(Florian Schwebel) In der guten alten Zeit (in der das Wünschen auch schon nicht geholfen hat, aber es fiel nicht so deutlich auf) schrieb Umberto Eco, dass wir mit Sicherheit sagen könnten, dass Sherlock Holmes nicht verheiratet war, aber nicht mit Sicherheit, ob tatsächlich Menschen auf dem Mond gelandet seien. Der Grund: der Fiktionsvertrag, diese wunderbare menschliche Errungenschaft, die sich aus den Wirren der Aufklärung nach jahrtausendelangem Rumgekrebse und Vordenken schließlich vor rund 200 Jahren unmissverständlich in der Literatur durchsetzte (ohne, dass dieser Vertrag jemals unterschrieben worden wäre). Morgen, so Eco, könne die Mondmission als Schwindel entlarvt werden, aber die vier Romane und sechsundfünfzig Erzählungen über Holmes von Arthur Conan Doyle ließen keinen Zweifel am Junggesellen. Der Fiktionsvertrag (Eco selber merkt, mit hochgezogener Braue, an, dass bei Millionensellern wie seinen eigenen Romanen ihn nicht alle Leser kennen und akzeptieren würden) bedeutet nicht, wie vertrocknete Positivisten gerne behaupten, dass das dicke Schild „Lügengeschichte“ blinkt. Shakespeare hat keine dieser geisttötenden Reime geschrieben, in denen statt der Sonne der Mond aufgeht, die Fische in die Pfanne hüpfen und die Bäume aus Schokolade bestehen (gut, manchmal ist das nett). Daniel Boorstin, immerhin der erste Theoretiker, der sich in seinem Buch „Das Image“ hellsichtig über die Vermengung von Fakten und Fiktion echauffierte, moniert darin, dass Sachbücher „non fiction books“ heißen. Als sei die Erfindung das Normale. Doch es ist umgekehrt: nur die Kategorie „Fiktion“ ist in aller Schärfe notwendig, um sich von den halb geglaubten Überlieferungen und heiligen Texten, Bekenntnissen, Traktaten, Hofberichten, Theorien, Ausschnittsschilderungen und Werbetexten abzusetzen, aus denen ein Großteil der Literatur immer bestand. Ähnlich wie im mündlichen Gespräch eine als Geschichte erzählte Geschichte eine Rarität unter all den Vergewisserungen, halben Enthüllungen, Gerüchten und Klärungen bleiben muss (bereits das Witzeerzählen erzeugt ja eine entgrenzte Atmosphäre und ist nur in besonderen Momenten möglich und erwünscht). Das Ideal von Sachtexten, die unvoreingenommen und empirisch einen Ausschnitt der äußeren Realität erfassen, ist ebenfalls ein großer Wurf, aber kaum mehr als eine Zielsetzung innerhalb des allgemeinen Geplauders. Der Skandal um den armen Karl May vor dem ersten Weltkrieg entzündete sich nicht daran, ob Karl May wirklich 50 Indianerdialekte sprach oder einen Grizzly mit bloßen Händen bezwingen konnte. Das war von Rezenten immer belächelt und doch als unbedenklich eingestuft worden, das war Jägerlatein am Stammtisch, und vermutlich glaubte niemand außerhalb der delierenden Fankreise (und May selber) je an die Existenz von Winnetou. Der Skandal lag darin, dass sich ein (vorbestrafter, pazifistischer) Romancier mit Groschenromanvergangenheit als Reiseschriftsteller hatte feiern lassen. Alles an Mays Texten war over the top, doch dass sie immer „symbolische Erlebnisse der Menschheitsseele“ (so der Autor) gewesen waren, nie ein Blick in die Welt da draußen, nie ein wie auch immer geschönter Bericht von der listigen, christlichen und vernünftigen (und zunächst ziemlich chauvinistischen) Eroberung dieser Welt, galt als unvergleichlicher Betrug. Und tatsächlich fällt es bis heute schwer, May als großen literarischen Rohdiamanten zu verteidigen, weil alles, was seine Werke schwächt (die Fußnoten, das peinsame Ringen um die Selbstdarstellung) unmittelbar mit der Weigerung zusammenhängt, die erste und wichtigste Karte unmissverständlich aufzudecken: alles erfunden. Man mag sich den Skandal vorstellen, wenn verachtete, gescriptete, manipulierte und auf alle erdenkliche Arten aufbereitete Dschungelshows in Wahrheit in einer Turnhalle in Köln aufgenommen würden. Im Falle Mays rückten mit seinem späten Geständnis Probleme in den Vordergrund, die vorher nie beachtet worden waren: die sich stereotyp wiederholenden Handlungsabläufe. Die widersprüchliche Rolle von Gewalt. Und nicht zuletzt die unterschwellige Homoerotik (auch wenn die erst Arno Schmidt in den 60ern offensiv thematisierte). Dokumentarfilmer und Tagesschausüchtige mögen es ungern hören, aber unsere Kriterien für fiction sind ungleich strenger als die für non – fiction. Fans, die sich über den doppelten Tod von Scottie oder einen ogerschlachtenden Frodo ereifern, mögen einem verblendeten Fetischismus folgen, aber stellen darunter die richtigen Fragen (dieser Autor war tief verstört von einem Videospiel, in dem „Mumin“ Tieren auf den Kopf hüpft, und lasst uns nicht von Altmans „The long goodbye“ anfangen).
Die vier Unterpunkte des Fiktionsvertrags sind wohl Kohärenz, Vollständigkeit, Geplantheit/Künstlichkeit und Sinnhaftigkeit, und sie bezeichnen im Grunde alle das Gleiche: eine diskutierbare Eigengesetzlichkeit. Fiktion muss rund sein, und wenn sie das nicht ist, ist es Absicht.
Selbst bei einem so schwierigen, unfreien und von soviel Unwägbarkeiten abhängigen Medium wie dem Spielfilm erwarten wir Kohärenz, und ein Großteil der Filmgeschichtsschreibung besteht aus Heldengeschichten, wie diese Kohärenz trotz aller Kompromisse noch gewährleistet wird (die meisten Rezensionen zu „Dr. Parnassus“ diskutieren das Gelingen oder Misslingen der Vierfachbesetzung von Tony). Wer Kohärenz deutlich missachtet, ist entweder ein Stümper (wie Ed Wood) oder ein Surrealist (wie Bunuel).
Die Vorstellungen einer kompletten Geschichte mögen variieren (in „Effie Briest“ müssen wir uns die erotischen Szenen stillschweigend dazu denken, in „Madame Bovary“ nicht, in „Lady Chatterly“ werden sie dann beschrieben), aber niemandem ist dabei ein Kapitel unter den Tisch gefallen, und es fehlten dem Autor keine nötigen Informationen. Dass wir uns immer wieder mit Auslassungen, Zensur und Selbstzensur beschäftigen, bestätigt nur diese Grundprämisse. In seinem Buch „Casablanca Spätvorstellung“ phantasiert Robert Coover verschollene Filmsequenzen (vom Sex zwischen Rick und Ilsa bis zu Chaplins entfesseltem Tramp), und macht damit vor allem ungewollt deutlich, dass diese Szenen eben nicht fehlen.
Künstlerische Geplantheit steht immer wieder unter dem Beschuss von Bilderstürmern, die mit Automatischem Schreiben oder ziellosem Filmen ein unschuldiges Arbeiten erreichen wollen. Für nicht – fiktionale Werke mag sie möglich sein. In der Fiktion gibt es keine Unschuld, zumindest nicht in der Arbeit. Thomas Wolfe, der große Naive der amerikanischen Literatur, beschwerte sich bei Scott Fitzgerald über den gönnerhaften Rat, doch mehr über das Schreiben zu reflektieren: Ob denn ausgerechnet Fitzgerald nicht wisse, dass kein Roman aus dem Autor herausplumpsen würde? Ein Echo dieser Ignoranz schwingt in dem Kneipenspruch nach, Filme würden „überinterpretiert“. Bei der teuersten, arbeitsteiligsten und kompliziertesten Kunstform, die sich die Menschheit bisher ausgedacht hat, eine absurde Vorstellung (sie können fehlinterpretiert werden, aber das ist etwas anderes). Selbst in einem heutigen deutschen Film verlässt keine Sekunde die Produktion, die nicht gemessen und gewogen wurde. Hoffentlich denkt Durs Grünbein nach anderen Kriterien über eine Seite nach als ein deutscher Produzent über eine Filmminute, aber sicher nicht intensiver.
Sinnhaftigkeit, natürlich ein Wolkenwort, ergibt sich aus all dem und beschreibt den zweiten Hauptreiz der Fiktion neben der Phantasie (die ja auch Sinnhaftigkeit gegen die Schwerkraft bedeutet). Die Tagesschau mag (scheinbar) wirr und amoralisch Fetzen einer auseinanderdriftenden Welt darstellen, doch noch die zusammengeschusterte Nebenhandlung in einer Daily Soap muss zeigen, dass dies und das daher und daher kommt und dieses und jenes mit sich bringt. Wenn dieses Spiel nicht überzeugt, hagelt es Proteste.
Viele große Geister halten diese Kriterien natürlich für kulturkonservativ und für längst überholt. Schließlich habe die Fiktion schon immer zu einem Gutteil aus Verfremdungen, Parodien, Apokryphen und Ergänzungen bestanden, und ein beträchtlicher Teil auch der schöngeistigen Literatur ist nicht oder nur teilweise fiktional. Und heute sind wir ja alle weiter. Aber wir erleben etwas anderes als das Ende des genialischen Autors, des allwissenden Erzählers oder des geschlossenen Kunstwerks. Wir erleben das Ende des Fiktionsvertrags. Ist Sherlock Holmes noch Junggeselle? Ist Batman letztes Jahr gestorben (in einem offiziellen Comic)? Haben Scarlett und Rhett doch noch geheiratet (in einer offiziellen Fortsetzung)? Und, der neue Dauerbrenner: welche Bonusszenen gehören WIRKLICH in diesen Film?
Die kleinen Welten der erfundenen Geschichten expandieren ins Unermessliche, und das aus zwei Gründen: rührigem Fanverhalten mit Computer und feigem kommerziellen Kalkül.
Eine Erzählung als offenes Kunstwerk, an dem Leser weiter schreiben, ist eine wundervolle Idee, doch in unseren Zeiten der zerfaserten Geschichten liegt sie ferner denn je. Zwar schreiben Tausende von Menschen ihre „Harry Potter“ – oder „Buffy“ – Fortsetzungen, doch sie tun das in einer abgeschotteten Nische im permanenten Spagat unter den Argusaugen der Rechteinhaber. Diese Weiterschreibungen haben keine Chance, jemals so in die offizielle Geschichte aufgenommen zu werden wie die Variationen von „1001 Nacht“ oder möglicherweise die von griechischen Mythen.
Und eine aus kommerziellen Gründen lancierte Nebenerzählung verbindet nichts mit den inoffiziellen Ergänzungen zum „Tristam Shandy“, oder auch nur mit dem Regietheater, das die kohärente Urgeschichte als Monolith nimmt, an dem es sich sadomasochistisch abzuarbeiten gilt. Wer eine ohnehin bis zum Exzess ausgefranste Erzählung gleichzeitig durch Film, Konsolenspiel, Zeitschrift, Bilderbuch, Begleitcomic, manchmal noch dem Roman zum Film, einem interaktiven Internetangebot und gesondert ansehbare Making ofs über all dies und die ursprüngliche ausgefranste Erzählung jagen will, muss Kohärenz, Vollständigkeit, Geplantheit und Sinnhaftigkeit bis zu einem gewissen Grad über Bord werfen. Der Richard Wagner der multimedialen Angebote ist noch nicht aufgetaucht, und vielleicht sollten wir alle dankbar dafür sein. Auch Walt Disney, der dieser Vorstellung noch am nächsten kam, kann Dornröschen nicht mehr vor der „Prinzessinnen“ – Zeitschrift retten, in der sie neue Abenteuer erlebt und sich über Modeschmuck auslässt.
Anfang der 90er schien „Spider-Mans“ Heirat im Comic, auch das bereits ein Marketingcoup, MARVEL zu viele junge Leser zu kosten. Daraufhin erfuhr unser Held, geplagt durch wirre Erinnerungen, medizinische Experimente und undurchschaubare Anschläge, in einer komplizierten Geschichte, die sich über 200 cliffhangerverseuchte Hefte verschiedener Reihen erstreckte, dass er sein eigener Klon war, und die vergangenen 30 Jahre die Geschichte eines falschen Spiderman erzählt worden war. Spider-Man verlor seine Kräfte, zog sich ins Privatleben zurück und hinterließ einem ungebundenen alter ego das Feld. Im Zuge dieser Ereignisse starben seine Tante und sein Erzfeind, und seine Frau wurde schwanger. Letztendlich bekam MARVEL COMICS aber kalte Füße, korrigierte die ausgewalzten Enthüllungen zu einem bösen Trick, tötete den Klon, ließ das Kind entführen, Tante und Erzfeind wieder auferstehen und konzipierte für „Spider-Man“ lieber ein paar Eheprobleme, um die Sache interessant zu machen (und ein paar Nebenreihen mit Rückblicken auf seine Jugendjahre). Eine Horrorvorstellung für jeden, der dumm genug war, diesen Zirkus, der mit zum Teil handverlesenen Textern und Zeichnern in einer Atmosphäre bedeutungsvollen Grauens zelebriert wurde, zahlend mitzuverfolgen (und sich anschließend für immer von Superheldencomics fernhielt), war es, im Comicladen einem verstörten 12jährigen Fragen zu alledem beantworten zu müssen. MARVEL meldete anschließend Insolvenz an. Dann startete nach langem Hängen und Würgen die neue Kinofranchise und brachte die Erzählung wieder aufs Gleis, was die Comics aber, den Berichten nach, vollends ins Chaos stürzte. „Spider-Man“ ist dabei eine der erfolgreichsten Fiktionen der letzten 50 Jahre.
Vor Fiktionen wurde immer gewarnt, gerade im fiktionsunlustigen Deutschland, das auch in der Literatur eher auf Philosophie und Politik setzte als auf die Frage, wer da bei Regen mit bangem Herzen angeritten kommt, und immer waren diese Warnungen unbegründet. „American Psycho“ lässt sich ebenso routiniert rechtfertigen wie „Die Wohlgesinnten“, es sind, was immer sie sonst sein mögen, geschlossene, angreifbare, eigengesetzliche Erzählungen, und die Gegengifte bei Nebenwirkungen liegen schon lange bereit, aber wohin mag ein „Spider–Man“ Heft in Zukunft führen?
Die heutigen Fiktionsrezipienten werden wie Junkies behandelt, ob sie an gehobenen Kriminalromanen oder Liebeskomödien hängen, und die größte Angst von Macherseite bleibt die Ablösung. Wenn das schmale Bändchen „Der kleine Hobbit“ als zweiteiliger Kinofilm verfilmt und Jahre vor dem Start mit dem Hinweis auf Videospiele und Internetinformationen angekündigt wird, geht es nicht mehr alleine um das oft zitierte Event als das Maß aller Dinge, sondern auch um das Schüren der Angst, seine Geschichte zu verlieren. Eine erhellende Exegese zu verpassen, eine aufwühlende Verfremdung zu ignorieren, aus der Erzählgemeinschaft gerade bei der Lieblingsgeschichte ausgeschlossen zu werden. Im Grunde ähnelt dies dem Prinzip des Regietheaters, aber das Publikumsverhalten ist bei aktuelleren Erzählungen weniger distanziert. „Star Trek“ – Fans scheinen in einem Zustand chronischer Panik zu leben, was die Zukunft wieder an Revisionen und Verfälschungen bringen mag. Und angesichts von Hunderten an Stunden investierter Lebenszeit samt der inneren Ausrichtung an einer individuell einmal sinnstiftenden Erzählung ist das aufgescheuchte Fangeschnatter nichts weniger als ein Kampf um die psychische Integrität. Ob wir das Phänomen ernst nehmen oder nicht, die Industrie tut es. Ein Buch lesen, einen Film sehen, eine Geschichte genießen – was für ein Anachronismus. Heute werden wir in allen Medien von zwei Handvoll erfundener Gestalten belagert, von denen wir nicht wissen, wofür sie stehen, allgegenwärtig und nimbusbehaftet wie unterworfene Götter aus einer unverständlichen Vorzeit. Und sie werden uns ihre Geheimnisse, falls sie welche haben, erst nach und nach und widersprüchlich enthüllen. Dafür ist gesorgt.
Das Ende des allgemein bekannten Fiktionsvertrags bedeutet nicht das Ende der Fiktionen, und nicht das Ende der guten Geschichten, die doch immer wieder irgendwo in harter Arbeit blühen werden. Aber es bedeutet schon gar nicht den Beginn eines ungetrübten menschlichen Bewusstseins, wie es vielleicht ein paar Positivisten sich erträumen. Ohne, nicht mit der Idee der eigengesetzlichen Fiktion, ertrinkt das geistige Leben in jenem vielbesungenen „Bullshit“ aus Verlautbarungen und Dorfklatsch, Schaukämpfen und Scholastik wie es vor dem Aufkommen des Romans geherrscht haben mag, wenn auch nicht in HDTV.
Natürlich ist Sherlock Holmes nicht verheiratet. Aber ist Watson ältlich, dicklich und vertrottelt? Und war Sherlock Holmes einmal verliebt? Oder war das nur bei Billy Wilder? Und wer freut sich sonst noch auf Robert Downey jr.?
Autor: Florian Schwebel
Text geschrieben Januar 2010
Text: veröffentlicht in GETIDAN.DE
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