Das genaue Gegenteil zu „My Salinger Year“ ist „The Assistant“. Der Spielfilm ist das Debut der – bisher im Dokumentarbereich tätigen –australischen Regisseurin Kitty Green. Ihr Drehbuch beruht auf Interviews und Gesprächen, die sie mit Mitarbeiterinnen großer Unternehmen, vorzugsweise im Film- und Showbusiness, geführt hat. In der Folge des Weinstein-Skandals und der #MeToo-Debatte beschäftigte sie die Frage, wie „ein gesellschaftliches System“ sexuelle Übergriffe toleriert und wie die Macht-Mechanismen genau aussehen, die zu einer Mauer der Angst und des Schweigens führen. Dem Film gelingt eine sozialpsychologische Mikro-Analyse, indem er die subtilen und kleinsten Gesten, Manöver und Techniken aufzeigt, die sich täglich (beispielsweise in Büros und deren Vorzimmern) abspielen.
Die Kamera folgt sehr direkt einem ganz „normalen“ Arbeitstag von Jane (Julia Garner, bekannt vor allem aus der Netflix-Serie „Ozark“). Sie ist die neue Assistentin eines mächtigen Medienmoguls. Es ist noch dunkel, wenn sie morgens als Erste im Großraum-Büro die Lampen, Computer und Kaffeemaschinen einschaltet. Danach erledigt sie ihre Aufgaben routiniert. Termine bestätigen, Telefonate annehmen, Hotels buchen, Mittagessen bestellen. Die ständigen kleinen Feindseligkeiten werden fast beiläufig eingefügt. Ob sie von ihren männlichen Kollegen pseudo-witzig gefoppt wird, oder ob ihr die schmutzigen Teller und Tassen von KollegInnen zum Spülen hingeschoben werden, überall ist subtile Repression spürbar. Und auf allen lastet ein unglaublicher Druck. Dies wird deutlich, ohne dass es dafür Dialoge oder ausgespielte Szenen gäbe. Und der übermächtige Chef ist allgegenwärtig, kommt jedoch nie ins Bild. Wir hören ihn nur. Jane wird am Telefon mehrfach von ihm zurecht gewiesen. Ab und zu tauchen attraktive Frauen auf, die sich bei ihm vorstellen. Dass vor allem Nachts in seinem Büro mehr passiert, darauf deutet hin was Jane morgens vorfindet. Flecken auf dem Sofa, benutzte Spritzen im Papierkorb, ein goldenes Armband unter dem Teppich. Und dann taucht auch noch ein junges Mädchen auf, das in ein luxuriöses Hotel gebracht werden soll. Spätestens jetzt wird Jane klar, dass sie Teil eines missbräuchlichen Systems ist, das von allen beschwiegen wird. Ihr Versuch den Personalchef auf ihre Beobachtungen aufmerksam zu machen scheitert kläglich.
„The Assistant“, der in nur 18 Tagen in einem Büro in Midtown-Manhatten gedreht wurde, ist für manchen wahrscheinlich etwas zu undramatisch inszeniert, auch wird der Charakter der Jane nicht groß entwickelt. Doch Kitty Green muss zu Gute gehalten werden, dass sie konsequent bei ihrem Thema bleibt und einen ungewöhnlichen, kunstvollen Stil in der Umsetzung findet. In seiner Präzision erinnert „The Assistant“ zuweilen an einen der großen Filme der 1970er Jahre. An Chantal Akermans „Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce“. Kitty Green zeigt sehr genau (ausschließlich aus der Perspektive der Hauptfigur) das monotone und gleichzeitig super-stressige Büroleben, hinter dem die sexuellen Übergriffe eines „unsichtbaren“ Chefs lauern. Auch schafft sie es, eine Arbeitswelt spürbar zu machen, in der jeder jederzeit ersetzbar wäre. Der Film macht gekonnt ein System der Angst und des Leistungsdrucks deutlich, und er zeigt auch die große innere Einsamkeit und die fehlende Solidarisierung aller Beteiligten.
Daniela Kloock
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