Es geht nicht mehr um Fakten oder um Unfakten. Es geht um Information. Die hat weder mit richtigen oder falschen Fakten zu tun noch mit Realitäten. Information wird von ihren Besitzern, ihren Verbreitern, ihren Artikulierern geformt und dann als Infusion in die Öffentlichkeit geträufelt. Wer die Kontroll-Hoheit über die Information und ihre Sprache hat, hat auch die Fälschungs-Hoheit über Information und Sprache. Der Realitätsgehalt der Information ist nachrangig und wird ohnehin anderswo entschieden. Nicht in den Informations-Fakten-Unfakten-Konzernen sondern in den staatlichen Wahrheits-Ministerien der Regierungsmetropolen oder in den staatlich finanzierten Wahrheits-Instituten, die es auch außerhalb der Metropolen in mehr als ausreichender Zahl gibt.

    Wer an der Macht ist, ist auch Inhaber der Wahrheit. Alle Wahrheiten werden auf dem Areal der Macht konstruiert. Das ist der Kern der Sache und erklärt die inzwischen grassierende Entwertung dessen, was man einst unter Wissenschaft verstanden hat. Nicht zu vergessen: Neben der Kontroll-Hoheit über den Begriff und die Definition von Wahrheit und neben dem exklusiven Privileg ihrer Aufbereitung zu Information geht es selbstverständlich auch weiterhin darum, wem die Kanäle gehören, über die all die Informationswahrheiten verbreitet werden. Da haben gerade Turbulenzen eingesetzt.

    Information bedeutet mittlerweile Informations-Inflation, und das heißt: Abschaffung von Wahrnehmung (perception) und Zerstörung von Erfahrung (experience). Da die Herstellung, Bearbeitung und Verbreitung der Informationsflut von den heute bevorzugten Techniken übertragen wird, also fast ausschließlich nur noch durch Digital-Technik, kann man von einer zunehmenden Rückbildung aller kognitiven Fähigkeiten sprechen, die bisher Voraussetzung für die eigene Wahrnehmung der Welt waren. Ähnliches gilt für die Zerstörung der Erfahrung, was einem ebenfalls zunehmenden Abbau der Fähigkeiten zur Ausbildung von Lebenserfahrung gleichkommt. Wer sein inviduelles Wahrnehmungssensorium und seine Erfahrungspotentiale an Instrumente delegiert, insbesondere digitale, überantwortet sich einem Programm, das auf Annullierung von all dem abgestellt ist, was Gedächtnis und Erinnerung aber auch Befähigung zur Alltagsbewältigung und lebenserfahrungsgesteuertem Pragmatismus war.

    Die Überwältigung, Gefangennahme und Beherrschung der Menschheit durch die von ihr selbst geschaffene Technik und deren Instrumente, wie sie vor weit mehr als einem halben Jahrhundert von Günther Anders (Die Antiquiertheit des Menschen) prognostiziert wurde, kann inzwischen als nicht mehr vermeidbar und nicht mehr umkehrbar angesehen werden. Von den Wissenschaften wird kein Befreiungsimpuls kommen. Sie sind sowohl durch finanzielle Abhängigkeit als auch durch mentale Unterwürfigkeit zu sehr in diese Umkehrung aller Verfügungs- und Entscheidungsmacht eingeschnürt, um noch irgend etwas an der Entwicklung korrigieren zu können. Auch von der Kunst und den Künsten ist kein Widerstand zu erwarten. Sie sind geistig und emotional nicht mehr in der Lage, sich dem totalitären Druck der – bis hin zur Abschaffung des Individuums – durchtechnifizierten Welt zu entziehen.

    (Die beiden letzten Versionen der Kasseler documenta sind gute Anschauungsbeispiele dafür, wie hilflos die Kunst der technisch-digitalen Beherrschung des Lebens gegenübersteht. Auf der d14 (im Jahr 2017) waren es noch eher traditionelle wie auch die stets dazugehörigen experimentellen Versuche, der drohenden Entwertung zu entkommen. Im Zentrum stand, wie immer, die Bindung an das auf Freiheit und Autonomie sich berufende Künstler-Individuum, während auf der d15 (im Jahr 2022) dieser auf individuelle Unverwechselbarkeit setzende Kunstbegriff als willkürlich und im Grunde asozial diffamiert und durch einen kollektiven Kulturalismus ersetzt wurde. Beide Konzepte, das alte, seit Jahrhunderten bewährte, wie auch das neue, den Kunstbegriff des Abendlandes beendende, waren völlig ungeeignet, die neuen totalitären Realitäten künstlerisch überzeugend (oder zumindest angemessen) zu bearbeiten. Das alte Individual-Konzept ist daran schlicht und einfach gescheitert, sowohl geistig wie ästhetisch. Das neue Kulturalismus-Konzept – und das scheint auf höchst ungute Art zukunftsweisend zu sein – war so angelegt, die eigene primitiv-kollektivistische Weltsicht mit einer von Religion kaum noch zu unterscheidenden Weltrettungsideologie auszustatten, für die man eine generell für den ganzen Planeten gültige Anerkennung und Verbindlichkeit einforderte. Man hat – mit der Aura und Autorität einer hoch angesehenen und über Jahrzehnte ebenso gesellschaftskritisch wie technologiekritisch aufgestellten Kunstschau im Rücken – sowohl den politisch-gesellschaftlich als auch den technisch-digital weltweit voranschreitenden Totalitarismus bloß verinnerlicht und blind reproduziert.)

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    Ich hier – winzig klein – so gut wie unsichtbar als Informations- und Wahrheitsquelle – bin frei von Finanzierungszwängen, frei von Subventionszwängen, frei von Voreingenommenheit, frei von Altlasten und ebenso frei von jener Art von Kontaminierung, die durch Resonanz- und Erfolgsdruck entsteht, dafür im Besitz von zwei Privilegien, die wie Lebenselixiere auf mich wirken: Selbständigkeit und Unabhängigkeit.

    Daher mein Ekel gegen diese große Jetzt-Zeit – auch das ein Privileg. Die freien Leute, die Selbständigkeit und Unabhängigkeit für sich beanspruchen, werden von den Brotgebern, Betriebsleitern, Befehlsgebern und Willfährigen, die den Mainstream in Politik, Medien und Kultur bestimmen und beherrschen, immer stärker ausgegrenzt und immer aggressiver bekämpft. Für die Gesellschaft ein Problem, für mich nicht. Das ausgegrenzte Leben ist gut für mich. Ich kann es mir leisten, mich nicht für meine Feinde zu interessieren und keine Angst vor dem neuen Zeitgeist zu haben.

Mal sehen, welcher Nutzen daraus noch zu ziehen ist.

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© Felix Hofmann — 1. 1. 2023