Von Ulbricht zu Erhard
Brutto, Tara, Netto
In ihrem Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ äußert Sahra Wagenknecht nichts Falsches und kaum Neues, aber viel Vernünftiges und verbindet dies alles mit einer Marketing-Idee, über deren Nutzen und Nachteil man sich dann halt ein paar Gedanken machen wird. Dem Vernehmen nach soll in Teilen ihrer Partei die neue Position der Autorin mit einigen ihrer älteren Auffassungen verglichen und die dabei festgestellte Differenz ihr vorgehalten worden sein. Diesen Effekt wird sie als Werbe-Nutzen einkalkuliert haben. Wer sich für das interessiert, was sie der Sache nach zu sagen hat, sollte sich von solchem Geräusch nicht ablenken lassen, sondern nachsehen, was im Buch drin steht. Erzählen wir es also erst einmal nach.
Diagnose
Das Buch ist gut lesbar geschrieben und didaktisch eingängig aufbereitet. Hinter jedem Abschnitt steht ein Fazit. Es empfiehlt sich aber, sich nicht in erster Linie an diesen Zusammenfassungen festzuhalten. Lehrreicher sind die zahlreichen Details, die ihnen vorangehen.
Laut Sahra Wagenknecht ist der Kapitalismus mittlerweile in eine Phase des Mangels an Produktivität eingetreten. In der hochkonzentrierten Finanzindustrie, in der sich die Institute vor allem wechselseitig Geld leihen, fungieren „Banken als Investitionsverhinderer“ und als „Innovationsbremse“. So werde „Schaum statt Wert“ erzeugt. An die Stelle einstmals produktiver Industrien sei nunmehr eine „ausgezehrte Welt-AG“ getreten, in der die Unternehmen nur noch „am kurzfristigen Shareholder Value ausgerichtet“ seien und ihre Substanz „durch hohe Dividendenausschüttungen und Aktienrückkäufe“ beeinträchtigt werde. Die Leistungsgesellschaft werde viel beschworen, sei aber unter solchen Umständen nur ein Mythos. Kaum mehr als ein Prozent der Bevölkerung kontrolliere die großen Vermögen. Über die Zugehörigkeit zu diesem exklusiven Club entscheide häufig die Geburt. Sei einst – laut Joseph Schumpeter – kreative Zerstörung ein Merkmal des Kapitalismus gewesen, gebe es jetzt vor allem zerstörte Kreativität. Der Anteil der privaten Profite im Vergleich zum Arbeits- und Staatseinkommen steige und werde nicht mehr in genügendem Maße investiert. „Der Kapitalismus wurde technologiekonservativ.“ Notwendiger Wandel sei blockiert, es werde keinen „Green Capitalism“ geben: „Erstens, weil der Energiesektor wie die chemische Industrie oder auch die Automobilproduktion von Konzernen mit geballter Markt- und Kapitalmarkt beherrscht werden, die kein Interesse an einem Wandel haben, solange ihre alten Anlagen noch nicht vollständig abgeschrieben bzw. noch technisch funktionsfähig sind. Zweitens, weil der Umbau gewaltige Investitionen erfordert, die unter kapitalistischen Bedingungen nur stattfinden, wenn angemessene Renditen in Aussicht stehen. Da es sich in diesem Fall nicht um Investitionen in Wachstum handelt, können die Renditen nur durch Umverteilung bezahlt werden. Sie würden das Wohlstandsniveau der großen Mehrheit so gravierend absenken, dass die Durchsetzbarkeit unter demokratischen Bedingungen fraglich ist.“
An letzterer Überlegung ist einiges überlegenswert, anderes bedenklich. Zunächst leuchtet nicht ein, weshalb ökologische Investitionen kein Wachstum bringen könnten. Dass ein Green New Deal mit fortgesetzter Umverteilung von unten nach oben verbunden sein kann, ist gut bemerkt: „Öko für Besserverdiener“. Die Hoffnung der Autorin, das sei unter demokratischen Bedingungen schwer möglich, wird durch ihre nachfolgende Argumentation abgeschwächt, die sie unter die Überschrift stellt: „Sterbende Demokratie: Wenn Wirtschaft Politik macht“. Hier bringt sie zahlreiche Beispiele für Erpressbarkeit von Regierungen und die Manipulation des Bewusstseins durch oligopolisierte Medienmacht.
Therapie
Man sieht: alles richtig, nichts neu. Aber die Analyse sollte wohl nur die Voraussetzung für ein Programm zur Abhilfe sein, welche die Autorin als „Kreativen Sozialismus“ bezeichnet. Dieser sei: „Einfach. Produktiv. Gerecht“.
Die Lösung ergebe sich aus den aktuellen Problemen, zum Beispiel aus der Staatsverschuldung. Hinter dieser stehen die Vermögen der Gläubiger, insofern sei der Zinsen zahlende Schuldenstaat ein Profitgarant. Seine Miesen ergäben sich u.a. aus dem Sinken der Konzernsteuern. Ebenso sei Verschuldung der Privaten Konsequenz der Bereicherung der Unternehmen: Sinken der Löhne zieht Pump der abhängig Beschäftigten nach sich. Wagenknecht schlägt vor, die Altschulden der EU-Staaten zu streichen und die Profiteure ihrer Kreditaufnahme: die Banken, damit zu belasten. Lediglich die Guthaben von Kleinanlegern sollten davon ausgenommen werden. Zweitens sollten die großen Finanzkonzerne verstaatlicht werden. Damit habe die öffentliche Hand allerdings auch deren faule Kredite am Hals. Deshalb: die früher privaten, nunmehr gemeinwirtschaftlichen Institute seien mit staatlichen Mitteln zu sanieren, wofür „eine einmalige Vermögensabgabe auf sehr hohe Vermögen“ zu erheben sei. Dies wäre dann ja erst einmal eine Art Grundsanierung. Damit Schuldenmacherei der öffentlichen Hände nicht von Neuem erfolgen müsse, sei „eine radikale Umverteilung der Einkommen von oben nach unten“ nötig, „um den Staat aus der Verantwortung zu entlassen, fehlende private Nachfrage immer wieder durch kreditfinanzierte Staatsausgaben ausgleichen zu müssen.“ Solide Steuereinnahmen müssten ihn befähigen, seinen Job ordentlich zu machen. Die bisherige Zinslast falle ohnehin weg. Wenn er für besondere Investitionsausgaben oder zur konjunkturellen Gegensteuerung doch Kredite aufnehmen müsse, solle „die Möglichkeit der Direktfinanzierung durch die EZB geschaffen werden.“
Die sichere Rente sei „kein Traum von gestern“. Für ihre Finanzierung reiche wachsende Produktivität mehr als aus. Deshalb sei der so genannte „demographische Faktor“ ein Mythos. Genügend hohe Einnahmen der Rentenkassen ergäben sich durch Steigerung der Beschäftigungszahl bei sinkender Erwerbslosigkeit. Die mittlerweile zum Teil zerschlagene umlagefinanzierte Alterssicherung mit ausreichenden Beitragssätzen sei wiederherzustellen – schlecht für die privaten Finanzinstitute, die mit Hilfe von Rürup (SPD) und Riester (ebenfalls SPD) sich an der kapitalgedeckten Rente gesundstoßen.
Die Privatbanken und Versicherungen gehören in die öffentliche Hand und müssen„auf ein gemeinnütziges Geschäftsmodell verpflichtet werden.“ Der Finanzsektor müsse schrumpfen und „seine eigentliche Aufgabe als Diener der Realwirtschaft wieder wahrnehmen.“ Die Grundversorgung der Bevölkerung (Wasser, Energie, Wohnen, Gesundheit, Mobilität, Bildung, kommunale Dienste) sei durch öffentliche Betriebe bereitzustellen.
Sahra Wagenknecht entwirft „Grundrisse einer neuen Eigentumsordnung“. Große Stücke hält sie auf die so genannten „Hidden Champions“ – gut geführte vor allem mittelständische Privatbetriebe, die sich nicht am Maximalprofit, sondern an optimaler Leistung für die Kunden orientieren. Riesenkonzerne gehören nicht dazu. Mit dem liberalen Vorschlag der Entflechtung sei ihnen aber ebenso wenig beizukommen wie mit der bisherigen Mitbestimmung. Großunternehmen „von öffentlichem Interesse“ könnten „kein Gegenstand privaten Interesses“ sein. Sie seien in Belegschaftseigentum zu überführen. Ein Mittel dafür sei die von Ota Sik – einem Ökonomen des Prager Frühlings – vorgeschlagene „Neutralisierung des Kapitals“. Gemeint ist „die Wiedereinführung einer allgemeinen Vermögenssteuer, die bei Finanz- und Immobilienvermögen an den Staat zu zahlen, bei Betriebsvermögen dagegen in unveräußerliche Belegschaftsanteile umzuwandeln ist. Diese Anteile könnten wie eine Art Stiftung verwaltet werden, deren Treuhänder von der Belegschaft bestimmt werden. Das Geld bliebe also im Unternehmen, würde aber allmählich den Entscheidungsspielraum des ursprünglichen Eigentümers zugunsten realer (mit Eigentum unterlegter) Mitbestimmungsrechte der Belegschaft zurückdrängen.“ Wagenknecht denkt an „eine Vermögensteuer von 5 oder 10 Prozent auf alle Vermögen, die 1 Million übersteigen. Besitzt eine Familie ein Unternehmen mit einem Eigenkapital von 101 Millionen Euro, würden bei einem Steuersatz von 5 Prozent im ersten Jahr 5 Millionen Euro in unveräußerliches Belegschaftskapital umgewandelt. Im nächsten Jahr dann wiederum 5 Prozent von dem dann verbleibenden Kapitalanteil der Alteigentümer. Es würden also schrittweise Unternehmensanteile an eine Art Stiftung übertragen, auf die der ursprüngliche Eigentümer keinen Zugriff hat, sondern die der Belegschaft untersteht. […] Bei sehr großen Unternehmen, etwa ab 100 Millionen Euro Eigenkapital, sollten 25 Prozent Stiftungsanteile auf die öffentliche Hand – die Kommune oder das Land – übergehen.“ Erbschaften seien auf eine Million zu beschränken. Bis zu diesem Betrag seien sie steuerfrei, aber alles, was darüber ist, wird zu 100 Prozent weggesteuert – bei Betriebsvermögen wiederum zugunsten unveräußerlichen Belegschaftseigentums.
Erhard
Vorstehend wurde ausführlich zitiert, um zu zeigen, dass Sahra Wagenknecht tatsächlich kluge Vorschläge macht. Es hätte ein sehr schönes Buch werden können, wäre sie nicht auf einen merkwürdigen ideologiepolitischen Trick, den sie vielleicht für listig hält, verfallen. Zum Paten ihres Projekts ernennt sie nämlich – den ehemaligen Wirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU). Gleich mit einer Einleitungsüberschrift kündigt sie an, was sie einlösen will: „Das gebrochene Versprechen Ludwig Erhards“. Im Abspann huldigt sie ihm wieder: „Erhard reloaded: Wohlstand für alle, nicht irgendwann, sondern jetzt!“ Hier finden sich auch die drei Wörter, die sie vielleicht als einzige als Original von diesem Mann übernommen hat: „Wohlstand für alle“ – das ist der Titel eines mit dem Ko-Autor Wolfram Langer verfassten Buches, das Erhard 1957 veröffentlicht hat. Inhaltlich etwas ausführlicher geht Wagenknecht auf die Ökonomen Alfred Müller-Armack und Walter Eucken ein. Sie vertraten den Ordoliberalismus: freie Märkte, die nicht durch Monopole und Kartelle vermachtet werden dürften. Es gibt eine nahe Verwandtschaft mit dem Neoliberalismus, dem Sahra Wagenknecht durchaus auch Positives abgewinnen kann: er sei eine gute Sache gewesen, die von den Epigonen seiner Gründer verdorben wurde. Dass das langjährige Haupt dieser Schule, Friedrich August von Hayek, ein marktradikaler Scharfmacher war, weiß sie auch, aber sie beschließt ihr Vorwort, indem sie ihn zustimmend zitiert. Dort feiert er den “Glauben an die Macht der Ideen, […] der die Stärke des Liberalismus in seinen besten Zeiten war“. Dies, so Wagenknecht, habe „nichts an Aktualität verloren“. Allerdings komme die Lösung der Gegenwartsaufgaben „heute nicht mehr dem falschen Liberalismus, sondern einem kreativen Sozialismus“ zu.
Sichtung der Zitate zeigt, dass Übereinstimmung mit den Ordoliberalen lediglich in einigen ihrer allgemeinsten Floskeln besteht. Sehen wir uns aber einmal Substanz und historischen Kontext ihrer Theorie und ihrer Praxis an.
Bald nach der Oktoberrevolution stellte der österreichische Ökonom Ludwig von Mises (auch auf ihn bezieht sich Sahra Wagenknecht positiv) die Frage, ob eine sozialistische Wirtschaft markträumende Preise, Entsprechung von Angebot und Nachfrage sowie Bedarfsdeckung gewährleisten könne, und er antwortete: Nein. Sein Schüler Hayek griff dieses Ergebnis auf und entfachte in den dreißiger Jahren einen Kampf gegen ökonomischen „Kollektivismus“ und Durchstaatlichung der Wirtschaft. Diese Übel sah er nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch im Westen. Auf einem Kolloquium 1938 sammelten sich erstmals die Neoliberalen. Walter Lippmans Buch „The Good Society“ war ihr Leit-Text. Als im zweiten Weltkrieg der Liberale Beveridge das Programm eines Wohlfahrtsstaats entwarf, schlug Hayek Alarm: dies sei „Der Weg zur Knechtschaft“ – so der Titel seiner umfangreichen Kampfschrift. Die Neoliberalen verstanden ihre Politik als anti-totalitär, Bolschewismus und Faschismus seien gleichermaßen Feinde dessen, was sie als freie Gesellschaft verstehen. Nach der Niederlage des Nationalsozialismus blieb nur noch die antikommunistische Stoßrichtung übrig. Im Jahr des Ausbruchs des Kalten Krieges, 1947, wurde die „Mont Pèlerin-Gesellschaft“ gegründet, ein Netzwerk der Marktwirtschaftler, das bis in die Gegenwart hinein großen Einfluss ausübt. Immerhin hatte man sich dort der Erinnerung zu erwehren, dass der Kapitalismus in den Faschismus geführt habe. Die Antwort darauf gab der ordoliberale Flügel des Neoliberalismus: es seien die Kartelle und Monopole gewesen, die in diese Katastrophe geführt hätten. Würden sie durch eine gute „Ordnungspolitik“ verhindert, habe man keinen Kapitalismus mehr, sondern Soziale Marktwirtschaft. Als deren Feinde wurden immer wieder die Gewerkschaften geortet: Kartelle der Arbeitskraft, die den Staat in ihre Botmäßigkeit zu bringen versuchten.
Müller-Armacks und Euckens Bekenntnis zu einer „Ordnung“ der Märkte war Ausdruck einer Übergangssituation: als Zugeständnis auf dem von ihnen angestrebten Weg von der „Zentralverwaltungswirtschaft“ in Faschismus, Ost-Sozialismus und angeblicher Gewerkschaftsallmacht in die Freiheit der kapitalistischen Märkte.
Schon Lenin hatte gelehrt, von bürgerlichen Professoren könne man in Einzelheiten durchaus etwas lernen, ohne dass man die Gesamtheit ihrer Anschauungen übernehmen dürfe. Vergleichen wir deshalb jetzt einmal die Positionen:
Müller-Armack und Eucken wollten freie Märkte auf der Basis des Privateigentums an den Produktionsmitteln, und sie lehnten Kartelle ab.
Wagenknecht fordert ebenfalls Marktwirtschaft, jetzt aber mit gemischtem Eigentum: privat für Mittel- und gut geführte Großbetriebe; ebenso wie Joseph Schumpeter hält sie den Verzicht auf Monopolunternehmen für illusorisch, sie müssten aber in Gemeinwirtschaft überführt werden.
Die Übereinstimmung mit den Ordoliberalen besteht also lediglich im Ja zum Markt. Um das festzustellen, hätten ein paar Zeilen genügt.
Kommen wir nach der Theorie zum Praktiker Ludwig Erhard. Wir gehen nicht weiter darauf ein, dass dieser 1944/45 seine Denkschrift über eine Nachkriegsordnung der Wirtschaft dem SS-Gruppenführer Otto Ohlendorf, der 1948 im so genannten Einsatzgruppenprozess wegen der Ermordung von etwa 90.000 Menschen zum Tode verurteilt und 1951 hingerichtet werden sollte, übersandt und mit diesem erörtert hatte. Er hatte sie ja auch Carl Goerdeler, einem Mann des 20. Juli, zugehen lassen. Weil wir gerade dabei sind, übersehen wir ebenso großzügig, dass Alfred Müller-Armack nicht nur 1933 der NSDAP beigetreten war, sondern auch eine Doktorarbeit „Staatsidee und Wirtschaftsordnung im Neuen Reich“ verfasst hatte. Tun wir so, als habe Beides mit dem Wirken dieser Männer nach 1945 nichts mehr zu tun, und fahren wir fort:
Die Währungsreform 1948 hat Erhard, damals Direktor der Verwaltung für Wirtschaft der Bizone, nicht erfunden, aber sie war in seinem Sinne. Sie war eine Umverteilung von unten (Sparguthaben der kleinen Leute) nach oben (Schonung der Eigentümer der Produktionsmittel), wie sie Wagenknecht bei ihrer Erörterung von Varianten eines Schuldenschnitts für die Gegenwart ausdrücklich ablehnt. 1948 hob er den Preisstopp auf und behielt den Lohnstopp bei. Erst eine „Demonstration gewerkschaftlichen Willens“ (eine Art Generalstreik) im November desselben Jahres beseitigte diese Ungerechtigkeit. Als im Winter 1950/51 die Erwerbslosenzahlen stiegen, musste Erhard gegen sein heftiges Sträuben von den westlichen Besatzungsmächten zu einem Investitionsprogramm gezwungen werden. Er war gegen die Montanmitbestimmung 1951 und die Große Rentenreform 1957, die Adenauer jeweils gegen ihn durchsetzte. Das Kartellgesetz von 1957, das unter der Federführung seines Ministeriums vorbereitet wurde, bestand aus einem großen Loch, durch das die Monopole mühelos schlüpften. Eine herzliche Abneigung verband Erhard mit den Gewerkschaften. In der Auseinandersetzung mit ihnen trat er nicht durch die Parole „Wohlstand für alle!“, sondern durch den Appell „Maßhalten!“ hervor. Als sie nicht parierten, ließ er sich als Kanzler die „Formierte Gesellschaft“ einfallen. Diese galt bei aufgeklärten Zeitgenossen als enorme Lachnummer. In diesem Konzept wurde die Gesellschaft als eine Art Unternehmen gesehen, in dem die Gewerkschaften nicht als autonome Interessenvertretung agieren durften, sondern wie Betriebsräte vertrauensvoll zum Wohle des Ganzen zu wirken hatten – vergleichbar den Zuständen in der Betriebsgemeinschaft zu Zeiten der Deutschen Arbeitsfront. Schon in der ersten gelinden Wirtschaftskrise ab 1966 musste Erhard als untauglich ausgewechselt werden. Großartig aber war er allezeit als Propagandist: er vermochte den Leuten einzureden, die lange Aufschwungsperiode – die nicht nur in der BRD, sondern in allen hoch entwickelten kapitalistischen Ländern stattfand – sei auf seine Politik zurückzuführen. Das jüngste Opfer dieser Suggestion ist Sahra Wagenknecht. Falls sie es aber selber besser weiß, dann verkauft sie ihr Publikum für dumm. Das wollen wir ihr lieber nicht unterstellen.
Agenda 2017
Unsere Autorin hatte in den neunziger Jahren Anhängerinnen und Anhänger, die der Ansicht waren, zu Zeiten Walter Ulbrichts sei alles besser gewesen. Jetzt sind sie ihr wohl böse. Das mag eine Frage des Lebensalters sein. Wem seine Lieblings-Gesellschaft abhanden kam, wird, falls man noch jung genug ist, sich Gedanken darüber machen, welche Wege in der späteren Situation gefunden werden können.
Schwierigkeiten werden sich im so genannten Reformflügel der Partei „Die Linke.“ einstellen. Es ist jetzt eine ähnliche Situation entstanden wie am 30. Juni 1960, als Herbert Wehner im Bundestag erklärte, die SPD sei ebenfalls für die Nato. Der CDU-Außenminister Schröder war verschnupft: jetzt erhalte die Union Konkurrenz auf einem Gebiet, das sie bisher als ihr Monopol betrachtet hatte, und er fürchtete zu Recht, dass die Sozialdemokraten hier irgendwann besser sein würden als seine eigene Partei. Auf dem Reformflügel der Linken wird das Gedränge größer.
Wie allgemein bekannt, gehört es zum Wesen jeder Zukunft, dass sie im Dunkeln liegt. Eine Variante wurde Ende April in einem Artikel der Wochenzeitschrift „stern“ erörtert: Wiedervereinigung der deutschen Sozialdemokratie. Dieser Gedanke ist interessant. Vielleicht kann das so gehen, dass in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen die Linkspartei die SPD übernimmt, während im übrigen Deutschland das Umgekehrte geschehen kann. Als sich 1922 die Rest-USPD mit der Ebert-Noske-MSPD vereinigte, brachte sie nicht nur Eduard Bernstein mit, sondern auch die linkeren Häupter Rudolf Hilferding und Karl Kautsky. Die bildeten sich ein, dass der Marxismus in der neu geeinten Partei wieder mehr gelten werde.
Hegemonial könnte ein solches Projekt aber nur dann werden, wenn sich Stimmen auch aus der Mitte gewinnen lassen. Dem soll wohl die Erhard-Masche dienen.
Dass daraus wohl nichts wird, steht auf einem anderen Blatt. Das beschreiben wir aber erst dann, wenn es so weit sein wird: irgendwann, sagen wir – so Gott will und wir leben – spätestens nach der über übernächsten Bundestagswahl 2017.
Georg Fülberth
erschienen in Junge Welt Nr. 122. 28. Mai 2011. S. 10/11.
Wagenknecht, Sahra: Freiheit statt Kapitalismus
Frankfurt am Main: Eichborn AG 2011
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