismarck mit den Hohenzollern. Das waren Revolutionen von oben für die Mitte. Nachdem Letztere erst teilweise, dann vollends zur Macht gekommen war, musste sie sich selbst immer neu vorantreiben: Mit der Zweiten Industriellen Revolution modernisierte sie die Produktion, mit dem Keynesianismus den Absatz, mit der Dritten Industriellen Revolution warf sie in den alten Zentren große Teile der Handarbeiterklasse aus ihren Jobs und gründete Internet-Monopole, deren Kunden, die auf MicroSoft und Google angewiesen sind, diesen hegemoniales Ansehen zugestehen.

Diese alte Geschichte ist schon vor 164 Jahren geschrieben worden: Marx und Engels haben die Kapitalistenklasse als revolutionäre Klasse porträtiert. Deren absehbares Ende datierten sie zu früh, deshalb musste hier eine Fortsetzung angehängt werden.

 

Unten

Revolutionen von oben und in der Mitte, aber auch von unten: Die englischen Verlags- und Handelskapitalisten brauchten, um sich gegen den Adel durchzusetzen, die Schwungmasse der Digger und Levellers, ihre französischen Klassengenossen nach 1789 die Jacobiner und Sansculotten. Im Berliner Friedrichshain, wo die Märzgefallenen von 1848 beigesetzt wurden, liegen fast nur Handarbeiter. Zur Macht gekommen oder gar an ihr geblieben sind sie fast nirgends. Als das dann doch zu gelingen schien, 1917 in Russland, ab 1945 schließlich auf einem Drittel der Erde, zeigte sich: Eine neue, der alten überlegene Gesellschaft konnte daraus nicht werden, weil – siehe oben – „die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst“ noch nicht so weit “im Prozeß ihres Werdens begriffen“ waren, dass sie dringend der Leitung durch die bisherige Unterklasse bedurft hätten.

 

Auf ein Neues??

Wird das immer so sein?

Muss nicht.

Aber Krisen sollten nicht ausschließlich unter dem Aspekt betrachtet werden, was sie etwa zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise beitragen, sondern es ist auch zu fragen, wie eine neue Runde kapitalistischer Herrschaft aussehen könnte und ob diese alternativlos ist.

Nehmen wir die gegenwärtige.

Variante I:

Überakkumuliertes Kapital wirkt destruktiv in der Zirkulationssphäre. Dass die Finanzmärkte reguliert werden müssen, wird fast von niemandem mehr bestritten. Irgendwann wird dies geschehen. Es zeichnet sich ab, dass, um die Renditen in der gewohnten Höhe zu halten, der Druck auf die Löhne und Sozialleistungen noch zunehmen wird. Wer sich dagegen wehrt, wird nicht als Revolutionär gelten, sondern als Besitzstandswahrer, also als Reaktionär. So kommt es, wenn man einen Kampf verloren hat – den um Nutzung der Produktivitätssteigerung zur Senkung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich – und ihn entweder nicht neu aufnehmen kann oder will (die beiden größten Industriegewerkschaften der BRD setzen lieber auf die Exportoffensiven ihrer Branchen-Prinzipale).

Noch nicht abzusehen ist, wie tatsächlich eine Regulierung des Natur- und Ressourcenhaushalts gelingt, durch die eine Untergrabung der stofflichen Grundlagen kapitalistischen Wirtschaftens verhindert werden kann. Vielleicht funktioniert innerhalb des Kapitalismus auf diesem Gebiet letztlich nichts. Das heißt nicht, dass er aufgrund dieses seines Unvermögen überwunden wird, sondern dass gemeinsamer Untergang der ineinander verkeilten Klassen (die Dystopie von 1848) nicht auszuschließen ist.

Variante II:

Sind so genannte systemische Banken insolvent oder müssen vom Staat übernommen werden, steht die Alternative, ob sie nur saniert und dann geheilt ins Privatleben entlassen oder zu öffentlich-rechtlichen Sparkassen geschrumpft werden.

Digitale Prozess-Innovation beseitigt nicht gleichsam naturgesetzlich Arbeitsplätze, sondern nur so lange, wie die Unternehmer ihr eigenes Arbeitszeit-Regime durchsetzen können. Verlören sie eine solche Auseinandersetzung irgendwann, richtete sich ihre eigene Waffe gegen sie. Auch die Entscheidung darüber, wie lange ein Unternehmer die von ihm gekaufte Ware Arbeitskraft ausbeuten darf, beantwortet eine Eigentumsfrage. Das wusste Marx schon, als er 1864 die englische Zehnstunden-Bill von 1847 feierte.

Informationelle Selbstbestimmung: Die Piratenpartei und ihre Wähler surfen im Innenraum einer neuen Herrschaft, die sie meist nur als staatliche angreifen. Kontrolle und Fremdbestimmung kommt aber nicht in erster Linie von der Polizei und ihren Verwandten, sondern vom Kapital im Netz. So entpuppt sich auch das Freiheits-Motiv in letzter Instanz als eine Eigentums-Angelegenheit. Die Liberalen haben das, mit anderem Vorzeichen, immer gewusst.

Würden Boden, Wasser, Luft konsequent als Allmende („commons“) behandelt, also nicht als Ausfahrt für externalisierte Kosten der Produktionsmittelbesitzer, fehlte Letzteren etwas, das sie bisher für lau nutzten, als gehörte es vor allem ihnen.

Wir haben in diesen einzelnen Bereichen verschiedene Reifegrade: relativ weit im Finanzsektor, bei der Arbeitszeit geringer entwickelt als vor vierzig Jahren, diffus im Netz, fast hoffnungslos in der Ökologie.

Was technisch machbar ist, erscheint gesellschaftlich undenkbar. Merkwürdig.

Marx 1859: Wenn der Kapitalismus nicht zusammenbricht, kann er aber doch fällig werden. Revolution wäre dann nicht der Ausbruch aus unerträglichen Zuständen, sondern das Erkennen und Nutzen von Chancen.

 

Georg Fülberth in KONKRET 3/2012