„Wir“ sind, natürlich, Papst und Lena und sowieso Fußballweltmeister der Nebennieren, aber wir sind auch, gerade im Sommer, gerade bei Schuldensperre, Mittelalter. Überall. Keine noch so kleine Burgruine, auf der dieser Tage nicht ein „Spektakulum“ oder ein Minnesängerwettbewerb stattfände, kein öffentlicher Park, in dem Pärchen nicht durch Bierbuden mit Kettenhemden verdrängt würden. „Marktsprech“ allerorten, und das ist keine analytische Wortschöpfung von Georg Seeßlen, sondern die offizielle Bezeichnung für das schlimme Kauderwelsch voll „Gehabet Euch“ und „Deucht es Euch“, das bei diesen Anlässen Pflicht ist. Wie groß die Mittelalterszene tatsächlich ist, wie viele Händler, Organisatoren, ehrenamtliche Fanatiker daran beteiligt sind, lässt sich dabei (mit den bescheidenden Mitteln dieses Autors) im Moment nicht herausfinden. Die Märkte und Feste sind eine Bewegung, die sich, wie alle Bewegungen, ungern in die Karten gucken lässt, und von den Medien mit den unbescheideneren Mitteln nur in Ausschnitten erfasst wird. Die Freizeitkultur aus Gerberhütten und Feuerzauber wird uns jedenfalls auch dann noch erhalten bleiben, wenn selbst in ernstzunehmenden Städten kein Euro mehr in freie Kultur gesteckt wird, und jeder freie Euro in public viewing.
Obwohl mittelalterliche Feste seit den 70er Jahren durch Deutschland geistern, und hier und da noch Veteranen ein Wams aus Lammfell verkaufen, ist die Szene ein Tummelplatz für die begehrten Menschen zwischen 20 und 30, mit überraschend viel hingebungsvollem älteren Laufpublikum. Theoretisch also für Zielgruppen von allen Arten von Kultur und Lifestyle, und dennoch läuft diese Parallelwelt derzeit komplett an anderen Nischen und Märkten vorbei.
Warum, zum Beispiel, gibt es eigentlich keine deutschen Mittelalterfilme? Es wird wieder für den Herbst nach dem Fußball produziert, ist heuer vielleicht doch etwas dabei? Reicht es diesmal für einen Kinofilm, ein Eventmovie oder wenigstens einen Weihnachtssechsteiler ?
Nicht, dass ein medial verwurstetes Mittelalter tatsächlich fehlen würde. Mit dem fabelhaften „Der Drachentöter“ ist seit 1981 eigentlich alles gesagt, und was da noch fehlt, steckt in „Jabberwocky“ und „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ (ernsthafte Filmfreunde raunen noch schnell „Nordwestwind“ dazwischen).
Aber das Mittelalter ist Standortvorteil des deutschen Films. Durch ein verständliches Durcheinander aller bekannter Klischees kann ein amerikanischer, britischer oder chinesischer Film nichts Besseres tun, um für eine schaurigschöne Atmosphäre zu sorgen, als eine deutsche Burg im Dämmerlicht zu zeigen oder Kerzenlicht durch Butzenscheiben brechen zu lassen. Die hiesige Filmbranche hat die Burgen und die Butzenscheiben vor der Haustür. Plus kleine Felder, verwachsene Wälder und malerische Städtchen (Parkhäuser sind ratzfatz weggepixelt). Das deutsche Mittelalter war lang, qualvoll und einflussreich, – inklusive Pest, Walter von der Vogelweide und der Reformation (samt Buchdruck). Und ein Blick in den Veranstaltungskalender einer beliebigen Provinzstadt und in die Charts in einer miesen Woche zeigt: ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung ist mittlerweile schlicht mittelalterbesessen. Nichts davon auf der Leinwand oder dem Bildschirm.
Natürlich geht es hier nicht um Geschichte, auch wenn manche Fraktionen der Mittelalterfreunde hin und wieder historische Authentizität für sich in Anspruch nehmen. Das Mittelalter, so weit es sich überhaupt rekonstruieren lässt, bestand, so weit wir wissen, aus entweder invaliden oder chronisch kranken Teenagern, die aus Mangel an Trinkwasser im Dauerrausch der Biersuppe vor sich hinvegetierten. Nicht zuletzt Eric Hobsbawm, der große alte Spielverderber der Geschichtswissenschaft, hat immer wieder darauf hingewiesen, dass kaum etwas synthetischer ist als Traditionen. Von den meisten Volksmärchen, Bräuchen und uralten Überlieferungen der europäischen Länder können wir nur eines mit Bestimmtheit sagen: Dass sie von den Romantikern im 19. Jahrhundert festgehalten und bearbeitet wurden. Und wenn in heutige Mittelaltermärkte Zeit, Liebe und Fachwissen fließen (und das tun sie), geht es meist um Kleidungsstücke – oder um Waffen.
Was für eine Torvorlage für die Filmindustrie!
In Mittelalterfilmen würde die Paraderolle deutscher Hauptdarsteller, einfacher, guter, Kerl mit Dreck am Stecken, einmal nicht die Geschichte ruinieren, und auch das Standartspiel deutscher Hauptdarstellerinnen – stählerne Beschränktheit – würde bei Hofdamen einmal nicht als Gefühlsarmut quer zu jeder möglichen Intention schießen, sondern wäre der natürliche Ausdruck von zu viel Familie im Stammbaum (sie können alle mehr, natürlich, und es gibt ganz tolle Leute, immer).
Früher hätten ideologische Bedenken die Zelebrierung des fackelschwingenden deutschen Volks in Aberglauben und Bierseligkeit verhindert, aber in der Filmbranche nach dem Untergang können wir solcherlei wohl ausschließen. Also, woran fehlt es?
Natürlich, „Siegfried“, „½ Ritter“ und „Schinderhannes – 12 Meter ohne Kopf“ haben die Erwartungen nicht erfüllt, aber die hiesige masochistische Obsession, sich an „Die Ritter der Kokosnuss“ zu vergreifen, ist ein Sonderthema und hat nichts mit Filmpolitik zu tun. „Krabat“ hat aus Ottfried Preußlers düsterer Allegorie soviel Historismus herausgequetscht, wie bei einem Kinderfilm möglich war, und gilt als Erfolg. „Der Name der Rose“ wurde einst mit hiesigem Geld in hiesigen Klöstern gedreht. Andernorts wird in allen Tonlagen gemittelaltert, von der Bartholomäusnacht bis zum Ritter aus Leidenschaft, Robin Hood oder Jeanne d`Arc. Doch der einzige bleibende deutsche Beitrag zum Kanon bleibt, neben dick ausgewiesenen Märchen, die flockige Musicalverfilmung von „Der Räuber Hotzenplotz“ aus dem Jahr 1974, und die spielt nominell nicht mal im Mittelalter. Und sie weist auf eine Antwort auf die Frage nach dem bundesrepublikanischen Mittelalterfilm hin: die fehlende Tradition.
„Der Räuber Hotzenplotz“, ein beschwingtes Ding mit Gert Fröbe und Josef Meinrad wird in den meisten Nachschlagewerken nicht als Musical geführt, denn es gibt keine deutschsprachigen Filmmusicals (das ist der offizielle Stand und stimmt beinahe. Hätten u. a. „Linie 1“ und „Märzmelodie“ größer eingeschlagen, wäre „Müllers Büro“ nicht so sehr 80er, wäre der offizielle Stand ein anderer). So wie es auch keine deutschen Horrorfilme und Ritterfilme gibt, die Hochburgen der filmischen Beschäftigung mit dem Mittelalter, und für viele in dieser Zeit angesiedelten Filme nach wie vor filmsprachlich die selbstverständliche Ausgangsbasis. Und so gut wie niemand will derzeit neue Traditionen begründen (außer, es gibt ein paar abscheuliche Flaggen zu zeigen). Und bei aller blinden Geschichtsbesoffenheit des derzeitigen deutschen Films fehlt dem deutschen Mittelalter eine kleine, wichtige Wohlfühlzutat, die noch bei Geschichten über Goethes Frauen oder Brentanos Gurus im Topf schwimmt: Deutschland.
Nun stört das die Mittelaltermärkte am Wenigsten, die landauf, landab mit verballhornter Fraktur und ihrem gequälten Marktsprech deutschtümeln, und meistens sogar ohne verfassungsbedenklichen Beigeschmack.
Doch die Medienbranche und das Markttreiben beißen einander, und das mit langer Tradition. Kurz gesagt: die deutsche Medienbranche gibt sich staats- und weltmännisch, die Mittelalterszene staats – und weltfern.
Mittelaltermärkte – putzige Zelt- und Budenstädte mit mindestens einem offenen Feuer und mindestens zwei Getränkeständen, an denen „Met“ gegen „Silberlinge“ getauscht wird, werden in Deutschland seit den 90er Jahren stetig populärer. Die Vorläufer aus dem englischsprachigen Raum sind älter und lassen sich, wenn man die Ritterspiele dazurechnet, bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Laut den einschlägigen Webadressen wurden die “Renaissance – Fairs“ in den USA nach Doris Day und vor der Gegenkultur zum Phänomen, also in der Zeit von Disneyland und Einbauküchen. Die Moderne war da mit all ihren erfüllten Versprechungen, nun galt es, davor davonzulaufen. In Deutschland lässt sich das Phänomen dagegen direkt aus dem ehemals studentenbewegten Milieu der 70er ableiten, das damals radikal in aggressive und verträumte Flügel zerbrach. Vorläufer waren die Indianer – Clubs und Karl May – Gesellschaften, die, mit Unterbrechungen, seit den 10er Jahren am Wochenende Prokuristen in nachgebaute Wigwams und Träume vom einfachen Leben flüchten ließen. Kleine halblegale Mittelalterfeste waren das Gegenmodell und boten den aufkommenden Esoterik- und Biohändlern Verkaufsmöglichkeiten, bevor die sich Ladenmieten leisten konnten. Es waren Musikfestivals ohne elektrische Gitarren, Stadtteilfeste ohne politisches Straßentheater, Happenings mit handverlesenem Shopping. Der historische Aspekt wurde mit neuromantischem Augenzwinkern behandelt, es ging um schöne Gewänder und die vage Sehnsucht nach versunkenen Schätzen, und niemand jagte einen Pierrot vom Platz. Wenn mit Keltentum und altem Wissen kokettiert wurde, wurden ein paar Poster von irischen Trollen oder französischen Druiden aufgehängt, nie etwas Nordisches, – Odin, Thor und Rangarök waren so tabu, wie sich damals niemand an Runen versuchte. Bands wie „Ougenweide“ oder „Tänzers Traum“ bemühten sich, eine unschuldige deutsche Liedertradition mit Anschluss an den internationalen Folk zu erfinden. Es gab Raubdrucke von Momo und den Mumins zu kaufen, viel Gebatiktes, Anthroposophie und die Perlenketten mit dem eingeklebten Bild von Rajneesh/Bhagwan/Osho, – und nirgendwo Waffen. Heiter geklampfte Lieder über wunderschöne Feen gingen nahtlos in melancholisches Gemurmel über den deutschen Herbst über, und es war für ein Kind jener Zeit etwas verwirrend, warum so viele Mitsingstücke von Schweinen handelten, die andere Schweine mit Maschinenpistolen umbrachten. Interessanterweise funktionierte die tröstende Beschäftigung mit verzauberten Zeiten in der DDR bei einer reichlich entgegengesetzten Ausgangslage ähnlich. Wie so viele interessantere Phänomene der Zeitgeschichte ist auch dieses frühe Markttreiben kaum dokumentiert. Längst unleserliche Handzettel, verbogene Broschen und widersprüchliche Erinnerungen scheinen alles zu sein, was davon geblieben ist. Die jetzige Mittelalterkultur ist kaum transparenter: Zwar verfügt sie über eine eigene Zeitschrift, „Karfunkel“, in der die Heldentaten der Szene erzählt werden und noch das gemeinsame mittelalterliche Trommeln von drei verkleideten Gestalten am Blocksberg gewürdigt wird, aber wie groß die Nische ist, wie ihre Strukturen funktionieren und nicht zuletzt wie viel Geld von wem damit gemacht wird, verbleibt dennoch im Finsteren.
Konstatieren lässt sich, dass die heutigen Märkte auf die 80er Jahre zurückgehen, auf die Begeisterung für Fantasy – Rollenspiele, bei denen mit Stift und Papier virtuelle Verliese erkundet wurden. Während sich das Ursprungsspiel „Dungeons and Dragons“ direkt aus der hippienahen amerikanischen Tolkien – Verehrung speiste, setzte das deutsche Pendant „Das schwarze Auge“ ab 1984 stärker auf das Flair von schummrigen Tavernen und die Erinnerung an Schulbesuche im historischen Museum (und war zum Ausgleich zunächst weniger besessen von Punkten und Regeln). Es lässt sich heute nicht mehr beschreiben, wie wenig dumpf und dräuend dieses Spiel in einer Zeit war, in der der erfolgreichste Filmstar Michael J. Fox hieß, der erfolgreichste Popstar Sting, und überall Marsupilamis herumhingen.
Die Welt wurde rauer, wie wir wissen, statt um Gorbatschow, Ökologie und um den dritten Weg ging es in Diskussionen nun um die Angst vor Rassismus, allgemeinem Elend und schmutzigen kleinen Kriegen. Und die entspannteren Gespräche drehten sich irgend wann um Serienmörder, Sadomasochismus und Karrieren in der Schweinewelt. Die Rollenspielszene mauserte sich parallel zu einer voll ausgebauten und weitgehend abgeschotteten Subkultur, die sich nicht mehr im Hobbykeller verkroch, sondern selbstbewusst und ironiefrei in voller Montur auf die Wiesen drängte. und schließlich kamen die Kettenhemden.
Es gibt immer noch Unterschiede: in ärmeren Städten dominieren die schweren Streitäxte und die schwarzen Gewänder, und abends am Lagerfeuer klingt jedes zweite Lied nach Stefan Weidner. In klassisch studentischen Städten stehen Wasserpfeifen mit gälischen Inschriften zum Verkauf. Auf den gehobenen Märkten im Norden wird weißes Leinen getragen, und der Schwerpunkt liegt auf Gewürzen und Rauchwerk. Im Süden wird mehr jongliert, getanzt und Feuer gespuckt. Und in Köln sind die schicken Filzhütchen unbezahlbar, und es gibt vor allem Lieder und Sketche mit Publikumsbeteiligung. Nicht überall gibt es Schaukämpfe, und nur selten von Nelken, Äpfeln und Ölen überquellende Badezuber für Mutige.
Doch der gemeinsame Nenner ist unverkennbar: Überwürztes Fleisch und ehrliches Handwerk, Holzbänke und beinahe frei laufende Tiere, verzierte Taschenspiegel, Schwertergeklirr und das endlose Schnarren nachgebauter Instrumente. „Marktsprech“, dieser grausige Witz, entpuppt sich als hilfloser Versuch, eine umständliche Höflichkeit zu institutionalisieren, die dem indiskutablen Umgangston des Alltags so wenig Chancen lässt wie einem kritischen Gedanken.
Es sind vor allem zwei Gruppen, die die Plätze bevölkern: junge Männer, in Gewändern und Vereinen, und Frauen und Männer über 40, die langsam von der Ökologie zum qualitativ hochwertigen Produkt für Leistungsträger geschwommen sind und mit einem verrußten, handbemalten Bierkrug in der Hand ein dumpfes Unwohlsein gegenüber „Mc Donald`s“, Versandhäusern und Finanzkrisen betäuben. Sie alle wollen nicht ins Kino, sondern ein paar Stunden Entschleunigung, Schutz, Gerüche, Lichter und Erde.
Die eigentliche Attraktion der Spektakel ist das breit ausgestellte Schmieden, Drechseln, Weben und Schnitzen, an dem sich das Publikum manchmal großzügigerweise beteiligen darf, mit samt dem ausgiebigen und meist unnötigen Feilschen. Handeln ohne die Verbiegungen oder Zumutungen des richtigen falschen Lebens. Dazu kommt das immer etwas zu laut gefeierte Beisammensein von Fremden. Wie viel Volksgemeinschaft steckt in diesem Mummenschanz? Vielleicht weniger, als unsereiner argwöhnt. Medien, Welt und Reflektion gelten hier zwar als Überbau des Bösen, aber es geht sehr deutlich um den Traum von dem nicht – entfremdeten Dasein, beinahe im Grünen, um eine herbeifabulierte Subsidaritätswirtschaft aus Holz und Metall, Seide und Seife, mit dem kaufbaren Ding als filigranem Unikat, und dem Flair von ehrlichem Geschäft und verträumter Härte. Mittelaltermärkte tippen Sehnsüchte an und zäunen sie ein, bevor sie atmen können. Zusammen geführt werden wir von einer gemeinsamen Geschichte, an die sich niemand erinnern will, und von der wir nur wissen, dass sie irgend etwas mit schönen alten Burgen zu tun hat. Wir kauern uns auf unseren angeblich angestammten Fleck und halten uns am Humpen fest und uns die Angst vom Leib.
Die Öffnung, in die echte und in die große weite Welt und in die Phantasie, oder ein spielerisches Element ohne überfrachtete Kostüme, alles, was unsere Mittelaltermärkte zu einem weniger klaustrophobischen Vergnügen machen würde, werden diese ganz sicher nicht zulassen. Ein Hauch von Gegenwelt bleibt trotzdem. Kein Fazit.
Und an dieser Stelle wirklich gar nichts über Feen, Drachen und Magie, oder die furchtbare und wundervolle wirkliche Welt. Ein andermal, nicht in Marktsprech.
Autor: Florian Schwebel
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