In das Westberlin der späten 1970er Jahre zog es diejenigen, die es in der Provinz nicht mehr aushielten, der Wehrpflicht entkommen wollten oder experimentelle Freiräume zur Verwirklichung ihrer Träume suchten. Für sie hatte sich der Dogmatismus der Achtundsechziger erledigt. Statt einer großen politischen Utopie galt „No future“!
Um diese Zeit zu reanimieren haben sich der emeritierte Soziologie Professor Heinz Bude, seine Frau die Politologin Karin Wieland mit der Künstlerin Bettina Munk zusammengetan. Gemeinsam erinnern sie sich an die Kreuzberger Hausbesetzer-Szene, zu der sie, in welcher Dauer und Weise auch immer, gehört haben. Kollektiv und partizipativ – um diese Modewörter der gelungenen Vermarktungsstrategie des Buches aufzugreifen – haben sie geschrieben, und das macht neugierig. Hierfür konstruieren sie 35 Personen, in denen sie die eigen Erfahrungen mit denen ihrer Mitstreiter verweben. Diese sogenannten Mischfiguren sollen nicht nur beispielhaft für die über 5000 Bewohner, die sich in den Hochzeiten der Berliner Besetzerbewegung auf 165 Häuser verteilten, stehen, sondern gleich für eine ganze Generation, bzw. Welt. Die Welt der 1980er Jahre, in der, so das vollmundige Vorwort, „etwas“ in einen anderen Zustand gekommen sei, in der sich „etwas“ basales gedreht habe. Dieses „etwas“ ist dann nicht weniger als „die Geschlechter, die Herkünfte, die Wahrnehmungen, die Gefühle, das Denken und die Kunst.“ Wow! Und der Klappentext verspricht Punk und Straßenschlachten, Aids und Drogen, raue Kunst und wilde Theorien.
Soviel Bedeutungsschwangeres- und Schweres schraubt die Erwartungen hoch. Die 35 Mischfiguren, allen voran Luise und Thomas – man ahnt schnell, daß es sich bei diesen beiden um verzerrte Selbstbeschreibungen von Bude und Munk handeln muß – sollen also diese Behauptungen mit Leben, mit Sprache füllen, sollen zeigen wie „wir“ lebten und liebten, was „wir“ dachten und machten. Und was so los war in Berlin, in Kreuzberg, damals.
Entscheidende Ereignisse werden chronologisch hintereinander aufgezählt. Die „Tunix“ und „Tuwat“ Kongresse, der Haig und der Reagan Besuch, der Tod von Klaus-Jürgen Rattay und auch der Reaktorunfall von Tschernobyl darf nicht fehlen. Eine Mischfigur stirbt an Aids, eine andere regt sich über die „Paviane“ am Moritzplatz auf – das sind dann die „Neuen Wilden“ – und wieder ein anderer verdient seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Raubdrucken, „ jeder macht halt so sein Ding“. Der Leser erfährt, es gab viele Demonstrationen, Gefechte mit Bullen, die man mit Parolen wie „Polizei SA-SS“ beschimpfte, einen eher harmlosen Naziüberfall, einen mißglückten Besuch bei einem jüdischen Hausbesitzer, Gewaltdebatten in Besetzerräten und zwischen Taubendreck auch viel Alkohol und ein bißchen Sex. Im letzten Drittel, da geht es um die Jahre vor dem Mauerfall, haben die ehemaligen Besetzer längst Mietverträge, verkehren in den einschlägigen Szene-Lokalitäten und ergehen sich in verschwurbelten Belanglosigkeiten und Beziehungen. Das alles wird weiterhin stichwortartig abgehandelt. Egal ob es das Exil, das Bovril, die Paris Bar, die O-bar, oder der Dschungel sind, der „Laden für Nichts“ oder die Galerie Endart, die Orte bleiben wie die Menschen ohne Faszination, ohne Thrill, ohne Leben. Und Berlin bleibt immer „bittergrau“.
Die vielbeschworene Authentizität, etwas, was den Lesenden wirklich berühren könnte, scheint noch am ehesten in den Kapiteln durch, die dem Buch den Titel gaben. Bei einem Verkehrsunfall auf einer Rückreise von Prag nach Berlin, verunglückt eine der weiblichen Hauptpersonen tödlich, eine andere, Luise, überlebt schwer verletzt. Ihre Nahtoderfahrungen, ihr Aufenthalt in einem tschechischen Krankenhaus, ihr langsames wieder ins Leben zurückkehren, sind noch am ehesten das, was viele Rezensenten behaupten, sofern sie das Buch wirklich von Anfang bis Ende gelesen haben: hautnah. Hautnah, das war zweifelsohne dieser Unfall, der in der Hausbesetzer-Szene mit dem Unversehrtheitsmythos aufräumte. Man lebte ja damals mit dem radikalen Gefühl des „uns kann keiner was!“.
Neben der staccatoartig erzählten Aneinanderreihungen der Ereignisse und dem tendentiell uninteressanten Personal, ist vor allem der Schreibstil nervig. Vieles soll wohl ironisch sein, nur leider geht das arg in die Lederhose. Da ist von Sorayas weicher Sinnlichkeit die Rede, von Vronis roten Lippen, die ihr Kapital sind, von Michael, der nur ein Sehnen kannte, und das war das Sehen nach Liebe. Clarissa wiederum ist groß, dick und adlig, Marianne hat androgyne Hüften, Irene einen spitzen Busen und Jenny – ernsthaft – die toten Augen des Zonenrandgebiets. Simone de Beauvoir kommt da noch gut weg, ihr wird nur ein verbiesterter Gouvernantenblick attestiert. Allesamt blutleere Geschöpfe, Avatare, mit hingeknallten Adjektiven, deren Gefühle und Gedanken Leerstellen bleiben oder bloße Behauptung. Wie es war bei Jacob Taubes oder Klaus Heinrich im Seminar zu sitzen, wer da eigentlich warum um Erkenntnis oder Aufmerksamkeit rang, außer Thomas alias Bude selbst, oder wie es sich anfühlte, in einem Haus zu leben, ohne Heizung, Strom und Telefon, wie man eigentlich zu warmen Wasser kam oder was man kochte und worüber man lachte – Fehlanzeige. Vieles wird einfach nur erwähnt, als hätte man dann auch diesen Punkt brav abgehakt. Gelesen jedenfalls wurde viel und vor allem das, was schwer und bedeutungsvoll klingt. Irgendein Hinweis, ein unterschwelliger Grundton, eine Art des Blicks auf einen Gegenstand oder eine Begegnung, irgendetwas, was darauf verweisen könnte, dass es sich bei den hier Schreibenden um Menschen handelt, die weite und komplexe Diskursfelder durchschritten haben, bleibt jedoch aus. Stattdessen Namen über Namen, die eingeflochten werden. Hegel, Husserl und Kant bis hin zum französischen Poststrukturalismus, von Lyotard und Lacan bis zu Foucault haben sie alles gelesen, was in dieser Zeit wichtig war. Akademische Pointen klingen dann aber so: „Hegel war derjenige, der wie Johannes der Täufer, dem Marx voranging“. Hm.
Grenzenlos eitel, ironiefrei, freud- und humorlos das Ganze. Kein Wunder, dass eine nur ganz randständig auftauchende, echte Person, wie der Künstler Martin Kippenberger, sein Fett abkriegen muß. Das war dann doch zu viel ungewohnte Provokation für diejenigen, die eigentlich den „Kult des Verrücktseins“ leben wollten. Kippenberger, der sich damals mitten in Kreuzberg als Türkin mit Kopftuch und anatolischem Rock nebst Kunstblumen ablichten ließ, forderte statt „Abrissbirnen für den Knast“, oder „Schieß doch Bulle“, schlicht „Berlin muß neu gestrichen werden“. Und das passt dann ganz gut als Antwort auf das immer „bittergraue“ Berlin.
Daniela Kloock
Bild oben: West-Berlin (Karte von 1978) | Autor: Central Intelligence Agency (CIA) | Aus der Perry-Castaneda-Kartensammlung | © Gemeinfrei
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Heinz Bude, Bettina Munk, Karin Wieland:
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